Der Fehler im System

»Mala Zementbaum« am Berliner Gorki-Theater

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.
Gibt es eine Verbindung zwischen Kleists »Prinz Friedrich von Homburg« und jenem Stück, das Armin Petras mit Thomas Lawinky schrieb, »Mala Zementbaum«? Ja, in beiden prallt der Traum des einzelnen unsanft (für beide) auf die Gesellschaft. Der Traum gerät auf Abwege. Zufällig oder notwendig? Darüber denkt Gorki-Intendant Petras in seinem zum Traum-Projekt gehörenden Parallelstück »Prinz Friedrich von Homburg« nach. Aber das Nachdenken hört mit Kleist nicht auf, die Frage, wie sich autoritäre Strukturen fortzeugen, kehrt immer wieder. Thomas Lawinky riss vor Jahresfrist in einer zu Improvisationen einladenden Inszenierung in Frankfurt (Main) einem einflussreichen Theaterkritiker seinen Spiralblock aus der Hand. Der Kritiker nahm die Einladung zur Improvisation nicht an - Lawinky wurde über Nacht gefeuert. Diesem bösen Buben also gewährt Armin Petras an seinem Haus Obdach. Ihre Biografien ähneln sich, wie alle von denen, die im Osten aufwuchsen und heute um die vierzig sind. Aber sie unterscheiden sich auch. Jeder muss sich in seinem Leben entscheiden, immer wieder. Aber warum entscheidet sich in ein und derselben Situation einer so und ein anderer anders? Und warum macht man manche Dinge immer wieder, andere nur einmal und einige niemals? Lawinky zum Beispiel fasst bestimmt niemals mehr in seinem Leben einen Kritiker an, nicht einmal seinen Spiralblock. Wie man sich selbst behauptet und wie man sich selbst verliert, darum geht es. Um das, was Verrat an anderen ist und an sich selbst. Armin Petras, im Westen geboren, im Osten aufgewachsen, später wieder in den Westen gegangen, schlug während seiner NVA-Zeit ganz hart auf dem Boden des realen Sozialismus auf: Strafkompanie. Lawinky wiederum, auf seine leicht grobmotorische Art auch damals schon alle und jeden provozierend, ließ sich als IM für die Stasi anwerben. Heute findet er schrecklich, was er getan hat. Ist damit nicht alles schon klar? Nein, alles bleibt höchst unklar. Und darin liegt der Reiz von »Mala Zementbaum«. Hier wir die Geschichte von Homer (dem Spitzel) und Kevin (seinem Führungsoffizier) auf so präzise Weise erzählt, dass jede einfache Schuldzuweisung unmöglich scheint. Der Täter ist auch Opfer - und umgekehrt. Entschuldigt das was? Nein, gar nichts, aber es macht zögerlicher mit Beschuldigungen. Die Frage stellt sich, wie ich in einer ganz konkreten Situation, unter massivem Druck, gehandelt hätte. Wer sich da seiner zu sicher ist, der weiß nur noch nicht, mit welch perfiden Mitteln die Macht zum Ziel zu kommen versucht. Jede Macht. Sind das alles noch alte Geschichten oder schon zukünftige? Wenn bald (oder schon jetzt) staatlich gesteuerte Virenprogramme unsere Computerdateien durchsuchen, beliebig kopieren und als Druckmittel einsetzen werden, starren wir dann immer noch wie gebannt auf alte Stasi-Akten? Vermutlich. Es hat so etwas ungeheuer Beruhigendes, wenn man in der Vergangenheit für Freiheit und Demokratie streitet - und die für heute ganz fraglos voraussetzt. Die Tabus wandern, aber sie enden niemals. Die Bühne im Gorki-Theater wandert auch. Sie befindet sich bei »Mala Zementbaum« mitten im Zuschauerraum. Denn auf der Bühne sitzt bereits ein Teil der Zuschauer. Ein Boxring für zwei Kontrahenten. Die sich in ihren Angriffen auf den anderen als banal und spießig offenbaren, trotz all ihrer zerquälten Selbstbeschwörungen. Die Lyrik der Decknamen von geheimen Behörden ähnelt dem Alpenglühen überm Sofa. Homer gegen Kevin! Ersterer: Gunnar Teuber mit Gespür für das Nichtvergangene am Vergangenen. Dagegen Thomas Lawinky, der ehemalige IM als Führungsoffizier: ein in seiner brutalen Grobheit tief Verunsicherter. Die Magie der Namen wird zum Spiegel einer irregeleiteten Phantasie. Der