Leben unter Hochdruck

Studien bringen neue Erkenntnisse über die Ökosysteme in der Tiefsee

  • Ingrid Wenzl
  • Lesedauer: 7 Min.

Schwarz und faust- bis blumenkohlgroß liegen die Manganknollen in 4000 bis 6000 Meter Tiefe auf dem Meeresgrund. Manchmal sind es nur drei Stück pro Quadratmeter, manchmal bilden sie auch dichte Teppiche oder an den Seebergen wahre Krusten. Neben dem in der Stahlveredelung eingesetzten Mangan enthalten sie Nickel, Kobalt und Kupfer und erwecken so bei Wirtschaft und Regierungen Begehrlichkeiten.

Ende der 1980er Jahre pflügten deutsche Wissenschaftler in dem sogenannten DISCOL-Experiment im Peru-Becken einen Quadratkilometer Meeresboden. Auf kleiner Skala wollten sie so herausfinden, welche Folgen ein industrieller Manganabbau auf das dortige Ökosystem haben könnte. »Die Entnahme der Manganknollen führte damals dazu, dass die Gemeinschaft der fest am Boden siedelnden Tiere fast vollständig zusammengebrochen ist«, berichten die Autoren einer Ende letzten Jahres in der Fachzeitschrift »Current Biology« publizierten Studie. Bestände ganzer Tiergruppen haben sich bis heute nicht erholt.

Doch es sind nicht nur Schwämme, Korallen oder Seelilien, die so ihren Lebensraum verlieren könnten: Wie das internationale Forscherteam entdeckte, legen Tiefseekraken ihre Eier auf die an den Knollen festgewachsenen Schwämme. »Die Kameratechnik ist heute viel besser als noch vor 26 Jahren«, erzählt Antje Boetius, Tiefseeforscherin am Alfred Wegener Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven (AWI) und Mitautorin der Studie. »Auch auf den alten Bildern sind die Kraken schon zu sehen, aber aufgrund der Auflösung konnte man nicht erkennen, was sie tun.« Erst heute weiß man nun, dass sie dort Brutpflege betreiben.

Im Reich der Finsternis

In über 4000 Metern Tiefe ist es eisig kalt und dunkel. Es herrscht ein enormer Wasserdruck und fehlt an Nahrung. Anders als man jedoch viele Jahre lang dachte, findet sich auch hier noch eine reiche Vielfalt an Leben, das sich an diese unwirtlichen Bedingungen angepasst hat - wie die weißen, flossenlosen Tiefseekraken. Bei Wassertemperaturen wenig über dem Gefrierpunkt verläuft ihre Entwicklung sehr langsam. »Die Kraken legen nur 25 bis 30 sehr große Eier«, erklärt Autun Purser, Tiefseeökologe am AWI und Erstautor der Studie. »Wenn sie schlüpfen, sind sie bereits sehr gut entwickelt und sehr mobil, so dass sie ein ganzes Stück zurücklegen können, um einen neuen Ort zu finden, wo sie sich dann niederlassen.«

Über vier Jahre brauchen die kleinen Tintenfische, bis sie schlüpfen. Das ist die längste Brutzeit, die wir von einem Lebewesen kennen. Wie lange es dauert, bis sie ausgewachsen sind, kann der englische Forscher dagegen nicht sagen - möglicherweise ebenso lange wie beim Menschen. Die kleinsten gefundenen Exemplare waren vier bis fünf, die größten 20 Zentimeter groß: Vermutlich verbringen die Kraken ihren ganzen Lebenszyklus an diesem Ort. »Sie können zwar schwimmen, aber sie halten sich am liebsten am Meeresboden auf, nicht in der freien Wassersäule«, bemerkt Purser. Dabei sind die Manganknollen für sie lebenswichtig, denn dort sind ihre Eier vor Fressfeinden geschützt, was ihren Fortbestand sichert.

