»Plötzlich waren wir wieder deutsch«

Vor 50 Jahren: Volksabstimmung im Saarland entschied die Eingliederung in die Bundesrepublik

  • Karsten Redmann
  • Lesedauer: 6 Min.
Das Saargebiet wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zum Zankapfel zwischen Frankreich und Deutschland. Mit eigener Verfassung, einer 36-köpfigen Olympiamannschaft, einer blau-weiß-roten Flagge und einer Hymne besaß das Saarland - als französisches Protektorat - fast ein Jahrzehnt lang einen teilautonomen Status. Erst nach einem turbulenten Abstimmungswahlkampf und dem Nein zum Saarstatut wurde es am 1. Januar 1957 Teil der Bundesrepublik Deutschland.
Goethe sah es. Brecht lobte es. Der eine schrieb einen Reisebericht, der andere ein Lied - über das Saarland, Grenzland im Südwesten Deutschlands und mit seiner bewegten Geschichte ein ganz besonderer Ort mitten in Europa.
Nach dem Sieg über Hitler beabsichtigte die französische Regierung zunächst, das gesamte linksrheinische Territorium von Deutschland abzuspalten. Das Vorhaben scheiterte allerdings am Widerstand der Alliierten. Frankreich setzte jedoch sogleich nach und schloss am 22. Dezember 1946 die Grenzen des Saarlandes zum übrigen Deutschland. Die Verbündeten akzeptierten dieses Vorgehen zähneknirschend. Doch kurz darauf wurden sie mit einer weiteren politischen Offensive: der Wirtschafts- und Währungsunion mit Frankreich.

Zufriedene Saarois
Als französisches Protektorat erhielt das Saarland schließlich 1947 eine eigene Verfassung, die den saarländischen Bürgern gleichzeitig die saarländische Staatsbürgerschaft und den offiziellen Namen »Sarrois« bescherte. Neben der offiziellen Währung, dem Französichen Franc, waren auch die sogenannten Saar-Franken im Umlauf. In dem kleinen Land an der Saar ging es den Menschen bedeutend besser als denen im zerstörten Deutschland hinter der Grenze. Denn Frankreichs Wirtschaft prosperierte. Das »deutsche Wirtschaftswunder« hingegen ließ noch auf sich warten. Die Saarländer konnten also insgesamt zufrieden sein, profitierten sie doch von dem Status quo, der ihnen auch den Spottnamen »Speckfranzosen« einbrachte. Die wirtschaftliche Anbindung an Frankreich zahlte sich für sie durchweg aus.
Auch sportpolitisch tat sich einiges in dem kleinen Land: Im Mai 1950 bekam das Saarland durch seine Mitgliedschaft im Internationalen Olympischen Komitee endlich seine ersehnte sportpolitische Autonomie. Als olympische Nation konnte das Saarland so 1952 an den Spielen in Helsinki teilnehmen. Mit Hoheitszeichen wie Flagge (blau, rot und mit einem weißen Kreuz), Hymne und Wappen setzten die Saarländer in Finnland ein klares Zeichen ihrer neu gewonnenen Identität.
Anfang der 50er Jahre sollte sich die Saarfrage jedoch als harte Nuss in den deutsch-französischen Beziehungen und dem stockenden europäischen Einigungsprozess erweisen. Die fanzösische Regierung wollte nicht auf das saarländische Industrierevier verzichten, dachte schon eher daran, das Saargebiet zu annektieren. Die deutsche Regierung wiederum scheute eine abschließende Entscheidung. Denn auf das Saarland zu verzichten, hieße einen Teil Deutschlands zu verlieren. Wollte man das?
Der französische Außenminister Robert Schuman wies mit der Idee des Saarstatuts einen Ausweg aus der Krise: Das Saarland sollte laut Statut zu einem außerstaatlichen Territorium und Standort verschiedener europäischer Institutionen werden und bis zum Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland in außen- und sicherheitspolitischen Fragen einem Kommissar der Westeuropäischen Union (WEU) unterstellt werden. Für die inneren Angelegenheiten sei weiterhin die saarländische Regierung verantwortlich. Ökonomisch wollte man das Saarland zwar weiterhin an Frankreich gebunden sehen, ihm aber in politischer Hinsicht größtmögliche Souveränität einräumen. Zudem war eine engere Kopplung mit der deutschen Wirtschaft angedacht.

