Adoptiert in Brasilien
Eine Familie für Thais und Elisa
Die Koffer sind gepackt. Sie stehen im Korridor in Reih und Glied. Einer von ihnen ist pinkfarben. Das ist der Koffer für Elisa. Darin zusammengelegt Kinderkleider in hell leuchtenden Farben, Schwimmweste, Hose und Anorack, Malstifte und etwas Spielzeug. Dies alles hat die Familie mit Sorgfalt aber auch Ungewissheit ausgesucht. Bisher haben die zukünftigen Eltern nur ein Foto von der sechsjährigen Elisa in der Hand und eine Mappe mit ihren wichtigsten Lebensstationen.
Elisa ist eine Sozialweise. Ihre leiblichen Eltern konnten sich um die Tochter nicht kümmern. Beide sind alkoholkrank und trennten sich. Das Mädchen wurde hin- und hergerissen, kam schon früh in eine Pflegefamilie, auch die trennte sich und gab das Kind dem Jugendamt zurück. Später nahm ein Pastor Elisa auf, fühlte sich mit ihr aber überfordert. Vor einem Jahr kam sie zu einer Pflegeoma, vorübergehend, bis sich eine Adoptivfamilie gefunden haben würde.
Rüdiger Mardus und Petra Schleicher stellten vor vier Jahren einen Antrag auf Adoption, vorher hatten sie bereits Thais aus Brasilien adoptiert. Rüdiger Mardus arbeitet bei der Kriminalpolizei. Petra Schleicher, seine Lebensgefährtin, ist Lehrerin. Mit eigenen Kindern hatte es jahrelang nicht geklappt. Die Zeit verstrich. Nach deutschem Recht wurden sie zu alt für eine Adoption. So nutzten sie die Chance im Ausland und adoptierten Thais aus Sao Paulo.
Auch sie war damals gerade sechs. Als sie das Mädchen zu sich holten, war Petra Schleicher schon 40, Rüdiger Mardus 33. Thais lebte in einem SOS-Kinderdorf. »Im ersten Moment der Begegnung war sie anschmiegsam und freute sich, ein Zuhause zu bekommen, zugleich misstraute sie uns, testete unsere Zuneigung, schrie herum, schlug um sich«, erzählen die Eltern. Längst sind die drei eine richtige Familie geworden. Trotzdem fühlt sich Thais oft allein. Sie fragt nach ihren Wurzeln und sehnt sich nach einer Schwester. Die Eltern stellten erneut einen Adoptionsantrag beim Verein »Eltern für Kinder« und mussten viel Geduld aufbringen. »Die ersten zwei Jahre Wartezeit waren eigentlich unproblematisch. Wir waren voller Hoffnung. Die Zeit verging, wir fingen an zu rätseln und fragten uns: Klappt denn das überhaupt noch? Das Kinderzimmer war eingerichtet. Wir warteten auf diesen Anruf, und es passierte nichts.«
Nun kriegen sie ihr zweites Kind. Alle sind gespannt auf Elisa. Doch erst das persönliche Kennenlernen wird entscheiden, ob sie sich in der Familie wohlfühlen und das brasilianische Familiengericht der Adoption zustimmen wird. Auf Elisas Koffer legt Thais einen Teddybär, den sie für die Schwester gekauft hat. Die Eltern packen die bereitgelegten Dokumente ein, die Pässe, den Fotoapparat und das Geld. Das Meerschweinchen wird bei Freunden versorgt, Familie Mardus ist zum Abflug bereit.
Zwölf Stunden dauert der Flug allein von Zürich nach Sao Paulo, 10 000 Kilometer von Berlin entfernt. Eine Stadt, berüchtigt für hohe Kriminalität und stetig steigende Arbeitslosigkeit. Von dort fliegt die Familie noch weiter nördlich ins Landesinnere bis Franca, der Geburtsstadt von Elisa. Ringsum Zuckerrohrfelder und Kaffeeplantagen. Etwas abgelegen, auf der malerischen Fazenda »Belo Horizonte«, trifft die Familie mit Elisa zusammen. Es ist Anfang Oktober. Später Nachmittag. Sonnenschein. Knapp 30 Grad und eine paradiesische Landschaft. Dorett Pohl, die brasilianische Repräsentantin des Vereins »Eltern für Kinder«, stellt ihnen Elisa vor. Das Mädchen blickt scheu auf die zukünftigen Eltern, wechselt mit ihnen ein paar Sätze und hängt sich gleich an Thais wie eine Klette. Bei ihr fühlt sie sich sicher. Auf die Eltern lässt sie sich kaum ein.
