Rote Flöte 6

Lutz Turczynski und Petra Kahl bauen in Alt Meteln eine schöne neue Welt

  • Christina Matte
  • Lesedauer: ca. 9.0 Min.
Heute nehmen wir mal unser linkes Herz aus der Roten Flöte und legen es aufs Papier.« Solche Sätze schreibt Lutz Turczynski. Ein Sprachbilderstürmer, wenn nicht Schlimmeres. Aber wenigstens liegt sein Herz jetzt auf dem Papier, und da können wir es genauso gut auf den Tisch legen und darüber reden. Das Herz. Es sollte freudvoll schlagen, im Gleichklang mit anderen. Es sollte leiden und mitleiden können, es sollte Frieden finden dürfen. Ein einsamer Jäger sollte es nicht sein. Nicht verzweifelt, dumpf, abgestorben - niemand sollte herzlos werden. Und sein Herz? Hier spürt er es. Hier, in der Weite Mecklenburg-Vorpommerns, ohne Handy, Computer und Fernseher, in einem Dorf namens Alt Meteln, auf einem Hof, der sich »Rote Flöte 6« nennt. »Rote Flöte«, so hieß der Weg, an dem das alte, marode Gehöft liegt, schon bevor sich Turczynski hier ansiedelte. Schade, der Name hätte von ihm sein können. Allerdings, um bei der Wahrheit zu bleiben, gab es zu jener Zeit noch nicht viele Dinge, die »von ihm« waren: Zwei Töchter hatte er gezeugt, ein Stück für das Jugendtheater geschrieben, das einen Preis der ASSITEJ erhielt, aber nie auf die Bühne kam, einige Regiearbeiten in Potsdam und Berlin erledigt. Unentbehrlich kann er nicht gewesen sein, denn wenn er »mal drei Monate nicht erschien, fiel das gar keinem auf«. Wenn er schwänzte, sagt er heute, habe das vor allem daran gelegen, dass ihm bereits zur Wende klar war: Theater wie in der DDR, das sich mit Gesellschaftskritik und Gesellschaftsutopie beschäftigte, würde es von nun an nicht mehr geben. Allerdings kennt er sich in der Szene nicht mehr aus. Weil er nicht mehr ins Theater geht. Schon seit zehn Jahren nicht mehr, seit er hier lebt. Zum einen kann er es sich nicht mehr leisten, zum anderen fehlt ihm die Zeit. Theater, das war sein früheres Leben. Sein neues Leben - ist Theater. Hier inszeniert er sein »LebensKunstWerk«, also zunächst sich selbst. Kann man die Verkleidung ernst nehmen? Da steht er, mitten im Januar - die nackten Füße in Sandalen, mit einer leichten knallroten Hose bekleidet, die ihm ein Rettungssanitäter spendete, in einem grobgestrickten Pullover, ein rotes Dreieckstuch um den Hals, auf der Nase eine John Lennon-Brille, auf dem Kopf eine Pudelmütze. Man sollte Turczynski ernst nehmen: Für sein Outfit hat er keinen Cent ausgeben, es ist »kostenneutral«, wie er es ausdrückt. »Da ist Lutz konsequenter als ich«, sagt seine Lebensgefährtin Petra Kahl, die aber »prinzipiell ebenfalls gegen Konsumterror« ist. Frau Kahl fährt noch jeden Morgen zur Arbeit in ein Kinder- und Jugendheim in Schwerin. Sie ist Erzieherin und weiß, dass manche Kinder schon deshalb keine Chance haben, weil sie hinsichtlich Klamotten, Handy und iPod nicht mit den anderen mithalten können. Sieht sie den Überfluss in den Geschäften, wird ihr »schlecht«: »Das haben Menschen hergestellt, sie haben dafür gearbeitet. Völlig umsonst, denn niemand braucht es.« Turczynski blickt auf seine Füße: »Man muss radikal sein in dieser Welt. Und radikal sein heißt, einfach leben. So wenig wie möglich kaufen, um soviel wie möglich von sich selbst zu besitzen.« 1996 hat er aber doch noch etwas gekauft: den Hof. Damals war er vierunddreißig. Frau und Töchter ließ er zurück, weil sie ihm nicht folgen wollten. Hatte ihm zur Wendezeit der Kapitalismus nur Unbehagen bereitet - er redet sich wortflink um Kopf und Kragen -, »hasste« er ihn jetzt schon aus vollem Herzen: »Weil er die Menschen böse, fies und gemein macht.