mythische Homer gegen den beliebtesten Namen in jener Bevölkerungsgruppe, die man neudeutsch die Unterschicht nennt. Ist das hier vielleicht eine Art therapeutische Gruppenspiel? Gewiss nicht, dafür ist der Blick der beiden zu kalt - und auch von einem Ekel, der sich selbst nicht ausschließen kann. Das Stück begnügt sich nicht mit Nachfragen über die »Parallelwelten«, in denen der IM als Oppositioneller lebte. Was war nun echt, die Opposition oder die wichtigtuerischen Petzberichte, mit denen er sich absicherte? Wir hören Homer, den IM, seinen DDR-Frust herausschreien: »Ich sah etwas anderes als ihr zeigt. Ich spürte Träume, leben konnte ich sie nicht. War doch alles nur Schein.« Was ist real an der Erinnerung, wie wirklich ist die Fiktion unserer Bilder im Kopf? »Geglaubt wird immer die beste Geschichte.« Aber welche ist das? Petras und Lawinky provozieren einen Schaukampf; es wird ein sehr gegenwärtiges Experiment. Der IM und sein Führungsoffizier sind Teilnehmer eines »Modellprojekts zur Erforschung autoritärer Strukturen«. Wie züchte ich den neuen Menschen? Eine alte Frage, die mit immer neuen Möglichkeiten zu erschrecken vermag. Wollt Ihr den perfekten Demokraten in Gestalt eines glücklichen Arbeitslosen? So manipuliert man die Fundamente unserer Autonomiemöglichkeiten. Und vielleicht produziert man so auch nicht Demokraten, sondern schlichte Gefolgsleute, von wem auch immer. Die möglichen Konstellationen wollen die beiden Stückeschreiber durchspielen. Die Bühne für den Streit der Erinnerungen ist von Moritz Müller erdacht: ein heruntergekommenes Hotelzimmer. Zwei Stühle, ein Tisch, ein Waschbecken, durch dessen Ausguss die beiden zwischendurch mal ab- und dann wieder auftauchen. Eine Tür gibt es auch, aber keine Wände - und das gibt einer jeden Tür etwas Unheimliches. Was sich nun in der Regie von Milan Peschel zwischen den Probanden (denn das sind sie zuletzt) abspielt, sprengt jedes lineare Verstehen. Es wird labyrinthisch. Wenn man Hegels Kampf zwischen Herr und Knecht, den er in der »Phänomenologie des Geistes« veranstaltet, anschaubar machen wollte, dann vielleicht so. Der nüchterne Befund: Beide sind ohne einander nicht denkbar, bleiben auf einander angewiesen. Sie konstituieren durch ihren Gegensatz erst das Ich. Da wird es doch interessant: Ich bin mein eigener Verräter. Ich bin der Denunziant meiner eigenen Träume. Bei Hegel besiegt das machtlose, aber aktive Bewusstsein (der Knecht) schließlich den herrschenden Geist (den Herrn) - aber auch das nur eine zeitlang, dann kehrt sich die Beziehung um. All das bewegt sich bei Hegel in den niederen Regionen des »geistigen Tierreichs« - und wir sind nicht solche Idealisten wie Hegel, dass wir glauben können, darüber jemals hinauszukommen. Synthesen? Eher die dauerhafte Schizophrenie zwischen dem, was lebt und dem, was denkt. »Mala Zementbaum« treibt den Kampf zwischen einstigem IM und seinem Führungsoffizier über die surreale Grenze. Es wird absurd, aber das heißt auch: Niemand kann hier mehr seine Ziele erreichen, mit welchen Mitteln auch immer. Die Lage ist außer Kontrolle, aber das ist gut, das sichert einen Rest an Freiheit. Das Absurde allein erweist sich als unbeherrschbar. Die Idee dieses »Experiments« kommt unverstellt brutal daher. Manche Beckett-Anleihen, wie »der Mann« und »die Frau«, wirken allerdings eher ablenkend von dem, was da zwischen Homer und Kevin passiert. Ebenso, wie der unmotiviert wirkende Einschub über die KZ-Fluchtgeschichte von Mala Zementbaum. Zum Schluss drängt sich dem Zuschauer eine Frage auf: Wenn man bereit ist, sich auf diesen aggressiven Abend einzulassen, wird man dann schon Teil des »Experiments«? Eine perfide Konstruktion, in der allein noch die Fehler im System, die Zufälle und Irrtümer dem Humanen einen Spielraum geben.
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