Slawische Emotionalität und unannehmbare Vergleiche

  • Dmitri Babitsch, Moskau
  • Lesedauer: ca. 4.5 Min.
Von einem polnischen Freund und Kollegen habe ich einmal gehört, was sich bei mir eingeprägt hat: »Wenn jemand den Zorn der Polen ignoriert, beleidigt er uns mehr als der schlimmste Schmäher.« Heutige Spannungen in den polnisch-russischen Beziehungen gehen nicht zuletzt auf mangelnde Aufmerksamkeit zurück, die Moskau den Beziehungen mit Warschau geschenkt hat. Seit vielen Jahren wollten die Russen die Unzufriedenheit nicht wahrnehmen, die sich in Bezug auf uns jenseits des Grenzflusses Bug angestaut hat. Bis heute ist es für viele meiner Landsleute ein Aha-Erlebnis, wenn ich ihnen mitteile, dass es zwischen unserem Land und Polen hin und wieder Probleme gibt. In letzter Zeit werden sich jedoch immer mehr Menschen dessen bewusst. Doch gibt es etwas, was mich nicht besonders erfreut: Sobald meine Gesprächspartner von diesen Spannungen erfahren, führen sie sie auf die slawische Emotionalität zurück. Die Polen würden uns, die Russen, hassen, also ist es gefährlich, dorthin zu reisen. Es kostet mich dann viel Mühe, sie davon zu überzeugen, dass die Polen zivilisierte Menschen sind und dass die kühlen diplomatischen Beziehungen mitnichten zwangsweise zur Feindseligkeit im Alltag führen sollten. Gleichwohl würde ich das Hauptproblem in den polnisch-russischen Beziehungen gerade in der slawischen Emotionalität sehen. Sobald Russen wie auch Polen Äußerungen nicht gerade verantwortungsbewusster Politiker oder marginaler Zeitungen vernehmen, sind sie oft und schnell mit Vorurteilen zur Stelle und werfen einander die schlimmsten Sünden vor. Ernsthafte Aussöhnungsarbeit, die Ende der 80er Jahre eingeleitet worden war, wurde später aufgegeben, weil sie keine schnellen politischen Erfolge brachte. Während seines Polen-Besuchs 1987 hatte Michail Gorbatschow Probleme in den historischen Beziehungen zwischen beiden Staaten eingeräumt. In den Jahren 1988 und 1989 wurde die Tragödie von Katyn offengelegt und untersucht. 1990 und 1991 wurden auch die traurigen Orte im Gebiet Twer bekannt, wo ebenfalls polnische Soldaten erschossen worden waren. All diese Schritte wurden auf Initiative der gorbatschowschen Staatsführung und ohne äußeren Druck unternommen. Es fiel Moskau nicht leicht, die Schuld zuzugeben, vor allem deshalb, weil die Nazis nach dem Überfall auf die Sowjetunion Katyn als erste aufgedeckt hatten. Sie hatten die Tragödie für propagandistische Zwecke missbraucht. Dennoch entschloss sich Gorbatschow zur Reue, weil in Russland ein Konsens darüber bestand, dass Verbrechen des Stalin-Regimes zugegeben werden müssen. Es sei daran erinnert, dass viele einfache russische Menschen mit Polen während des dortigen Kriegszustandes starkes Mitgefühl empfanden. Und die in Polen 1989 eingeleitete antikommunistische Reform fiel zeitlich mit den letzten Zuckungen des Kommunismus in Russland zusammen, was eine neue Welle von Sympathie und Begeisterung für die Polen auslöste. Aber schon damals traten zwei Klischees der in Polen verbreiteten Geschichtsauffassung des 20. Jahrhunderts an den Tag, die für die Russen unannehmbar sind. Das sowjetische und das Nazi-Regime wurden genauso gleichgesetzt wie man das russische Volk mit dem bolschewistischen Regime und dessen Verbrechen gleichsetzte. Die Verdrehungen sind schon deshalb ungerecht, weil die Bolschewiki in Russland nicht als Wahlsieger, sondern infolge eines blutigen Bürgerkriegs an die Macht gekommen waren. Russland fühlte sich von diesen beiden Stereotypen dermaßen verletzt, dass viele Menschen sich dazu bewogen fühlten, diese Beleidigung mit derselben slawischen Emotionalität zu quittieren. So wurde versucht, die Erschießungen von Katyn für eine Nazi-Erfindung zu erklären, Stalin eine weiße Weste anzuziehen usw. Daraufhin fühlte sich die polnische Seite abermals beleidigt und bildete sich entgegen den Erfahrungen der Jahre 1988 bis 1990 ein, Entschuldigungen und Zugeständnisse von Russland mittels Drucks von außen, mit Hilfe der Europäischen Union und der NATO, erzwingen zu können. Fehlanzeige: Echte Reue entspringt nur einem inneren Bedürfnis. Damit solche Reue ihrer Bedeutung auch gerecht wird, müssen jene, die Leid erfahren haben, aber auch bereit sein, die Reue anzunehmen, und dürfen sie nicht zur Erniedrigung des Bereuenden missbrauchen. Professor Karl Kaiser formulierte das in einem Artikel in der Zeitschrift »Russia in Global Affairs« so: Die Wiedergutmachung ist ein zweiseitiger Prozess, der eine gewisse moralische Höhe auf der Seite voraussetzt, die die Entschuldigungen empfangen soll. Bedauerlicherweise sind wir, Russen wie Polen, weiterhin bemüht, einander zu verletzen, statt unsere Aufmerksamkeit auf die Verwandtschaft unserer Sprachen, unserer Kulturen und unserer Geschichte, ja sogar unserer Wirtschaften zu lenken. Auf beiden Seiten erhitzen sich die Gemüter bei Auseinandersetzungen darüber, welche Nation eine höhere Kultur besitze, wer demokratischer und religionstoleranter sei, wer schließlich Europa näher stehe. Solche Streitereien sind fruchtlos, wie übrigens auch beliebige Streitereien zwischen zwei Nationen, wer zuerst dieses oder jenes Territorium besiedelt oder im 13. Jahrhundert diese oder jene Schlacht gewonnen hat. Viel nützlicher wäre es, Gemeinsamkeiten hervorzuheben. Die polnische Stadt Wroclaw bewirbt sich um die Austragung der EXPO 2012 und veranstaltet aus diesem Anlass ein hervorragendes Theaterfestival, an dem auch russische Schauspielgruppen teilnehmen. Beim letzten Festival, das im polnischen Theater »Ad Spectatores« stattfand, zeigte das beliebte »Theater.doc« aus Moskau ein Stück, das ein Interview mit einem russischen Arzt zur Grundlage hatte und die grauenhafte Sitten eines Provinzkrankenhauses zeigte. Ich fragte den Chefregisseur von »Ad Spectatores«, Krzysztof Kopka, ob die polnischen Zuschauer den Sinn des Stücks überhaupt verstanden hätten. Seine Antwort: »Den versteht jeder Mensch, der das polnische Gesundheitssystem kennt.« Das ist auch die Antwort auf die Frage, wer von uns Europa näher ist: Derjenige, der vor einem russischen oder polnischen Gesprächspartner weniger mit seinem »europäischen Wesen« prahlt und stattde...

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