« Jedes Leben, so glaubt Turczynski, »sollte ein Entwurf in die Utopie sein, sonst ist es nichts Besonderes«. Seine Idee: In der »Roten Flöte 6« sollte ein Öko-Kinderladen entstehen. Turczynski wollte sie »Zwiebelchen« nennen, nach dem gleichnamigen Kinderbuch des italienischen Schriftstellers und Kommunisten Gianni Rodari. Die kleinen Gäste sollten dort mit dem kleinen Rebellen Zwiebelchen aufwachsen, mit dem guten Herrn Gurkenkürbis, mit dem bösen Ritter Tomate, dem Statthalter Zitrone und seinen Zitrönchen und dem einsamen Graf Kirschlein, der sich Zwiebelchen zum Freund wünscht - auf diese Weise sollten sie nicht nur lernen, das Stück Fleisch in ihrer Gemüsesuppe zu achten, sondern auch sozial gerecht zu empfinden. Turczynski gründete einen Verein. Dummerweise stellte sich dann heraus, dass es in der näheren Umgebung bereits eine Kindertagesstätte gab, an einem Öko-Kinderladen in der ländlich geprägten Umgebung kein gesteigertes Interesse bestand und ein zweiter Kindergarten kommunal nicht gefördert wurde. Aus der Traum. Aus der Traum? Zum Gehöft gehören zehn Hektar. »Welch großartiges Gelände für welch großartiges Experiment!«, soll einst Nikolai Bersarin ausgerufen haben, als er das zerstörte Berlin sah. Angesichts seines Anwesens benutzt Turczynski dieses Zitat noch immer gern. Sein Experiment auf zehn Hektar Erde: »Rote Flöte« als exterritoriales Gebiet, als beruhigt-entschleunigte Enklave, abseits von »menschenentstellendem und menschheitsvernichtendem Individualismus, Konsumismus und Globalismus, fernseh-, computer-, handy- und dieterbohlenbefreit«. »Es funktioniert«, sagt er - was zu beweisen wäre. Um diesen Beweis zu erbringen, lebt er hier mit dem Schwein Mechthild zusammen, mit Hunden, einem Kater, Hühnern, Kaninchen, mit seinen Freunden Hugo Chávez und Michelle Bachelet, mit Heiner Müller und Rio Reiser: Wann, wenn nicht jetzt. / Wo wenn nicht hier./ Wie, wenn ohne Liebe./ Wer, wenn nicht wir. Das »Wir« schließt natürlich auch seine Gefährtin Petra ein, sie vor allem. Die beiden lernten sich kennen, als Petra mit ihrer Heimgruppe einen Urlaub in seinem »Heuhotel« buchte. Welch Ferien für ihre Schützlinge! Es muss keine Nobelherberge sein, nicht Paris, um sich etwas zu gönnen. Auch für wenig, gerade für wenig Geld kann man Riesenspaß haben. Und auf dem Hof war ja nicht nur Turzynski, auch Rio Reiser war schon da - ihr Rio Reiser, in dieser Pampa! - kurz, es funkte zwischen ihnen. Petra überzeugte Turczynski, dass sich nicht nur kleine Kinder, sondern auch ältere noch erziehen lassen, solche wie die, die ihr anvertraut sind: Kinder und Jugendliche aus schwierigen Elternhäusern, junge Straftäter, Schulverweigerer. Sie hatte es ja erlebt: Wie sich verschlossene Jugendliche in Gesellschaft der Tiere öffneten, wie gut es ihrer Selbstachtung tat, für etwas Verantwortung zu übernehmen, und sei es nur für ein Loch im Zaun, das sie mit eigenen Händen flickten. Eine neue Idee nahm Gestalt an: Jugendliche auf dem Hof aufzunehmen, wo in der Wärme und Geborgenheit einer fast familiären Umgebung Interessen und Neigungen geweckt, entdeckt und gefördert werden. Die Tagesabläufe wären hier von den Jahreszeiten geprägt, in weitestgehend geschlossenen Stoffkreisläufen und regionalen Wertschöpfungsketten würden ganzheitliche Zusammenhänge vermittelt. Da man zusammenarbeiten müsste, könnten verlorene Werte wie Solidarität, Hilfsbereitschaft und Toleranz wiederbelebt, kurz soziale Kompetenz vermittelt werden. »So würde dann endlich jener Stolz erwachsen, der auch den Stolz des Anderen mit Achtung akzeptiert und mit Anstand respektiert, dieser Stolz, der wichtig macht und nicht wichtigtuerisch, der groß macht und nicht größenwahnsinnig, der stark macht und nicht gewalttätig. Denn auch denen muss dringend geholfen werden, deren letzter Strohhalm es oft ist, ein bloßer stolzer Deutscher zu sein.« Auch solche Sätze schreibt Turczynski. Sätze, in denen jedes Wort stimmt. Über diese Sätze hat er lange nachgedacht, und er ist stolz auf sie - die Menschen sollten viel mehr nachdenken. Gerade hier, in Mecklenburg-Vorpommern, siehe Landtagswahlergebnis. Viele, Junge und Ältere, fühlten sich »heimatvertrieben im eigenen Landstrich: weil man sie nicht braucht«. Und da er gerade gerade bei Älteren ist: Warum sollten nicht auch alte Menschen in der »Roten Flöte« leben? Statt auf Butterfahrten die Zeit totzuschlagen oder sich in Altenheimen zu Tode zu langweilen, könnten sie hier eine Wohnstatt finden: im Zusammenleben der Generationen ihre Erfahrungen weitergeben ... Die Realität der »Roten Flöte« ist die: altersschiefe Gebäude und Dächer. Aufgeweichte Trampelpfade. Überall Stapel mit Baumaterial. Grob zusammengezimmerte Ställe. Das Ackerland - weitgehend