Kleine weiße Friedenstaube

Warum Erika Schirmer drei Leben lebt

  • Christina Matte
  • Lesedauer: ca. 9.0 Min.
Die Erinnerung lässt mich in diesem Punkt im Stich. Aber wahrscheinlich habe ich das Lied zum ersten Mal gesungen, als ich in der ersten, zweiten oder dritten Klasse war. Es ist kein Lied, das man allein singt, man singt es gemeinsam mit anderen, im Chor. Wir mochten das Lied. Eine Taube kann fliegen. Wir schickten sie an unserer statt um die Welt. Sie überbrachte den Menschen unsere Grüße, erzählte von unserem Willen nach Frieden, und alle, die ihr zuhörten, grüßten von Herzen friedlich zurück. So einfach, so schön war das. Damals, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Wie die Taube um die Welt flog, damals, nach dem Zweiten Weltkrieg, flog auch besagtes Lied um die Welt. In zig Sprachen übersetzt, in fast allen Sprachen gesungen, wurde es so etwas wie ein internationales Volkslied, eine weltweite Friedenshymne der Kinder. Wer es schrieb, danach habe ich nie gefragt; es war nicht wichtig. Erst viel später las ich in einer DDR-Zeitung, eine Kindergärtnerin aus Thüringen habe es erdacht. Ihr Name hatte sich mir nicht so eingeprägt, dass ich ihn hätte abrufen können. Aber doch so, dass ich ihn wiedererkannte, als ich dieser Tage erneut auf ihn stieß. Erika Schirmer war zum diesjährigen Neujahrsempfang des Bundespräsidenten eingeladen worden. Als Verfasserin des Liedes »Kleine weiße Friedenstaube«. Und als langjähriges Vorstandsmitglied der Nordhäuser Landsmannschaft Schlesien beim Bund der Vertriebenen. Wie bitte? Nordhausen im Januar 2007. Irgendwie stellt man sich immer vor, ein Künstler müsse so groß wie sein Werk sein. Dabei weiß man, dass das nicht stimmt. Verlaine zum Beispiel war ein Schläger, Fallada ein heilloser Trinker, Günter Grass in der Waffen-SS. Erika Schirmer war nichts von alledem. Sie ist auch keine wirklich große Künstlerin, sondern einfach eine verblüffend gut aussehende Achtzigjährige, die wie eine Achtjährige hüpfen kann, wenn sie sich freut. Und ganz besonders freut sie sich, wenn ihr jemand sagt, dass ihm ihre Kunst gefällt. Und die ist wirklich hinreißend. Sie führt uns in ihr Wohnzimmer. Es ist klein, man könnte es eng nennen, und es erzählt viel über sie. Da sind zum Beispiel die weichen Kissen, die sich auf dem Sofa türmen, und am Boden die flauschigen Teppiche, von denen sie einen, den mit dem Rosenmuster, vor Jahren aus flauschiger Wolle knüpfte: Sie hat es gern warm und behaglich. Die Heizung ist voll aufgedreht: Sie muss nicht auf den Cent achten. Auf der Fensterbank, hinter der Gardine, aufgereiht bunte Kunstblumensträuße - die haben ehemalige Schüler aus der Behindertentagesstätte ihrer ehemaligen Lehrerin geschenkt. Wenn sie wieder einmal vorbeischauen, möchten sie die Gaben geehrt sehen, weshalb Erika Schirmer sie auch aufhebt - sie ist freundlich zu den Menschen. Im Bücherschrank gut sortierte Lektüre: die Brüder Grimm, Joseph von Eichendorff, Lew Tolstoi, Michail Scholochow, Maxim Gorki, Ehm Welk, Erwin Strittmatter, Gisela Steineckert, Christa Wolf - sie besitzt literarische Bildung. An den Wänden viele Bilder: filigrane Scherenschnitte und naive Malereien, daneben weitere kleine Kunstwerke, komponiert aus getrockneten Pflanzen und Blüten: allesamt erschaffen von ihrer Hand, alle bunt, alle heiter, alle fröhlich. Das kleine Zimmer ist überfüllt. Mit einem noch immer erfüllten Leben. Mit einem erfüllten dritten Leben. Ihr erstes begann 1926 im schlesischen Nettkow. Dort wurde sie als Erika Mertke geboren. Ich weiß nicht, wie sehr sie ihrer Erinnerung vertrauen kann: Sie sagt, Kindheit und Jugend seien glücklich gewesen. Eine liebevolle, durchsetzungsfähige Mutter. Ein Vater, der Kunstschmied war und abends vor dem Haus musizierte. Ein Bruder, mit dem sie nachmittags hinunter zur Oder radelte, wo sie den Schiffern der Dampfer und Schleppkähne winkten, die manchmal tuteten, wenn sie vorbeifuhren. Der Krieg scheint, wenn sie davon erzählt, in dieses Leben nicht eingebrochen zu