Rüdiger Mardus ist in den ersten Tagen etwas enttäuscht. »Weil Elisa sich mir gegenüber sehr ablehnend verhält. Das ist schon recht schwierig.« Elisa testet die Belastbarkeit der fremden Deutschen. Um die Erwachsenen macht sie einen Bogen, begegnet ihnen mit Misstrauen. Die anfängliche Suche nach Halt bei der Schwester schlägt bald um. Sie spuckt und schreit Thais an, erhebt sogar die Hand. So hat sich Thais eine kleine Schwester nicht vorgestellt. Elisa sollte doch ihre beste Freundin werden. Doch jetzt muss sie erleben, dass das Mädchen genauso schreien und stur sein kann, wie sie es damals war.
Ihre portugiesische Heimatsprache hat Thais längst verlernt. Nur mit wenigen Worten verständigen sich die Mädchen, Mimik und Gestik verraten Thais, woran sie bei Elisa ist. »Sie ist zickig, kneift, meckert meistens nur herum und schreit mich immer an, probiert aus, wie lange ich zurückschreien kann. Wenn sie mal nichts bekommen hat, dann ist sie eingeschnappt und provoziert. Wenn ich etwas Schönes mache, dann lacht sie hämisch, schreit und läuft weg. Will ich ihr etwas zeigen oder schenken, rennt sie auch weg.«
Die Eltern stehen vor einer Herausforderung. Wird Elisa ihnen vertrauen und mit nach Deutschland kommen? Es sind wahrlich keine Ferien auf der Fazenda, wo in den nächsten sechs Wochen eine familiäre Beziehung wachsen soll. Nach und nach entdecken die vier einander aber dann doch.
Eine Familie auf Probe. Konflikte treten jeden Tag aufs Neue auf. Elisa hat Thais' Springseil erobert, Auslöser eines erneuten Streites. Elisa versucht arglos, mit dem Seil zu hüpfen, so wie sie es sich eben noch bei ihrer großen Schwester abgeguckt hat. Thais ist aufgebracht, weint und beschwert sich bei den Eltern: »Immer kriegt Elisa alles. Und immer muss ich Rücksicht nehmen.« Rüdiger Mardus tröstet die Tochter. Er weiß, dass es überhaupt nicht um das Springseil geht. »Sie hatte schon in Berlin Bedenken, dass sie vielleicht hierbleiben muss, dass wir sie möglicherweise gegen die kleinere, vielleicht niedlichere Elisa austauschen könnten.«
Die Angst, in Brasilien zurückzubleiben, sitzt tief. Thais wuchs auf in einem Elendsquartier nahe Sao Paulo. Nachbarn zeigten die Eltern an, weil sie Thais und ihren älteren Bruder tagelang allein gelassen hatten, in einer Wohnung ohne Strom und fließendem Wasser. Die Kinder kamen in ein Kinderheim. Später nahm die Großmutter sie zu sich, doch ihre bescheidene Rente reichte nicht, um für beide Enkel zu sorgen. So entschied sich die Oma für Thais' älteren Bruder. »Es hat Thais sehr verletzt«, erzählt Rüdiger Mardus. Seine Frau fügt hinzu: »Als wir Thais im