Aktenzeichen S 8 AS 5659/06 ungelöst

Das Sozialgericht Berlin kann die Flut von Klagen zu Hartz IV kaum mehr bewältigen

  • Simone Schmollack
  • Lesedauer: ca. 6.0 Min.
Der Tag beginnt hier Punkt null Uhr. Dann klappt der Datumsstempel automatisch um. Wer seinen Briefumschlag nach Mitternacht in den Postkasten an der eisernen Tür wirft, bekommt den Vermerk der frühen Stunde. Und später ein Aktenzeichen, zum Beispiel S 8 AS 5659/06. S 8 steht für Sozialgericht, 8. Kammer, AS bedeutet Grundsicherung für Arbeitsuchende, Hartz IV. 06 bezeichnet das Jahr. Der Fall S 8 AS 5659/06 liegt noch vom letzten Sommer hier.
Nicht selten sitzt Hans-Christian Helbig so lange am Schreibtisch in seinem Büro, bis der Datumsstempel umklappt. Er ist Richter am Sozialgericht Berlin, dem größten in Deutschland. Ein kantiger Bau mit schmalen, verwinkelten Gängen, schräg gegenüber vom neuen Hauptbahnhof. Wenn es regnet, ist die Luft im Gebäude sehr feucht.
Helbig hat 79 Kolleginnen und Kollegen, mehr als anderen Gerichten dieser Art zugestanden wird. Die Richter haben alle Hände voll zu tun. Die Floskel »Überstunden abbummeln« gehört eher nicht zu ihrem Sprachgebrauch. »Natürlich könnten wir das tun«, sagt Helbig, »aber dann blieben noch mehr Fälle liegen.« Auch so wachsen unaufhörlich die Aktenberge, vor allem die mit dem Signet AS. Im vergangenen Jahr hatten 11 892 Personen beim Berliner Sozialgericht wegen Hartz IV geklagt, das ist fast jeder zweite Fall. 8 768 Verfahren wurden 2006 abgeschlossen.