sein. Auch nicht, als er den Vater an die Front und den Bruder zum Bau des Oderdamms zwang. Erst 1945, als sie, mit der Mutter allein, lediglich mit zwei Koffern bepackt, von denen der eine etwas Kleidung, der andere Lebensmittel enthielt, in den Zug stieg, um vor der Front zu fliehen, holte der Krieg sie doch noch ein. Der Zug fuhr über eine Woche. Bis nach Thüringen, ins katholische Eichsfeld. Die Kirche soll für die Menschen dasein; davon merkte sie nichts. Die Flüchtlinge waren nicht willkommen. Die prunkvolle katholische Kirche war zur ersten Friedensweihnacht auf das Prächtigste geschmückt, im unscheinbaren evangelischen Kirchlein versammelten sich die Schlesier. Eine Arbeit als Kindergärtnerin würde sie hier nie bekommen, den hiesigen Nachwuchs zu hüten, war Vorrecht der katholischen Schwestern. Sie machte sich auf nach Nordhausen. In eine Stadt, die fast völlig zerstört war. US-amerikanische Bomber hatten sie in Schutt und Asche gelegt, weil sie in der Nachbarschaft des Konzentrationslagers Mittelbau-Dorau lag, in das schon 1943 die Produktion der V2 verlegt worden war. Was für ein Neubeginn. Und doch der Beginn ihres zweiten Lebens. Im Frühjahr 1949 sitzt Erika Mertke in ihrem möblierten Nordhäuser Zimmer - ein Bett, ein Schrank und ein Waschtisch stehen darin - und macht sich mehr um den Frieden verdient als manche Regierung: Sie ersinnt Text und Melodie für das Lied »Kleine weiße Friedenstaube«. Da ist sie 23 Jahre alt. Inspiriert wird sie von der Friedenstaube, die Pablo Picasso soeben als Plakat zur Weltfriedenskonferenz in Paris vorgestellt hat. Ihr Wunsch nach Frieden ist tief und stark. So ist das nach dem Zweiten Weltkrieg - ohne ihn wäre sie nicht vertrieben worden: Das hat sie begriffen. Zu diesem Zeitpunkt hat Erika Mertke schon mehrere kleine Kinderlieder komponiert und die Texte dazu geschrieben. Auch dieses schreibt sie wieder für ihre Schützlinge im Kindergarten Nordhausen-Salza, den sie ein Jahr zuvor übernommen hat. Zu ihr, der nunmehr examinierten Kindergärtnerin, werden Schülerinnen geschickt; sie hören das Lied und nehmen es mit. Die Zeitschrift »Die Kindergärtnerin« fordert die Leserinnen auf, Kinderlieder einzusenden (es gibt nur noch wenige Lieder ohne nationalsozialistische Prägung), sie schickt ihre »Friedenstaube« hin und bekommt dafür acht Mark, für die sie überaus dankbar ist. Sie merkt gar nicht, wie ihr das Lied davonfliegt, wie es bekannt wird im ganzen Land. Kaum einer weiß, dass es ihr Lied ist. Einmal, zur Eröffnung einer Kreislehrerkonferenz, fordert der Kreisschulrat alle Anwesenden auf, sich zu erheben und das Lied von der Friedenstaube zu singen. Als sie davon hört, ist sie stolz. Ganz im Stillen. Im Kindergarten hatte sie den Lehrerstudenten Joachim Schirmer kennengelernt. Er wurde ihr Ehemann. Auch sie studierte nun Pädagogik, wurde Lehrerin für Deutsch und Kunsterziehung. Ihre Tochter Bärbel kam zur Welt. 1972 trug man ihr an, die Leitung einer Tagesstätte für geistig und körperlich behinderte Kinder in Nordhausen zu übernehmen. Man warnte sie, dass es schwer werden würde. Sie sagte trotzdem zu, baute die Tagessstätte auf, entwickelte spezielle Lehrmittel, und 1978 verfasste sie gemeinsam mit ihrem Mann das Buch »Arbeitsmittel für schulbildungsunfähige förderungsfähige Kinder« - damals das einzige Lehrbuch in der DDR für Pädagogen, die mit solchen Kindern arbeiteten. Es wurden unspektakuläre, arbeitsame, erfolgreiche, befriedigende Jahre. Längst war Nordhausen ihr zur Heimat geworden. Erika Schirmer-Mertke war in keiner Partei, nie erhielt sie eine Auszeichnung. Warum eigentlich nicht? Manchmal besuchte sie ihren Bruder, der mit seiner Familie im Grenzgebiet wohnte, und dort hörte sie nachts die Schüsse. Dass »Deutsche auf Deutsche schossen«, hatte mit Frieden, wie sie ihn ersehnte, wenig zu tun. Dass es das »Gleichgewicht der Kräfte« war, welches Europa die längste Friedensperiode des 20. Jahrhunderts bescherte, sah sie nicht. Sie war wohl niemand, den die DDR aufs Schild gehoben