Absprung ins Ferienland

Der frühere Berliner PDS-Abgeordnete Freke Over baut im Brandenburgischen eine Erholungsanlage wieder auf

  • Patrick Kunkel
  • Lesedauer: ca. 5.5 Min.

Bis vor Kurzem saß Freke Over noch als Abgeordneter im Berliner Landesparlament. Jetzt steht er in einem verfallenen Flachbau auf einem Feriengelände im Brandenburgischen. Seinem Feriengelände. Schaufel in der Hand, schwere Arbeitsschuhe an den Füßen - wie ein Politiker wirkt er nicht, eher wie ein netter Hausmeister.

Over ist ein robuster Typ: Er trägt einen roten Kapuzenpullover, hat ein offenes Gesicht, freundliche blaue Augen, darüber zerzaustes braunes Haar. Over erklärt, dass aus den Trümmern ein behindertengerechter Bungalow entsteht. Noch ist das nur schwer vorstellbar. Es riecht nach feuchtem Mörtel, im Hintergrund rattert ein Betonmischer, vom Deckengerippe hängen Elektrokabel herunter.
»Ich wollte schon immer aufs Land«, sagt der 38-Jährige, »auch während meiner Zeit als Hausbesetzer und im Parlament.« 1995 zog er für die PDS ins Berliner Abgeordnetenhaus. Damals war er selbst bei so manchem Genossen umstritten: wegen der bunten Haare, wegen der Geschichte als Hausbesetzer in Berlin-Friedrichshain. Seit den Wahlen im September des letzten Jahres ist Schluss mit der Politik. Bis zum Ende der Legislaturperiode ist Over noch zu den Parlamentssitzungen nach Berlin gependelt. Jetzt ist er endgültig angekommen in Luhme. Und bereits bestens integriert ins Dorfleben: Seit Anfang November ist er Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr.

Morbider Charme
Ferienland Luhme heißt Overs Wirklichkeit gewordener Traum und liegt 125 Kilometer nordöstlich von Berlin. Vor drei Jahren haben Over und seine Frau Anette Klumb ein ehemaliges Ferienheim der »Konsumgenossenschaft Berlin und Umgebung« gekauft - für einen Spottpreis. Das Dorf Luhme hat 163 Einwohner und liegt mitten in der Rheinsberger Seenplatte. Es ist ein bisschen abgehängt von der Welt.
Luhme riecht frisch. Nach Land, nach vergorenem Silofutter. Nach Pferd. Rundherum gibt es gleich ein halbes Dutzend Badeseen, Wald, Wiesen und weitläufige Ackerflächen, die von schnurgeraden Baumreihen gesäumt werden. Man kann hier baden, reiten auf einem der vielen Reiterhöfe und endlose Spaziergänge unternehmen. Ein paar mal am Tag fährt ein Schulbus. Aber nur in der Woche. »Ohne Auto ist man aufgeschmissen«, sagt Over.
Ihre wirtschaftliche Blüte hatte die Region zu DDR-Zeiten, erzählt der stellvertretende Ortsbürgermeister von Luhme, Rainer Ebert, den man auf dem Gelände von Overs Feriensiedlung antrifft. Er ist einer von zwei Angestellten Overs. Viele Urlauber kamen früher nach Luhme. Das kleine Dorf wurde ein großes sozialistisches Ferienparadies. Volkseigene Betriebe wie das Stahlwerk Hennigsdorf und die Verkehrsbetriebe Leipzig zogen hier Freizeitanlagen für die Mitarbeiter und deren Familien hoch. An den Badeseen entstanden Bungalowsiedlungen samt Kinos, Saunen und Gastronomie. »Allein in Luhme gab es 23 Feriensiedlungen«, erzählt Ebert. Der 63-Jährige hat hier sein halbes Leben verbracht und gemeinsam mit seiner Frau eine solche Anlage betrieben.
Von der einstigen Größe ist nicht mehr viel übrig. Als die VEB nach der Wende abgewickelt wurden, verkaufte die Treuhand auch die Ferienobjekte. Oder ließ sie verfallen, weil die Eigentumsverhältnisse unklar blieben. Am nahen Großen Zechliner See etwa modert eine 500-Betten-Siedlung vor sich hin. Auch Luhme selbst hat einen morbiden Charme: grau verputzte Häuser, gepflasterte Straßen, ein bisschen Verfall hier, ein bisschen Neues dort.
Das Ferienland Luhme erreicht man über eine sandige Buckelpiste. Es besteht aus einem großen Wohnhaus aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Dann: Sieben Bungalows, ein angegrautes Bettenhaus, ein Seminarraum, eine Werkstatt und ein Saal mit Gastronomie. Und eine große Kinderscheune zum Toben, voll mit Matratzen und Spielsachen. 72 Betten, ein Kiosk. Ein paar Schafe, Ziegen, Hühner und die Schweine nicht zu vergessen. Mehrmals am Tag bricht die Ziege Kleinchen aus dem Gehege aus.

