Kellerloch, Untergrund oder Abseits?

Der Schweizer Slawist Felix Philipp Ingold hat einen Schlüsseltext Dostojewskis neu übersetzt und interpretiert

  • Karlheinz Kasper
  • Lesedauer: 4 Min.

Dostojewskis große Gesellschaftsromane »Schuld und Sühne« (»Verbrechen und Strafe«) und »Die Dämonen« (»Böse Geister«) wurden durch eine Schrift des Autors vorbereitet, die in Deutschland bislang unter verschiedenen Titeln bekannt war, unter anderem als »Aufzeichnungen aus dem Kellerloch« und »Aufzeichnungen aus dem Untergrund«. Beiden Begriffen liegt ein schillerndes russisches Wort zugrunde: podpolje, das erstens Keller oder Untergeschoss und zweitens Untergrund oder Illegalität bedeutet.

Jetzt hat der Schweizer Slawist Felix Philipp Ingold das Werk von 1864 noch einmal übersetzt und »Aufzeichnungen aus dem Abseits« genannt. Wird er mit dem neuen Begriff dem brisanten Text des russischen Schriftstellers, der seinerzeit zum Generalangriff gegen die Fortschrittsgläubigkeit aufrief, gerecht?

Dostojewskis »Aufzeichnungen« sind ein eigenwilliges, sprachlich anspruchsvolles Gedankengebäude. Es besteht aus zwei heterogenen Teilen, einem bissigen Pamphlet und einer überspannten Novelle. Das Pamphlet ist aus der Perspektive der 1860er Jahre verfasst. In Russland war das die Zeit, in der die konservative Intelligenz mit einer Flut antinihilistischer Prosa auf die Darstellung der neuen revolutionär-demokratischen Kräfte reagierte, wie sie Iwan Turgenjew 1861 in dem Roman »Väter und Söhne« (der »Nihilist« Basarow) und Nikolai Tschernyschewski 1863 in dem Roman »Was tun?« (Rachmetow und die »neuen Menschen« mit ihrem »vernünftigen Egoismus«) verkörpert hatten. Ein Vorbote dieser antinihilistischen Prosa waren Dostojewskis »Aufzeichnungen«.

Im ersten Teil charakterisiert der anonyme vierzigjährige Ich-Erzähler sich und die Gesellschaft ambivalent, gibt sich große Mühe, den »Antihelden« hervorzukehren, um im nächsten Augenblick die negative Selbstdarstellung auf zynische Weise zu widerrufen. Er habe das Pech, in Petersburg, der abstraktesten und fiktivsten Stadt des Erdballs, zu leben, sei krank, leide an übersteigertem Bewusstsein, sei ein bösartiger Mensch. Lange Zeit ein grober Bürokrat, sei er nach einer Erbschaft in den Ruhestand getreten, habe sich in seinen »Winkel« zurückgezogen - eine schäbige Wohnung am Stadtrand, die er podpolje nennt. Der gebildete, aber in sich zerrissene Erzähler lästert buchstäblich über alles: das Schöne und Erhabene, die Gesetze der Natur, die Regeln der Arithmetik, den normalen Menschen, der dumm sei und einer Klaviertaste oder einem Drehorgelstift gleiche, den Kristallpalast der Londoner Weltausstellung von 1851 (für Tschernyschewski ein utopisch-sozialistisches Zukunftssymbol), das Leben, in dem alles nach der Logarithmentafel errechnet werde. Der Provokation wegen erwägt er sogar, ob zwei mal zwei nicht auch fünf sein könnte. Die angefügte Novelle, doppelt so lang wie die pamphletistische Einleitung, führt uns um fast zwanzig Jahre bis in die Jugend des Erzählers zurück. Schon mit 24 habe er das Gefühl gehabt, anders zu sein als seine Mitmenschen. Jeder Versuch, Kontakt zu finden, sei gescheitert. Seine früheren Schulkameraden hätten ihn gehasst und herablassend behandelt. Seine Begegnung mit der Prostituierten Lisa habe mit einer seelischen Katastrophe geendet.

Wieder im Heute der 1860er Jahre angekommen, zweifelt der Erzähler am Sinn seiner Aufzeichnungen, fragt sich, warum er »absichtlich sämtliche Charakterzüge eines Antihelden« zusammengeführt habe, wenn das »lebendige Leben« ihn selbst im podpolje einhole.

Das podpolje, von dem der Protagonist sagt, dass er es sogar im Herzen trage, ist im direkten Sinn weder Untergrund noch Kellerloch. Wer den Text genau liest, erfährt, dass der Erzähler in einer abgelegenen Wohnung lebt, die neben seinem Zimmer einen Raum für den Diener Apollon und einen Vorraum aufweist und von der Straße über eine Treppe zu erreichen ist. Podpolje ist also eine Metapher. Ingold hat podpolje (teilweise auch den parallel dazu gebrauchten Terminus ugol, dt.: Winkel) mit »Abseits« übersetzt. Er geht davon aus, dass der Erzähler »kein regimefeindlicher Verschwörer oder Untergrundkämpfer« sei, sondern »ein Einzelgänger, ein Querdenker und Provokateur«, der »nichts mit einer dissidentischen oder kriminellen Szene zu schaffen« habe.

Es ist sein gutes Recht, einen neuen Interpretationsansatz mit einem neuen Übersetzungsbegriff zu untermauern. Um Dostojewskis Position in der antinihilistischen Bewegung genauer zu bestimmen, sind allerdings weitere Überlegungen notwendig, vor allem über seinen Weg von den »Aufzeichnungen« zu dem Roman »Die Dämonen« (1873), in dem er sichtbar macht, wie der nihilistische Rausch der Generation der 1860er Jahre wenig später in eine Philosophie des Terrors umschlägt.

Fjodor Dostojewskij: Aufzeichnungen aus dem Abseits. Aus dem Russischen neu übersetzt und herausgegeben von Felix Philipp Ingold. Dörlemann. 266 S., geb., 18 €.

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