Die Manganknollenfelder sind besonders artenreich: »Manche Tiere können nur im Schlamm leben, andere auf Hartsubstrat«, erklärt Boetius. Hier gibt es beides und damit eine Mischfauna: Tiefseeschwämme, Seeanemonen, Seegurken, Krebse und Seesterne. Das Nahrungsproblem lösen die einzelnen Tiefseearten unterschiedlich: Selten trifft man in mehreren tausend Meter Tiefe noch Fische größer als 30 Zentimeter an, einige können, ähnlich wie manche Schlangen an Land, ihre Kiefer ausklinken und so Beute fangen, die größer als sie selbst ist. Demselben Zweck dienen dehnbare Mägen und große Zähne. In der Tiefsee im Peru-Becken ernähren sich viele Tiere von toten, von der Oberfläche herabsinkenden Salpen. Nicht so die Kraken: Die fressen kleine Krebstiere, die am Meeresgrund im Schlamm leben.

Bei den schwarzen Rauchern

Erhebliche Wissenslücken bestehen auch noch über den eigenartigen Lebensraum der Hydrothermalquellen, die vor allem entlang der Mittelozeanischen Rücken auftreten, vulkanisch aktiven Unterwassergebirgszügen. In bis zu 5000 Metern Tiefe ragen meterhohe Schlote aus dem Meeresboden und speien auf mehrere hundert Grad erhitztes Wasser in das kalte Meereswasser. Dabei unterscheidet man zwischen den schwarzen Rauchern, deren Wasser durch darin gelöste Eisensalze und andere mineralische Substanzen dunkel gefärbt ist, und den Weißen Rauchern, die weißliche Partikel ausstoßen.

In unmittelbarer Umgebung dieser bizarren Gebilde entstehen einzigartige Biotope mit wenigen aber individuenreichen, an die extremen Bedingungen gut angepassten Arten. Den untersten Baustein in der Nahrungskette bilden Bakterien, die Schwefelwasserstoffe, Methan und Wasserstoff als Energiequelle nutzen. Statt Fotosynthese mit Sonnenlicht betreiben sie Chemosynthese im Dunkeln, um Kohlendioxid zu fixieren.

Einige Muschelarten gehen mit solchen Bakterien Symbiosen ein und beherbergen sie in ihren Kiemen. »Die Bakterien profitieren davon, dass die Muschel mit dem Atemstrom frisches Wasser heranstrudelt, in dem in gemäßigter Konzentration auch Schwefelwasserstoff gelöst ist. Der Wirt wiederum profitiert von der Primärproduktion der Bakterien und ernährt sich von deren Stoffwechselprodukten«, erklärt Christian Borowski vom Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie, der kürzlich von einer Forschungsreise zum vor Neuseeland gelegenen Kermadec-Bogen zurückgekehrt ist, einem der vulkanisch aktivsten Gebiete der Erde. Auch die dort gefundenen Röhrenwürmer ernähren sich ausschließlich von dem, was ihre Symbionten produzieren.

»An Quellen, die besonders giftige, schweflige Fluide ausstoßen, ist die Artenvielfalt noch geringer. Hier haben wir Garnelen aus der Familie der Alvinocaridae, Krabben und Kermadec-typische Plattfische gesehen. Das sind alles mobile Arten, die den toxischen Substanzen zeitweise ausweichen können«, so Borowski. Anders die dort ebenfalls sehr häufigen, zu den Rankenfußkrebsen zählenden Entenmuscheln: Sie siedeln sich erst in größerer Entfernung an, wo der Schwefelgehalt des Wassers etwas niedriger ist.