Ein »Germanenkind«
Seine Gäste hat Over gleich aus Berlin mitgebracht: »Viele kennen wir aus Friedrichshain oder Kreuzberg.« Manche haben früher selbst Häuser besetzt, sind älter geworden und jetzt kommen sie mit ihren Kindern. Und deren Bekannte, die über Mundpropaganda von dem Ferienland hören. Außerhalb der Ferienzeiten kommen auch Kindergartengruppen.
In Luhme leben noch andere Aussteiger aus der Hauptstadt. Regina und Klaus Bruhn etwa, die vor einigen Jahren das Hotel Kapellensee eröffnet haben. Und Antje Kreutzer, die mit ihrem Mann Steffen vor acht Jahren nach Luhme gekommen ist. Sie betreiben einen Pferdehof. Antje Kreutzer ist seit drei Jahren Bürgermeisterin von Luhme. »Immer mehr Menschen ziehen aus der Stadt hierher«, sagt sie, viele hätten auch einfach nur ein Wochenendhäuschen in der Gegend. Wie vor »30 Jahren die Regionen um Hamburg, München oder Frankfurt« entwickle sich heute das Berliner Umland - »aber viel langsamer«.
Vor fast einem Jahrhundert lebte eine ganz andere Sorte von Aussteigern in dem kleinen brandenburgischen Dorf. Kein sanfter Tourismus, sondern harte, deutsche Disziplin war damals angesagt. Mitglieder einer völkischen Sekte hatten das »Gut Luhme II« erworben, um dort ihre nationalistischen und rassistischen Ideen umzusetzen. So tauchten, lange bevor die Nazis in Deutschland an die Macht gelangten, Hakenkreuze in Luhme auf - an den Giebeln der Häuser. Die kleine völkische Genossenschaft hat damals die meisten der Häuser gebaut, die den Ortsteil »Heimland« bis in die Gegenwart prägen.
»Ich war ziemlich überrascht, als ich zum ersten Mal von der Geschichte des Ortes gehört habe«, sagt Over. Nachbarin Regina Bruhn zeigt in ihrem Hotel eine kleine Ausstellung über die völkische Geschichte des Ortes. Wer will, dem schließt sie die Ausstellungsräume auf. Eine fremde Welt auf zwei Dutzend Tafeln eröffnet sich in der kleinen Galerie von Regina Bruhn. Die germanentümelnden Siedler haben bizarre Dinge getrieben: Auf alten Schwarzweißfotos sieht man etwa eine Frau, die »im germanischen Fellkleid« samt Pfeil und Bogen auf Pirsch geht. Die Abende verbrachten die Siedler bei »Buttermilchsuppe und einem Stück kernigen Schwarzbrots«, denn Alkohol war verpönt. In dem Haus, in dem Over heute lebt, kam 1914 das erste »Germanenkind«, Johanna, zur Welt.
Aber das Landleben war anstrengend, den meisten Siedlern fehlten die landwirtschaftlichen Kenntnisse. Als dann noch der Erste Weltkrieg ausbrach und viele völkische Pioniere zum Militär eingezogen wurden, war das Ende des völkischen Traums nahe. 1926 gaben die Siedler auf.

Vier-Mann-Subbotnik
Von dem militärischen Drill spürt man nichts mehr in der Gegend. Im Gegenteil. Überall stehen im Dorf Schilder gegen das geplante Bombodrom in der Wittstocker Heide. Das ist nur 15 Kilometer entfernt, die Bundeswehr plant dort einen Bombenabwurfplatz. »Hier sind die Menschen geschlossen gegen diese Pläne«, sagt Bürgermeisterin Kreutzer. Kein Wunder. Die Hoffnung auf Wirtschaftswachstum durch sanften Tourismus wäre schnell zunichte, wenn Tiefflieger regelmäßig über die Wiesen donnerten.
Selbst ein Rechtsextremismusproblem gebe es nicht in Luhme, sagen Freke Over, Rainer Ebert und Antje Kreutzer. Anders als in Rheinsberg. Die Stadt, zu der Luhme seit der Eingemeindung gehört, hat wegen rechtsextremer Umtriebe in der jüngsten Vergangenheit für Schlagzeilen gesorgt. »Die haben wirklich ein Problem«, sagt Over, »und darum müssen wir uns kümmern.«
Mit der Disziplin hapert es heutzutage übrigens auch. Einmal im Jahr laden Freke Over und Anette Klumb Freunde und Bekannte aus Berlin zum Subbotnik ein. Wobei es sich laut Over um »eine Mischung aus Arbeiten und Feiern« handelt. Beim letzten Mal sind sind nur vier Helfer gekommen. »Könnte sein, dass wir einfa...

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