Manchmal geht es um 7,50 Euro
Es scheint, als sei das Sozialgericht Berlin ausschließlich mit Hartz IV befasst, manchmal kommt es den Richtern selbst so vor. Aber da sind auch noch Klagen gegen Rentenbescheide, gegen Entscheidungen von Krankenkassen und Leistungen der Pflegeversicherung. Seit aber im Januar 2005 das Gesetz über das Arbeitslosengeld II in Kraft trat, bringt das Postauto vor allem Hartz IV-Briefe. Die Zahl der Hartz IV-Richter wurde seitdem vervierfacht, knapp drei Viertel der Sozialrichter verhandeln vorrangig das Arbeitslosengeld II. Trotzdem wurde jede dritte Klage mit ins neue Jahr geschleppt.
Wenn Helbig sich um einen Fall kümmert, tut er das nicht ausschließlich im Gerichtssaal. Lediglich einmal in der Woche streift er sich die schwarze Richterrobe über und tritt Klägern und Beklagten gegenüber. Das Verhandlungszimmer ist ein kleiner Raum mit Auslegware, Sprelacart-Tischen und einfachen Polsterstühlen. Nichts atmet die ehrwürdige Atmosphäre großer Säle mit hohen Decken, blank gesessenen Holzbänken und dem räumlichen Abstand zwischen Hohem Gericht und den Verhandlungspartnern. »Das Gericht will sich nicht abheben«, sagte Pressesprecher Michael Kanert. Im Hauptjob ist er, wie er betont, Richter und erst dann Ansprechpartner für die Medien. Von denen bekommt er täglich mehrere Anfragen zur Arbeitsmarktreform und ihren Auswirkungen. »Deshalb mache ich bewusst kein Hartz IV«, sagt er.
Hans-Christian Helbig macht Hartz IV. Manche Akten kann er nach zwei Stunden für immer schließen, andere schleppt er in Gedanken lange mit sich herum. Dann beschäftigen sie ihn noch nachts im Bett, manchmal auch im Urlaub. Es gibt Akten mit 400 Seiten. Das sind Extremfälle. Der dickste Ordner steht im Archiv, er zählt über 1000 Seiten. Die Stellungnahme des Sozialgerichts macht gerade Mal zwölf Seiten aus.
Richter Helbig, 42, Norwegerpullover, runde Studentenbrille, klopft auf einen Stapel grüner Hefter auf seinem Schreibtisch. »Das hier ist Papier. Aber hinter jeder Seite steckt ein Mensch. Jeder Fall repräsentiert ein Schicksal.« Helbig ist kein Gutmensch, sonst könnte er nicht Richter sein. Seit 1998 arbeitet er am Sozialgericht. Er muss genau abwägen zwischen Recht und Unrecht. Manchmal gibt er beiden Seiten gleichzeitig Recht und gleichzeitig Unrecht. Das nennt sich dann Vergleich. Zum Beispiel im Streit Peter Ziemer* gegen das Jobcenter Neukölln.
Das Jobcenter hatte dem Arbeitslosen das ALG II gekürzt, weil er eine so genannte Maßnahme ohne Begründung abgebrochen hatte. Ziemer bezahlte seine Stromrechnungen nicht mehr, er häufte 185 Euro Schulden an. Der Energieanbieter drohte damit, den Strom abzudrehen. Ziemer wandte sich um Hilfe ans Jobcenter, das verweigerte sich. Er schrieb einen Brief ans Sozialgericht, er verklagte das Jobcenter auf Zahlung der Energiekosten. Helbig bekam den Fall auf den Tisch.
Der Hartz IV-Richter hätte nun sagen können, Peter Ziemer sei selbst schuld an seiner Misere. Das hat er aber nicht getan. Er hat einen halben Tag lang telefoniert, gemailt, gefaxt. Mit Ziemer, dem Jobcenter, dem Energieanbieter. Am Ende waren alle zufrieden. Helbig hat das Jobcenter dazu gebracht, die Rückstände vorerst zu begleichen, damit die Energiefirma zu ihrem Geld kommt und Ziemer nicht ohne Strom dasitzt. Aber der Richter hat dem Kläger Ziemer auch klar gemacht, dass er seine Schulden ans Jobcenter zurückzahlen muss.
185 Euro, das ist eine gewöhnliche Verhandlungssumme. Manch- mal geht es auch nur um 7,50 Euro, ein anderes Mal um 4000 Euro. Drei Viertel aller Prozesse enden im Einvernehmen. Für die Betroffenen ist das kostenlos.
Nicht selten passiert es, dass Jobcenter Bescheide verschicken, die die Empfänger erstarren lassen. Häufig sind das Drohungen, den Hartz IV-Satz um 30 Prozent zu kürzen. Das kennen Helbig und seine Kollegen schon. Und sie wissen: Hier wurde mal wieder ein Papier versandt, in das lediglich die persönlichen Daten des Arbeitslosen getippt wurden. Der Rest des Schreibens wurde nicht angepasst. Im Amtsdeutsch heißt das: Bestimmte Textbausteine wurden nicht entfernt. Der Grund: Überlastung der Jobcenter.
Heidi Schneider* ist so ein Fall. Sie hat aus einem Untermietvertrag einen Hauptmietvertrag gemacht und muss nun etwas mehr dafür zahlen. Das hat sie dem Jobcenter gemeldet; dieses kommt schließlich für die Kosten auf. Die Agentur aber hat die ordnungsgemäß angegebene Meldung nicht zur Kenntnis genommen - wegen Überlastung. Erst nach drei Monaten fiel das Ganze einem Sachbearbeiter auf, der hat Heidi Schneider sogleich das übliche Schreiben ins Haus geschickt: »Hiermit teilen wir Ihnen mit, dass Sie ihre Mitwirkungspflicht nicht erfüllt haben und wir deshalb Ihre Regelleistung um 30 Prozent kürzen.« Die Frau wusste nicht, wie ihr geschah, und setzte eine Klage auf.
Gerechtigkeit ist nicht teilbar, heißt es gemeinhin. Ein Sozialrichter aber kommt am Teilen nicht vorbei. Jeder Jurist lernt es während des Studiums: Zwei Männer streiten sich um eine Orange, beide wollen sie haben, erzählt Helbig. Man könnte sagen: Jeder bekommt eine Hälfte. Das wäre gerecht geteilt. Aber die Männer würden keinen Frieden geben, weil sie nicht zufrieden sind. Denn der eine braucht nur die Schale für einen Kuchen, der andere den Saft für ein Getränk. Ein kluger Richter entscheidet: Dem einen das Äußere, dem anderen das Innere. Das ist zwar nicht mehr gerecht geteilt, aber der Rechtsfrieden ist hergestellt. »Das ist das Wichtigste«, sagt Hans-Christian Helbig.

Regelsatz ohne Mietzuschuss
Wie im Fall Ansgar Roth* Der 23-Jährige ist seit langer Zeit arbeitslos, er wohnt noch bei seinen Eltern. Die haben auch nicht viel und können den Sohn nicht unterstützen. Trotzdem wurde sein Antrag auf ALG II abgelehnt. Der junge Mann hat geklagt und Helbig hat entschieden: Ansgar Roth bekommt keine Mietzuschüsse, dafür aber den Regelsatz für Essen und Kleidung.
Manchmal aber versteht Helbig die Welt nicht mehr. Einmal hat er einige Stunden lang mit einem Kläger gesprochen, um dahinter zu kommen, was der wirklich will. Zunächst klang es eindeutig: Heinz Walter* wollte für knapp 400 Euro eine Gleitsichtbrille haben, das Jobcenter sollte sie bezahlen. Die brauche er, begründete der 56-Jährige, für seinen Beruf als Systemoperator.
»Wenn Sie Arbeit haben, warum beziehen Sie dann ALG II?« fragte der Jurist.
»Ich habe gar keine Arbeit«, antwortete Heinz W. Er ist seit Jahren arbeitslos.
»Dann haben Sie Aussicht auf einen Job?«
»Nein.«
»Bewerben Sie sich?«
»Auch nicht.«
»Wozu brauchen Sie dann eine Gleitsichtbrille?«
»Weil ich seit 15 Jahren ständig zwei Brillen wechseln muss. Das nervt.«
Die Klage wurde abgewiesen.
<...

Wenn Sie ein Abo haben, loggen Sie sich ein:

Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.

Bitte aktivieren Sie Cookies, um sich einloggen zu können.