Der linke Augenblick

Vor hundert Jahren wurde der Dichter Günter Eich geboren

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: ca. 6.0 Min.
Wurde er beschrieben, so wurde vor allem darauf verwiesen, sein wahres Gesicht zöge sich hinter das gezeigte fast immer zurück. Er war vorsichtig, misstrauisch, wohl einer der sehr Bescheidenen. Mit der Zurückhaltung verbunden: seine unerbittlich feinädrige Annäherung ans Wirkliche; sein Versuch, sich über Bezeichnung und Melodie in den Atem der Realität einzubinden, sich darin aufzuheben.
Solches hat bei Günter Eich mit fernöstlichen Erfahrungen zu tun. »Zuviel Abendland/ verdächtigt«, heißt es im Gedicht »Fußnote zu Rom«. Eich, 1907 in Lebus an der Oder geboren, hat Sinologie studiert, »Laotse begegnete mir früher als Marx«, wie es in untenstehendem Gedicht heißt.
»Anlässe und Steingärten« lautet der Titel des Bandes, in dem die Verse veröffentlicht wurden. Steingärten sind eine chinesische Erfindung, bleibend; Anlässe gehen vorüber - Eich aber schreibt: »Keine Möglichkeit für Steingärten«. Was überdauert, ist die Herrschaft der Steinbrüche. Die Existenz zerfällt, bricht ab von Anlass zu Anlass.
Nach Hölderlins Tod soll man Blätter Papiers gefunden haben, die nicht einmal mehr Fragmente waren, sondern nur noch die rhythmischen Zeichen für Hebung und Senkung gedachter, jedoch nie geschriebener Gedichte. Christian Morgenstern glaubte später einen Witz erfunden zu haben, als er in dieser Weise »Fisches Nachtgesang« notierte. Ein Gedicht auf die Geschwister Arnim hatte Eich ausklingen lassen: »Verstummen uns die Zeichen,/ wenn Lurch und Krähe schwieg,/ hallt aus den Sternbereichen/ die andere Musik.« Ihm bleiben irgendwann nicht einmal mehr jene Zeichen, die Hölderlin - im Wahnsinn, dies aber wenigstens in klassischer Zeit - noch halfen, ein Gedicht, wenn schon nicht zu schreiben, so zumindest zu denken.
»Wir gehören zu den letzten«, hatte er geschrieben, Sänger im Abgesang; den »Botschaften des Regens«, der Wasserflut also, war die Papierflut gefolgt, »Zu den Akten« hieß der entsprechende Band.
Eich hat Tötung von Natur und die Fadenscheinigkeit einer ungetrübten Naturlyrik kommen sehen. »Die Natur verwechsle ich immer mit Aussichtsbergen. Aber das macht nichts, auch in zweitausend Meter Höhe ist sie kategorisch und imperativ. Keine Möglichkeit, die Welt zu verändern, allenfalls Erdrutsche, Vulkanausbrüche - und Gipfelkreuze mit Büchern, in die man sein Einverständnis eintragen kann. Datiert. Für konservative Herzen. Die andern benutzen den Autobus.«
In zwei Gattungen brillierte er: im Hörspiel (u.a. »Träume«, »Geh nicht nach El Kuwehd«, »Der Tiger Jussuf«, »Die Mädchen aus Viterbo«) und im Gedicht (»Abgelegene Gehöfte«, »Untergrundbahn«, »Nach Seumes Papieren«). Seine Funktexte gaben dem westdeutschen Nachkriegshörspiel die maßstäbliche dichterische Qualität. »Träume«, 1951: In den fünf alphaften Etüden lag nur noch wenig von der Haltung eines Wolfgang Borchert, der vier Jahre zuvor in »Draußen vor der Tür« die Not der Zeit anklägerisch beschworen hatte. Eichs Fantasie entwarf böse, kratzende Mahn- und Warnbilder, er entnahm den Schreckbildern des Dritten Reiches Details, die in beginnender wirtschaftswunderlicher Saturiertheit die Sinne schärfen sollten für zukünftige Verführungen.
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Verspätung
Günter Eich

Da bin ich gewesen
und da,
hätte auch
dorthin fahren können
oder zuhaus bleiben.
Ohne aus dem Hause zu gehen,
kannst du die Welt erkennen.
Laotse begegnete mir
früher als Marx.
Aber eine
gesellschaftliche Hieroglyphe
erreichte mich
im linken Augenblick,
der rechte war schon vorbei.