Auch aus chemischer Hinsicht gibt es noch viel zu erforschen. »Es ist gut bekannt, dass hydrothermale Quellen mit ihren Schwarzen Rauchern erhebliche Mengen an Stoffen und Energie aus dem Untergrund in den Ozean eintragen«, erklärt Andrea Koschinsky, Leiterin des interdisziplinären Forschungsprojektes, das vom Bundesforschungsministerium mit über einer Million Euro unterstützt wird. Dagegen rätseln die Wissenschaftler noch, wie viel davon tatsächlich in den offenen Ozean gelangt und dort an den biogeochemischen Prozessen teilnimmt. Eine zentrale Rolle kommt dabei dem Eisen zu, das das Planktonwachstum in den oberen Wasserschichten fördert. »Glaubte man früher, das hydrothermale Eisen würde aufgrund seiner Unlöslichkeit komplett im Umfeld der Schwarzen Raucher bleiben, so wissen wir heute, dass ein signifikanter Anteil an gelöstem Eisen durch Stabilisierung mittels organischer Moleküle weite Reisen in den Ozean übersteht«, erklärt die Geochemikerin von der Bremer Jacobs Universität.

Noch Zukunftsmusik

Seit 2006 verfügt die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) über eine Erkundungslizenz für Manganknollen im Pazifik und seit 2015 über eine weitere für polymetallische Sulfide im Indischen Ozean. »Angesichts des Anstiegs des weltweiten Rohstoffbedarfs kann der Abbau dazu beitragen, die Versorgungssicherheit der deutschen Industrie mit Hochtechnologierohstoffen zu gewährleisten«, teilt das Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWI) mit. Kupfer, Nickel, Mangan und seltene Erden spielten für die Elektroindustrie, die Stahlveredelung aber besonders für die Nutzung erneuerbarer Energien und den Ausbau der Elektromobilität eine wesentliche Rolle. Eine Förderung solle jedoch nur dann stattfinden, wenn ihre Umweltverträglichkeit anhand eines sogenannten Pilot Mining Tests nachgewiesen werden könne.

Doch bis zu einem Abbau werden nach Einschätzung von Thomas Kuhn, Meeresgeologe an der BGR, ohnehin noch mindestens zehn Jahre verstreichen. »Es gibt noch kein komplettes Abbausystem, das zuverlässig und dauerhaft arbeiten kann«, erklärt er. Eigene Forschungsprojekte könnten zur Entwicklung einer möglichst umweltfreundlichen Technologie beitragen. Das größte ökologische Problem sieht Kuhn bei dem Abbau der Manganknollen in dem Sediment, das dabei weiträumig aufgewirbelt würde.

Doch auch an Land gehe der Erzabbau mit enormen Umweltschäden einher, die begehrten Rohstoffe würden in abgelegenen Gegenden, wie im Gebirge oder im tropischen Regenwald, gewonnen und im Falle der Kobaltminen im Kongo zudem mit Kinderarbeit. »Was ist schlimmer?«, fragt auch Boetius. Wolle man Tiefseebergbau betreiben, müsse man sich aber seine ökologischen Gefahren ganz genau anschauen, um nachhaltige Schutz- und Nutzungskonzepte erstellen zu können. Ein besonderes Problem stelle dabei die dünne Besiedlung der Tiefsee dar: So leben an den Manganknollenfeldern nur wenige Exemplare pro Tierart. »Das macht sie sehr empfindlich für Störungen. Wenn man diesen wenigen noch Lebensraum nimmt, ist es nicht sicher, dass genügend Bestandsdichte für die Reproduktion bleibt«, warnt die Meeresbiologin.

Der Meerescampaigner von Greenpeace Deutschland Thilo Maack plädiert für den Schutz von mindestens 40 Prozent der Ozeane vor Fischerei, Müll und industrieller Ausbeutung: »Heute weiß man mehr über die Marsoberfläche als über die Tiefsee - den größten Lebensraum der Erde«, mahnt er. »Wir sollten sehr vorsichtig sein, Technologien einzusetzen, deren Anwendung schon an Land ein Problem darstellen.« Vor sechs Jahren explodierte die Ölbohrplattform Deepwater Horizon im mexikanischen Golf. Es dauerte rund drei Monate, bis es einer Gruppe von Ingenieuren endlich gelang, das Bohrloch, aus dem Rohöl ausströmte, zu schließen. »Das war in 1250 Metern Tiefe, wie soll das dann erst in über 4000 Metern sein?«, fragt Maack.

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