Kinderdorf abholten und mit ihr einige Wochen in Sao Paulo zusammenlebten, hatte sie immer das Gefühl, dass das alles nicht wahr ist. Es kam ihr vor wie in einem Märchen. Alles werde bald zu Ende sein, und sie müsse wieder zurück ins Kinderdorf. Erst im Flugzeug, als die Anspannung von ihr fiel, war für sie klar, jetzt fliegt sie mit nach Deutschland. Im Flugzeug klatschte sie, alle Leute guckten. Sie hat sich so gefreut: "Die nehmen mich wirklich mit, das sind jetzt meine Eltern."«
Thais wiegt sich in der Hängematte. Sie ist immer noch sauer. Das Springseil liegt jetzt unbeachtet auf einem Hocker. Thais hat sich entschlossen, Elisa so lange zu ignorieren, bis diese sich bei ihr entschuldigt. »Da verlangst du zu viel«, erklärt ihr Petra Schleicher. »Das kann Elisa noch nicht.« Für die Eltern ist es schwierig, die Balance zu finden, den Kindern Regeln zu setzen, anderseits aber auch nicht zu streng zu sein. »Wenn wir jetzt alles verbieten und sehr streng sind, dann fühlt sich Elisa nicht wohl und ist unglücklich, dann geht das schief. Lassen wir alles durchgehen, fühlt sie sich auch nicht wohl. Ich denke, sie hat einen ganz lieben Kern und im Moment noch eine etwas rauhe Schale. Dass sie manchmal so schreit, das müssen wir ihr einfach noch lassen.« Und auch Thais muss sich langsam daran gewöhnen, ihre Eltern mit der zukünftigen Schwester zu teilen. Gemeinsame Abenteuer, klettern und reiten, lange Wanderungen, das Baden unter Wasserfällen oder auch das Aushalten tagelanger sintflutariger Regenfälle - all das verbindet.
Die Fazenda ist eine ehemalige Oliven- und Kaffeeplantage. Heute werden dort Rinder gezüchtet, Soja und Zuckerrohr angebaut. Bauern betreiben Bullenmast. Ein Areal von 500 Hektar, 1000 Meter über dem Meeresspiegel. Eine scheinbar unendliche Weite. Palmen und Kakteen ringsum. Mangofrüchte, Bananen und Zitronen an den Bäumen. Leguane, Schlangen, Zikaden, Schmetterlinge von bis zu zehn Zentimeter Spannweite. Mit jedem Tag wachsen Elisa und Familie Schleicher-Mardus ein bisschen mehr zusammen. Nun nimmt Elisa das Geschenk von Thais, den Teddy, an.
Neben dem Toben und Spielen gibt es aber auch feste Tagesstrukturen, in der Thais Hausaufgaben, die ihr die Lehrerin aufgetragen hat, erledigt. Elisa malt und lernt dabei spielerisch die ersten Worte in deutscher Sprache. Sie malt mit einem dicken Rotstift ein Herz für Thais. »Das bedeutet, dass sie mich lieb hat«, freut sich die Schwester. Thais lernt nach und nach, Elisa mit all ihren Facetten zu verstehen und anzunehmen. Und abends bei der »Gute Nacht«- Geschichte kuschelt sie sich bei Thais ein. Teddy in ihrem Arm.
