Flucht ist nicht nur eine humanitäre Krise

Eva Bulling-Schröter über den Zusammenhang von Umweltzerstörung und Flucht in Zeiten des industriellen Kapitalismus

  • Lesedauer: 4 Min.

Zu Fragen jeder Lebenslage, besonders zu globalen, lohnt sich der Blick über den eigenen Tellerrand. In Bolivien treffen sich am heutigen internationalen Weltflüchtlingstag der Vereinten Nationen über 2500 Menschen aus allen Teilen dieser Erde. In der idyllischen Tal-Ortschaft Tiquipaya, zwischen Bäumen und steinigen Hängen, nahe der Millionenstadt Cochabamba, wo Anfang des Jahrtausends beim »Wasserkrieg« ein wochenlanger Volksaufstand aufgefahrenen Panzern und Scharfschützen trotzte. Und die neoliberale Privatisierung der Wasserversorgung zugunsten großer Wassermultis zurückgedreht werden konnte.

In Tiquipaya debattieren Basisaktivistinnen neben Gewerkschaftern, Landlose neben Ex-Staatschefs. Auf Einladung der Linksregierung »Bewegung zum Sozialismus«, die sich nicht nur die dringliche Umverteilung von Reichtum für alle 36 Volksgruppen auf die schwarz-blau-weiße Parteifahne geschrieben hat, sondern auch die Bewahrung der Mutter Erde in der Verfassung verankert hat. Nun gelingt ersteres der Linksregierung im einstigen Armenhaus Südamerikas, dessen Wirtschaftskraft als Kolonialerbe zum Großteil weiter auf der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen fußt, sehr gut. Die Schere zwischen Arm und Reich ist extrem zurückgegangen. Millionen haben heute genug zu essen, können ins Krankenhaus gehen, ihre Kinder zu Schule schicken, in Würde arbeiten dank stetig steigender Mindestlöhne.

Das zu verteilende Brot aber wird immer noch zu sehr auf Kosten der Natur (Bergbau, Gas-Förderung, Soja-Monokultur, Abholzung) gebacken. Doch haben die vergangenen zehn Jahre viel zur Bildung eines linken Bewusstseins beigetragen. Dieses Denken bleibt unschätzbar wertvoll in Zeiten des ungebrochenen turbokapitalistischen Freihandelsdurchmarschs. »Es darf keine illegalen Menschen geben, wir alle haben das Recht, uns frei überall auf der Welt zu bewegen. Es gibt eine Politik der freien Märkte und Globalisierung, aber keine Bewegungsfreiheit für den Menschen«, hören wir aus dem Mund des ersten indigenen Präsidenten seines multiethnischen Landes. Es kommt nicht von ungefähr, dass es ein Staatschef aus den Anden ist, nicht aus Deutschland, nicht aus den Vereinigten Staaten, der vom Regierungspalast aus Systemkritik übt. Das sind Töne des globalen Südens. Und Töne aus einem Teil der Welt, der am meisten von den Folgen menschlicher Umweltverschmutzung getroffen ist. Lateinamerika und die Karibik stehen nur für fünf Prozent der weltweiten CO2-Emissionen. Doch die Menschen zwischen Rio Grande und Feuerland »leiden auf eine unverhältnismäßige Weise«, schreibt die UN-Wirtschaftskommission für die Region in einem jüngsten Bericht über den Klimawandel.

Auch in Brasilien, riesiges Nachbarland Boliviens im Osten, wird gegen die Unterordnung von Natur und Mensch für immer mehr Profite angeredet. Die Katholische Kirche, in vielen Fragen reaktionär bis unter die Sandalenspitze, hat die Zeichen der Zeit zumindest in Migrations- und Umweltfragen erkannt. Es gibt ihn, den Zusammenhang von Umweltzerstörung und Klimawandel auf der einen und Flucht als deren Folge auf der anderen Seite, schlagen die Talarträger des größten Klimasünders auf dem Kontinent Alarm (Platz 2: Mexiko. Platz 3: Argentinien). Erstmals wird bei Veranstaltungen im Rahmen der jährlichen Migrantenwochen auf diese Verknüpfung aufmerksam gemacht.

Jeder klar denkende Mensch muss heute verstehen: Wer die Umwelt zerstört, der zerstört Lebensgrundlagen. Und zerstörte Felder, Wälder und Gewässer bedeuten Druck auf die Menschen, es kommt zu Verteilungskämpfen knapper werdender Güter. Der nackte Kampf ums Überleben war schon ohne Dürren, Ernteausfälle und überschwemmte Dörfer ein harter. Der Anstieg des Meeresspiegels, Gletscherschmelze, Bodenerosion, Überschwemmungen, Dürren und Desertifikation durch den Klimawandel werden viele Orte der Erde auf Dauer unbewohnbar machen oder ganz von der Landkarte löschen. Schätzungen zufolge werden 2050 rund 200 Millionen Menschen gezwungen sein, ihre Heimat als Folge des Klimawandels zu verlassen. Schon heute fliehen am Tschad-See Millionen, ziehen aus dem Mittleren und Nahen Osten tausende jeden Tag in die Städte, weil das Land sie nicht mehr ernähren kann. Das sind keine Horrorszenarien, sondern außerhalb unserer europäischen Mauern bitterer Alltag. Flucht ist nicht nur eine humanitäre Krise, sondern längst ein Phänomen einer voranschreitenden Ökokrise. Wer Kapitalismus kritisiert, muss die Ausbeutung der Natur immer mitdenken.

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