Zerreißprobe
Die Idee des Saarstatuts war 1952 geboren worden, bis zur Umsetzung vergingen Jahre. Der französische Ministerpräsident Pierre Mendès-France und der deutsche Kanzler Konrad Adenauer unterschrieben das Saarstatut erst nach zähen Verhandlungen am 23. Oktober 1954 als Teil der Pariser Verträge.
Innenpolitisch machte sich die Bundesregierung damit keine Freunde: Nicht nur die SPD wetterte als Oppositionspartei gegen das Saarstatut, auch die mitregierende FDP war nicht besonders angetan von der Idee eines relativ unabhängigen und für Deutschland »verlorenen« Saarlandes. Im Parteivorstand der CDU herrschte Uneinigkeit. Der deutsche Kanzler hatte einen ernsten Gegner in den eigenen Reihen: Jakob Kaiser, Minister für gesamtdeutsche Fragen, der mit Geldern seines Haushalts die Opposition im Saarland (darunter die CDU-Saar) unterstützte.
Frankreich und Deutschland hatten sich bei der Unterzeichnung des Saarstatuts auf ein Prozedere verständigt, das für den 23. Oktober 1955 - genau ein Jahr nach der Vertragsunterschrift - eine Volksabstimmung über das Statut vorsah. Frankreich schien keinen Zweifel daran zu haben, dass sich die Saarländer für das Statut aussprechen werden. Die deutsche Seite war da schon skeptischer, wie man an den politischen Debatten ablesen konnte.
Zu Beginn des Jahres 1955 sah es auch so aus, als würden die Franzosen Recht behalten: Im Frühjahr gaben noch 21 Prozent an, für das Statut stimmen zu wollen, 20 Prozent teilten mit, dagegen stimmen zu wollen und 59 Prozent hatten sich bis dato noch nicht entschieden. Die Stimmung im Saargebiet sollte sich jedoch innerhalb kurzer Zeit, aufgrund wirtschaftlicher und politischer Umbrüche, fundamental wandeln: Die Kriege in den Kolonien kosteten Frankreich viel Geld und ließen die Wirtschaft erlahmen. Zeitgleich änderte sich das ökonomische Klima in Westdeutschland: Das deutsche Wirtschaftswunder begann.
Im Saarland bewegte sich innenpolitisch einiges: Mit der Aufhebung des Verbots deutsch-orientierter Parteien entstand eine öffentlich wirksame Opposition, die zuvor nur im Untergrund arbeiten konnte. Zudem wurde die Zensur aufgehoben. Verbotene Zeitungen durften also wieder publizieren. Das Meinungsbild wurde deutlich bunter. Demzufolge gaben im Spätsommer laut einer Umfrage nur noch 14 Prozent an, für das Statut votieren zu wollen. Über die Hälfte der Stimmen (52 Prozent) wollten dagegen stimmen. Die heiße Phase, der eigentliche Abstimmungswahlkampf, stand aber noch bevor.
In den letzten drei Monaten vor der Wahl war die Atmosphäre emotional aufgeladen. Immer wieder kam es bei Veranstaltungen zu gewalttätigen Ausschreitungen. Von ihren politischen Gegnern arg beschimpft wurden auch Johannes Hoffmann und Konrad Adenauer: Mit Plakaten wie »der Dicke muss weg!« oder »Kain, wo ist dein Bruder Abel? Adenauer, wo ist die Saar?« wurde ein Klima erzeugt, welches das kleine Land an der Saar vor eine wahre Zerreißprobe stellte. Die Frage war nicht mehr: Für oder gegen das Saarstatut? Sondern zugespitzt: Für oder gegen Deutschland? Für oder gegen Frankreich?

»Heim ins Reich«
Der Tag der Entscheidung kam. Und brachte Klarheit: Mit einer Wahlbeteiligung von 96,6 Prozent (= 620 000 Stimmen) und einer eindeutigen Mehrheit von 67,7 Prozent der Stimmen, lehnten die Saarländer das Saarstatut ab. Damit wandte sich das Saarland von Frankreich ab und steuerte mit offenen Armen in Richtung Deutschland - in Richtung Wirtschaftswunderland. Doch mit einem solchen eindeutigen Votum gegen das Statut hatten Franzosen und Deutsche nicht gerechnet. Der deutsch-französische Vertrag sah dementsprechend keine Regelungen vor, wie mit diesem Ergebnis umgegangen werden sollte. »Frankreich respektierte schließlich den in einem demokratischen Verfahren sichtbar gewordenen Wunsch der überwiegenden Mehrheit der Saarbevölkerung«, schreibt der Historiker Adolf Birke. Im Luxemburger Vertrag vom 27. Oktober 1956 stimmte Frankreich endgültig der politischen Rückgliederung des Saarlandes zum 1. Januar 1957 zu.
50 Jahren danach ist Geschichte noch gegenwärtig. Hin und wieder hört man auf saarländischem Hoheitsgebiet eine Redewendung, die vor allem älteren Bürgern recht leicht von den Lippen kommt, wenn sie ihr kleines Bundesland etwa in Richtung Rheinland-Pfalz oder Baden-Württemberg verlassen. Sie sprechen dann davon, »ins Reich zu fahren«. Eine Formulierung, die offen legt, wie lange Grenzen in den Köpfen fortbestehen - selbst wenn sie faktisch nicht mehr existieren.

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