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Suizidenten sind Egoisten!

Die Serie »Tote Mädchen lügen nicht« forscht nach den Gründen für den Suizid einer 17-Jährigen

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 4 Min.

Hannah Baker war eine Egoistin. Ja, ich weiß, mit dieser Feststellung mache ich mir Feinde, denn es wird gemeinhin als herzlos empfunden, ein Mädchen, das sich das Leben genommen hat, als Egoistin zu bezeichnen. Dabei ist die Feststellung nicht als Vorwurf gemeint. Ein Egoist ist jemand, der das eigene Ich in den Mittelpunkt stellt, und ist es nicht erstrebenswert, sich selbst als den Mittelpunkt allen Seins zu erfahren? Hannah Baker ist Egoistin, weil sie eine Entscheidung getroffen hat, durch die sie - zum ersten und letzten Mal in ihrem Leben - im Mittelpunkt steht. Von diesem wurde sie vorher von anderen ausgegrenzt - bzw. hat sich ausgegrenzt gefühlt (für 17-Jährige macht das meist keinen Unterschied).

13 Mal knapp 60 Minuten lang erzählt »Tote Mädchen lügen nicht« von der Qual, die Hannahs Mitschüler, vermeintliche, von ihr sehnlichst erhoffte Freunde, durchleiden müssen, bis sie ihren Anteil an den Motiven akzeptieren, die zum Tod Hannahs führen. Bevor Hannah (Katherine Langford) sich das Leben nimmt, hat sie auf sieben Tonbandkassetten 13 Gründe für ihren Suizid benannt, die von zwölf Personen ausgelöst wurden. Zu Beginn bekommt Clay Jensen (Dylan Minnette), der in sie verliebt war, ein Paket mit diesen Kassetten mit der Aufforderung zugeschickt, sie alle anzuhören und sie danach an den nächsten weiterzuschicken. Wie sich im Lauf der Serie herausstellt, haben andere Mitschüler Hannahs und Clays die Kassetten bereits angehört.

Der Trick mit der Technik der Tonbandkassetten ist ein guter dramaturgischer Einfall - von Jay Asher, der den im Jahr 2007 veröffentlichten Roman »Thirteen Reasons Why« geschrieben hat, von den Autoren der TV-Serie und natürlich von Hannah Baker, die so verhindert, dass ihre Leidensgeschichte digital vervielfältigt und verbreitet werden kann. Auch das eine egoistische Tat: Herr über die eigene Biografie zu bleiben.

Die Geschichte spielt an einer Highschool in den USA. Hannah Baker fühlt sich an der Schule isoliert, gemobbt, gedemütigt. Fühlt sie das nur oder entspricht das der Wahrheit? Die Frage lässt sich selbst nach dem Ende der 13. Folge nur unbefriedigend beantworten, denn das, was Hannah erlebt hat, ist keine Ausnahme - nicht an der »Liberty High« und nicht an vielen anderen Schulen weltweit. Nur die spezifische Methodik unterscheidet sich im Zeitenlauf. Wo früher das üble Gerücht von Mund zu Mund weitergetragen, die Lüge hinter vorgehaltener Hand verbreitet wurde, werden heute Fotos per Instagram und Beleidigungen per WhatsApp über das Smartphone verschickt. Doch die Frage, wer die Täter, wer die Opfer sind, lässt sich nicht immer eindeutig beantworten.

Das ist auch in Hannahs Fall so. Als Clay, der wie Hannah zu den Außenseitern in einer Schule gehört, in der Basketballspieler die angehimmelten Stars und die Cheerleader die beliebtesten Mädchen sind, und allenfalls noch die Ehrgeizigen und Strebsamen im System Gefallen finden, von seiner Mutter, die als Anwältin die Schule im Rechtsstreit mit Hannahs Eltern vertritt, gefragt wird, ob er auch gemobbt wurde, fragt dieser zurück: »Woher willst du wissen, dass ich kein Mobber bin?« - »Wir sind eine Gesellschaft von Stalkern geworden«, sagt Hannah in einer Folge zu Clay. Beide gehören zu einer Generation, die in einer Zeit aufwächst, in der viele vieles im Internet von sich preisgeben - und sich darüber empören, wenn andere dies zu ihrem Vorteil nutzen. »Das Leben ist unvorhersehbar, und Kontrolle ist nur eine Illusion«, erklärt Hannah kurz vor ihrem Suizid dem Vertrauenslehrer ihrer Schule, Kevin Porter (Derek Luke).

Für Pubertierende ist der Gedanke, einmal im Leben im Mittelpunkt zu stehen - und sei es durch einen Suizid - eine reizvolle Vorstellung; nicht von ungefähr warnen daher Ärzte und Psychologen vor der Serie, deren Originaltitel »Thirteen Reasons Why« den Inhalt weitaus eher trifft als der deutsche Serientitel. Die öffentliche Sorge, Jugendliche könnten sich durch die US-Serie in den Suizid treiben lassen, ist nicht neu - schon der junge Johann Wolfgang Goethe war mit dem Vorwurf, sein Roman »Die Leiden des jungen Werther« sei für eine »Selbstmordwelle« verantwortlich, konfrontiert. Ob es den sogenannten Werther-Effekt aber wirklich gegeben hat, ist heute umstritten. Vermutlich galt schon Ende des 18. Jahrhunderts, dass die Kultur nur für etwas verantwortlich gemacht wird, was in Wahrheit soziale Ursachen hat. Hätte Hannah mehr Liebe erfahren, wäre sie noch am Leben, meint Clay am Ende der Serie, als er endlich dem Vertrauenslehrer den Auslöser für Hannahs Suizid offenbart. »Man kann niemand zurück ins Leben lieben«, entgegnet ihm Mr. Porter. Suizidenten sind Egoisten.

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