Brache. Allerdings, mit anderem Blick, kann man das Gehöft auch so sehen: Der Schutt, den die Alt Metelner in den Jahren, in denen es leerstand, hier tonnenweise abluden, ist nun vollständig entsorgt. Der Teil eines Daches ist neu gedeckt, frischer Rasen angesät. Die alten Obstbäume sind gemulcht, auf einem Hektar wurde soeben eine Streuobstwiese gepflanzt. Mehrere Bungalows sind entstanden, außen und innen mit Holz verschalt und mit Bädern ausgestattet, so dass man darin wohnen kann. Weiterhin gibt es einen stabilen, überdachten Werkstattbau sowie einen weiteren mit einem Steinofen zum Brotbacken ... All das ergibt Sinn, wenn Turczynski erklärt, wie das Projekt aussehen soll, wenn es denn einmal fertig wird: Um eine etwa 90-prozentige Selbstversorgung zu sichern, wachsen im Garten Kartoffeln, Gemüse und Kräuter. Eine große Wiese liefert Heu und Futter für die Tiere. Schmiede, Holz- und Fahrradwerkstatt, Töpferei, Käserei, Schlachterei und Mosterei haben einen Platz gefunden. Ein Blockheizkraftwerk, Solar- und Photovoltaik, Regenwassersammel- und Pflanzenkläranlage gewährleisten den verantwortungsvollen Umgang mit natürlichen Ressourcen. Zahlreiche weitere Bungalows werden von Jung und Alt bevölkert. Es gibt Arbeits- und Ausbildungsplätze. Leider kann Turczynski seinen ökologischen Kommunismus nicht ohne kapitalistisches Geld aufbauen - nicht einmal auf lumpigen zehn Hektar. Das ist die Crux. Der er sich stellt. Das heißt: Jede Förderlage erkennen, für sich nutzen, Anträge stellen. 2004 brachte er es fertig, dass für sein Projekt eine »Machbarkeitsstudie« im laeder+-Programm der EU finanziert wurde. Eine derartige Studie ist nötig, um weiter gefördert zu werden. Sie kostet 20 000 Euro. Die Studie fiel positiv aus. Sein Projekt: ökonomisch sinnvoll und wertvoll. Er sah sich schon auf der Siegerstrecke. Zumal der Landrat verkündete, keine Machbarkeitsstudie, die mit EU-, also Steuermitteln für seinen Landkreis erstellt wurde, solle im Regal verrotten. Eine Bank war sofort bereit, 1,2 Millionen locker zu machen. Einzige Bedingung dabei: kompetente »Projektbetreuung und -steuerung«. Projektbetreuer, das sind Firmen, die das Controlling übernehmen und öffentliche Geldgeber besorgen. Auch sie haben ihren Preis, einen stattlichen selbstverständlich - nochmals 20 000 Euro wären fällig gewesen. Die Absage des Ministeriums für Landwirtschaft in Mecklenburg-Vorpommern, es sehe keine Fördermöglichkeit, war für Turczynski und Petra Kahl ein Schlag. Nur 12,5 Prozent der Summe hätte das Land beisteuern müssen. Turczynski blinzelt über den Rand seiner dunklen John Lennon-Brille: »Wir reden von 2500 Euro, an denen das Projekt scheitern könnte.« Jetzt gräbt er anderswo nach Geld. Das Bundesfamilienministerium fördert so genannte »Mehrgenerationenhäuser«. Genau das, was ihnen vorschwebt! Der Haken an der Sache ist: Die Ausschreibung läuft übers Internet. Welches Turcynski aus Überzeugung ablehnt. »Computer machen dumm«, meint er, »wer am Computer einen Bauernhof aufbaut, dem ist die Wirklichkeit zu langsam, der gibt auf, wenn er mal einen Nagel krummhaut«. Jetzt muss er zusehen, dass seine Bewerbung auch in klassischer Schriftform akzeptiert wird. »Jede Wette«, ereifert er sich, »dass 99 Prozent der Projekte, die sich bei Frau von der Leyen bewerben, versprechen, dass sie Medienkompetenzen vermitteln. Wir nicht. Wir wollen die Dominanz der elektronischen Medien brechen, die virtuellen SchönScheinWelten ausblenden und den vielfach fragmentarisierten Alltag wieder sinnvoll zusammenfügen.« Das richtige Leben im falschen zu führen, ist ein Kraftakt, erfahren die beiden. Das falsche Leben wehrt sich kräftig. Petra Kahl, hätte sie die Wahl, würde den Kampf nicht noch einmal beginnen. »Das Schlimmste ist«, erzählt sie traurig, »dass wir uns ständig verteidigen müssen. Die Leute denken, wir wollten nur unseren Hof auf Vordermann bringen, damit wir es hier schön haben. Aber das stimmt nicht.« Aufgeben will sie aber so wenig wie Turczynski. Der würde über die Welt, »wie sie ist und sein könnte«, gern einmal mit Heinz Rudolf Kunze, Konstantin Wecker, Campino und Norbert Leis...

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