Sechs Wochen werden sie hier noch zusammen verbringen, ehe das Familiengericht über die Adoption befindet. Jede Woche einmal müssen sie dort vorsprechen. Dorett Pohl betreut die Familie auch in juristischen Fragen. In den nächsten Wochen werden sich Psychologen und Sozialarbeiter vergewissern, ob die Deutschen mit Elisa zurechtkommen. Das ist wie eine Prüfung. Bereits in Deutschland wurde die finanzielle, gesundheitliche und häusliche Situation der Eltern genauestens unter die Lupe genommen. Elisa Vorgeschichte wird auf dem Gericht wieder aufgerollt. Für sie ist es sehr schwer im Moment. »Sie ist nervös und irritiert von allem. Vier mal wurde sie von Erwachsenen zurückgegeben. Sie ist sich unsicher, ob sie jemals wieder großen Menschen glauben kann«, berichtet Dorett Pohl. Besonders chlimm war es für Elisa, als sie von einem brasilianischen Ehepaar, das sich trennte, nach längerer Zeit der Eingewöhnung wieder zurückgegeben wurde. »Dies hat wohl die größte Wunde verursacht«, glaubt Dorett Pohl. »Über diese schreckliche Erfahrung ist sie bis heute noch nicht hinweg. Und auf Grund dessen sind auch die darauf folgenden Versuche der Adoption missglückt.« Für Elisa ist es schwer, an eine Zukunft zu glauben. »Und in ein unbekanntes Land zu gehen, von dem man hört, dass es da Schnee gibt und alles ganz toll ist, das muss ein Kind in diesem Alter schon richtig mit Köpfchen akzeptieren und wirklich annehmen. Deshalb ist es gut, dass man 30 Tage zusammenlebt und alle Parteien sich sicher sind, wenn das Ja-Wort kommt.«
Rüdiger Mardus schreibt Tagebuch für Thais und Elisa. Das heutige Ereignis hält er fest: Elisa schlief das erste Mal nach dem Mittag. »Das war ungewöhnlich. Anschließend kam sie das erste Mal zu mir und setzte sich mit in die Hängematte. Dann packte sie hier einen kleinen Koffer, wenn auch nur mit einem Kissen. Sie zog los mit dem Köfferchen, schaute am Kofferanhänger, was darauf steht und stellte fest, daß ihr Name nirgendwo zu lesen war, nur unser Familienname. Sie bat mich, auch ihren Namen mit raufzuschreiben. Ankunft in Berlin-Tegel. Elisa sitzt auf dem Gepäckwagen, im Arm hält sie Teddy und strahlt. Die Eltern sind erleichtert. Nach den Strapazen der letzen Wochen geht es jetzt endlich nach hause, in ein Einfamilienhaus in Lichtenrade. Dort angekommen, zeigt Thais Elisa gleich die Kinderzimmer, ihres und das schon eingerichte Zimmer für Elisa. Elisa rennt nun von einem Zimmer ins andere, ist völlig aufgedreht, bestaunt die Bücher, das Puppenhaus, den Einkaufsladen. Ohne ihren Anorack auszuziehen, beginnt sie zu spielen. »Mio«, sagt sie und zeigt stolz mit dem Finger auf sich. »Das gehört mir!« Erst später lässt sie sich durch das Wohnhaus führen und ist überrascht von dem schönen Heim.
Schnell zieht der Alltag ein. Thais geht wieder zur Schule, Rüdiger Mardus jeden Tag zum Dienst. Petra Schleicher hat sich vom Schuldienst für die nächsten Wochen abgemeldet. Den unbezahlten Urlaub nutzt sie, um Elisa das Eingewöhnen zu Hause zu erleichtern. Eine Veränderung ihres Wesens stellt die Adoptivmutter fest. Sie erinnert sich, wie ruppig sie anfangs war und vieles kaputt machte. Während Pera Schleicher in der Küche Eierkuchen bäckt, spielt Elisa mit Teddy »Mutter und Kind«, liebevoll und zärtlich füttert und windelt sie ihn. »Also, ich sehe ganz deutlich, dass sich Elisa wohl fühlt bei uns. Das, was wir ihr geben, das gibt sie an den Teddy weiter.«
Nach der Mittagsruhe legt Petra Schleicher Elisa eine CD im Wohnzimmer auf. Elisa lacht, fröhlich und ausgelassen tanzt sie nach brasilianischen Rhythmen. Demnächst wird sie in eine Waldorf-Vorschule gehen und bald eine richtige Erstklässlerin sein. Wird sich Elisa auf dem fremden Kontinent richtig eingewöhnen? Eine Familie ist das eine, aber die Nachbarn, Freunde, die Stadt, das Klima, die Mentalität gehören auch zum Leben. Auslandsadoptionen sind umstritten. Ihre kulturellen Wurzeln können Petra Schleicher und Rüdiger Mardus den Töchtern nicht ersetzen. Aber sie können ihnen helfen, die tiefen Ängste vor dem Verlassenwerden zu überwinden. »Die Alternative, die sie haben, wenn wir sie nicht mitgenommen hätten, wäre ein Heim. Dort bekommen alle Kinder zwar zu essen und werden versorgt, aber sie könnten keine enge Bindung eingehen.«
Das Gefühl, Vater und Mutter zu haben,...
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