Hurra, ein toter Frosch!

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 3 Min.

Wenn man älter wird, also die 30 überschritten hat oder wie ich schnurstracks auf das doppelte dieser Zahl zusteuert, wird man entweder senil - oder sentimental. Gut, für meine fast erwachsenen Kinder ist beides das Gleiche. Ich rede in letzter Zeit häufig von »früher« und meine damit eine Zeit, die meine beiden Söhne nur aus dem Geschichtsunterricht kennen. Eine Zeit, in der Helmut Kohl als Kanzler die Bundesrepublik Deutschland regierte, Dieter Bohlen noch mit Thomas Anders zusammen war, man sich noch sicher sein konnte, dass der Atomtod unausweichlich kommen wird und es noch keine 30 verschiedenen, mit dem Geschmack exotischer Früchte versehenen Biersorten gab, von denen der Kumpel meines Ältesten jedes Wochenende eine Auswahl in unserem Kühlschrank zwischenlagert. Und es gab in dieser Zeit noch Frösche, die im Frühling plattgewalzt auf dem Asphalt klebten und dort antrockneten, weil sie so dumm waren, zur Paarungszeit die Straße zu überqueren. Beseitigt wurden sie nicht; irgendwann verschmolzen ihre schwärzlichen Überreste in der Sommerhitze mit dem Teer des Asphalts. Sicher, ein paar Freaks hatten es sich damals zur Aufgabe gemacht, diese quakenden Viecher, die es einfach in Millionen von Jahren der Evolution versäumt hatten, sich rechtzeitig an den Fortschritt anzupassen, an Bachufern aufzusammeln und über die Straße zu tragen. Doch ihre jährlichen Erfolgsmeldungen, dass es ihnen wieder einmal gelungen sei, soundso viele Amphibien vor dem Autotod zu retten, wurden von uns Jungs allenfalls belächelt.

Ich weiß nicht, ob es in den 1980er Jahren in Berlin totgefahrene Frösche gab. Ich weiß nur: Heute sieht man keine im Straßenbild der Stadt. Vielleicht haben sich die Viecher angepasst und graben sich jetzt Tunnel unter den Straßen, vielleicht aber werden in den Schulen schon Erstklässler als Froschretter ausgebildet, vielleicht fährt jede Nacht ein Froschmobil der BSR sämtliche Straßen ab und schabt die angepappten Kadaver vom Asphalt - ich weiß es nicht.

Neulich aber muss das BSR-Froschleichenbeseitigungsmobil oder das Fähnlein Krötenlaich der Grundschule im Kiez versagt haben (oder eines der Tiere hat den Fluchttunnel unter der Straße nicht gefunden). Auf dem Uferweg am Rummelsburger See trocknete ein toter Frosch vor sich hin. Er lag einfach so da und wurde von einigen Fliegen umschwirrt. Ab und an kam eine Krähe angehüpft und versuchte, aus dem Kadaver noch Essbares herauszupicken.

Das hat mich dann doch berührt, denn möglicherweise war es einer jener Frösche, die mein Jüngster vor zehn Jahren mit Nachbarkindern im flachen Uferwasser ausgesetzt hatte. So unbarmherzig ist die Natur: Was einst in einem Wassereimer begann, in dem die Kinder einige Dutzend Kaulquappen vor dem qualvollen Tod in einer Pfütze gerettet hatten, endete unter dem Reifen eines Fahrzeugs des Straßen- und Grünflächenamtes des Bezirks Lichtenberg. Aber Helmut Kohl ist jetzt ja auch tot.

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