hätte. Als dieser Staat zusammenbrach, war sie »froh, dass die Sache zu Ende ging«. Erika Schirmer ist ein drittes Leben vergönnt. Das hat seinen Preis. Dabei geht es ihr nur wie vielen Menschen. »Je älter ich werde, um so mehr tauchen vor mir Bilder aus meinen Kindertagen auf«, schreibt sie in einer der Geschichten, in denen sie sich an ihre alte, ihre schlesische »Heemat« erinnert. Einmal ist sie noch dort gewesen, sie war enttäuscht: So klein und unbedeutend sah alles aus, was in ihrer Erinnerung groß und schön war. Aber nun wird in Nordhausen beim Bund der Vertriebenen die Landsmannschaft Schlesien gegründet. Sie tritt bei, arbeitet seit 1994 sogar im Vorstand. »Die friedliche Revolution in Deutschland hat es den Vertriebenen ermöglicht, sich auch in Mitteldeutschland offen und selbstbewusst zu ihrer Heimat und zu ihrem reichen ostdeutschen Kulturerbe zu bekennen«, schreibt der damalige Landesvorsitzende des BdV, Dr. Paul Latussek, im Vorwort zur ersten Ausgabe des Heftchens »... und die Oder fließt noch immer«. Es ist ihr Heftchen. Als ihr Ehemann Joachim stirbt, rettet sie sich ganz in die Kindheit. »Sein Tod war schmerzhafter als die Vertreibung«, sagt sie, »damals war ich jung.« Ihre Enkelin Constanze kann nicht genug von den alten Geschichten hören. Davon, wie ihre Großmutter als Kind auf der Plantage Himbeeren erntete. Wie sie von den Roggenrispen Junikäfer sammelte, um damit Großvaters Hühner zu füttern. Vom Dorftanz und vom Viehmarkt »under de Eechen«. Vom Kartoffellesen im Herbst, wenn die ersten Nebelschwaden aus den Oderwiesen über die Felder krochen, und von den großen Kartoffelfeuern, aus denen sie Brandkartoffeln klaubten. Constanze sagt dann: »Oma, du hattest es gut.« Das stimmt Erika Schirmer nachdenklich. Sie denkt nicht darüber nach, ob sie wirklich so eine schöne Kindheit hatte, sondern darüber, ob die Kindheit der Enkelin etwa weniger schön als die ihre war. War Erika Schirmers Kindheit schön? Jede Kindheit sollte schön sein; ihre war es bestimmt. Allerdings brechen ihre Erinnerungen, jedenfalls die, die sie zu Papier bringt, mit dem Ende der Kindheit ab. Sie war neunzehn, als sie mit der Mutter in den Zug stieg. Neunzehn Jahre lang hat sie in Schlesien, also in Deutschland gelebt, die letzten zwölf davon im »Dritten Reich«. Das scheint ihre Erinnerung nicht zu trüben, sie hat es gleichsam ausgeblendet. Ihr Naturell ist hell, heiter und fröhlich. »Wir wollen nicht zurück«, beteuert sie, »dort leben jetzt andere Menschen, sie haben dort Wurzeln geschlagen. Mit denen, die zurückwollen, haben wir nichts zu tun. In Nordhausen sind wir nur alte Leute, die eine gemeinsame Herkunft haben. Wir besuchen die Gartenausstellung, das Heimatmuseum, das Theater, demnächst wollen wir uns in Leipzig den großen neuen Bahnhof ansehen. Das Geld gibt der "Bund der Vertriebenen"«. Ach, du Mutter der Friedenstaube. »Denn die Oder fließt noch immer..., als schlesischer Fluß.« Auch das hat Dr. Paul Latussek den Lesern zum Geleit in ihr Heftchen geschrieben. Und der ist bei Gott kein Friedenstäubchen: Latussek, der unter anderem die Ermordung der Juden in Auschwitz verharmloste, wurde 2005 vom Landgericht Erfurt wegen Volksverhetzung verurteilt, der Bundesgerichtshof bestätigte das Urteil. Dies war selbst dem BdV zu viel, Latussek musste den Hut nehmen. Gut, dass es ihr Lied nicht beschädigt: Es gehört ja längst der Welt, und die hat es wieder nötig. Nein, den großen weltumspannenden Blick, den hat Erika Schirmer nicht. Dafür den Blick für die kleinen Details, die es in der Natur zu entdecken gibt, die Gabe, diese zu beschreiben, das Händchen, sie kunstvoll nachzugestalten. Zwei Mal wurde Erika Schirmer mit dem Kunstpreis des Thüringer BdV ausgezeichnet. Sie hat sich darüber gefreut. Und gerade hat sie wieder eine Ausstellung im Nordhäuser Museum »Flohburg«. Sie heißt »Schwarzes Papier und bunte Blüten - Fantasie ohne Grenzen«. Den Besuchern gefällt, was sie sehen, und die regionalen ...

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