Aus dem Band »Anlässe und Steingärten«, 1966. Die Bücher Eichs erscheinen bei Suhrkamp, Frankfurt (Main).
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Die Hörstücke Eichs spielen mit Verwandlung und Austauschbarkeit, und in seiner Lyrik hat er dieses Prinzip in die äußerste Konsequenz getrieben: Sprache auf der Suche nach jenem Punkt, an dem sich nichts mehr offenbaren lässt, wo das Sagen, zwangsläufig, zum Verstummen neigt. »Jedes Wort bewahrt einen Abglanz des magischen Zustandes, wo es mit dem gemeinten Gegenstand eins ist, welches mit der Schöpfung identisch ist. Aus dieser Sprache, dieser nie gehörten und unhörbaren, können wir gleichsam immer nur übersetzen, recht und schlecht und jedenfalls nie vollkommen« (1953). Dichten als Übertragung von etwas, von dem kein Urtext mehr vorhanden ist. Poesie als Arbeit gegen die Begriffsroutine, die jede Erfahrung in ideologischen Besitz nimmt.
Der ältere Eich wendet sich ab von rhythmisch gestalteter Wirklichkeit, hin zu erstarrten, geschrumpften oder verzerrten Gegen- und Rückansichten der Dinge; der Reim wird abgestoßen, die Metaphoriker umso verschlüsselter. Mehr und mehr schützt Eich sein Wort davor, zu früh oder gar endgültig, also fahrlässig, verstanden zu werden. Denn eilig besänftigtes Deuten nimmt allem Text etwas von seiner widerständischen Schwere. Ein Weg, der in der Prosa der »Maulwürfe« so genial eine widersinnige, anstößige neue Ordnung fand.
Das ist ein Miniaturen-Buch des assoziativen Spürsinns, der den Surrealismus der zwanziger, dreißiger Jahre fortsetzt. Eine Schocktherapie gegen sprachliche Abnutzungsknechte, wie sie in Massenmedien epidemieren.
Maulwürfe? Mit dem Maul Geworfene. Nie hat Eich ernsthafter, eigensinniger, verzweifelter um sein Thema gekämpft, nie zuvor aber hat er sich so unernst, so beunruhigend verspielt gegeben wie in diesen Prosastücken. Seine Maulwürfe sind Possenreißer und Witzbolde, bösartig vergnügt; eine ihrer beliebtesten Methoden ist der bravouröse Kalauer, »Ich zitiere wie Espenlaub«; Kalauer seien »keine Steigerung von Calau, aber mir sind sie recht, eine Möglichkeit, die Welt zu begreifen, vielleicht die einzige, anspruchslos und lila«. Ein Würfelspiel mit ironisch ausgetrockneten Denkwürdigkeiten. Schon der Anflug von Pathos wird unterlaufen. Die Hauptsache wird in Nebenbemerkungen versteckt. Aber im Wirrwarr der Ungereimtheiten, irgendwo, das aufklärerische Blitzen: Im großen Durcheinander der Welt, wo alles mit allem zusammenhängt, steckt die Wahrheit im unscheinbaren Detail. Eich, das ist tiefe metaphysische Melancholie, die sich gegen das Establishment der bürgerlichen Rang-Ordnungen ebenso richtet wie gegen die abstruse Idee von möglicher Welt-Harmonie.
Alles bei Eich ist nüchterne Topografie, ist »Inventur«, wie ein berühmtes Gedicht aus dem Jahre 1945 heißt - die Einheit von Ding und Wort fast wörterbuchgerecht: »Dies ist mein Notizbuch,/ dies meine Zeltbahn,/ dies ist mein Handtuch,/ dies ist mein Zwirn«. Das ist volle Konzentration auf das, was geblieben ist nach der Katastrophe. Eine kalte Replik auf alle Aufschwünge, wenn sich der Staub der Trümmer gesetzt hat. Günter Eich, Mitglied der Gruppe 47, hat der Selbstzufriedenheit, dem Scheinglück und dem vermeintlichen Sinngleißen einer neuen Zeit früh seine Skepsis entgegengeworfen.
Von sich selber sagte er, er habe in der Nazizeit ein Haus und ein Auto gehabt. Nur sehr bedingt, vielleicht gar nicht könne er sich daher auf den Ausweis einer inneren Emigration berufen. Er war in den dreißiger Jahren Autor beim Deutschlandfunk, fügte sich ein ins propagandistische Muster, lieferte feuilletonistische Idyllen ab, befleckte sich mit einem nazitümlichen Hörspiel - und verfluchte seine Not, wegen eines Hauses an der Ostsee selbstbeschädigende Brotarbeit zu tun. Vielleicht liegen hier Wurzeln späterer Stille und großer Hemmnisse, sich gesellschaftlich einzubinden - Sprüche für aufbegehrende Studenten (»Seid Sand, nicht Öl im Getriebe«) bildeten die zwischenzeitliche Ausnahme.
Am 20. Dezember 1972 starb Günter Eich in einem Salzburger Sanatorium, 65 Jahre alt.

Günter Eich: Sämtliche Gedichte in einem Band. Suhrkamp. 653 S., Leinen, 18,80 EUR.
Günter Eich: Träume. Hörspielinszenierungen 1951 und 2007. NDR-Kul...

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