Klauen wir uns unser Leben zurück!

Über Riot, Randale, Revolte im Hamburger Szeneviertel während des G20-Gipfels

  • Markus Mohr
  • Lesedauer: 5 Min.

Am Samstagmorgen, den 8. Juli, fand sich neben dem nach Ladenschluss proletarisch geöffneten REWE-Supermarkt im Hamburger Schanzenviertel die in öko-grün-lack gesprühte Parole: »Klau dir dein Leben.« Die hat mir aus meiner Lebenssituation als Empfänger staatlicher Transferleistungen nach dem SGB II (Hartz IV) erheblich mehr eingeleuchtet als das um die Rote Flora groß gespannte Transparent mit der Aussage: »Gegen jeden Antisemitismus«, weil diese Parole in Bezug auf das, was doch auch von autonomen Floristen mit der »Welcome-to-hell!«-Demonstration dankenswerterweise europaweit an Mobilisierung der linken Fundamentalopposition angeschoben worden ist, unverständlich bleibt.

Nun ist allerorten das politische Geschrei um sieben zerstörte Geschäfte auf dem Schulterblatt groß. Wenn das »wie im Krieg« gewesen sein soll, wie man durch Spiegel-Online am Morgen des 8. Juli um 6.32 Uhr informiert wurde, dann kann »der Krieg« dann doch nicht ganz so schlimm sein. Während der Randale wurde lange Zeit in der Geschäfts- und Vergnügungstraße des Schanzenviertels der Gastronomiebetrieb aufrechterhalten. Der Genuss von Getränken wurde von den das umtriebige Geschehen neugierig wie interessiert auf dem Trottoir konsumierenden Gästen ordnungsgemäß inklusive Getränkesteuer beglichen.

Natürlich hat man auch als Autonomer das Recht dazu, sich über die Plünderung einer Filiale des immer mal wieder als »vorbildlicher Arbeitgeber« gerühmten Bundnikowsky-Konzerns zu echauffieren. Und natürlich muss man keinerlei Empathie empfinden für die Zerstörung einer Filiale des REWE-Supermarktkonzerns, einer Bank-Cash-Maschine und einer HASPA-Filiale. Gerne sollen auch Autonome »Je suis Charlie!«, aber niemals »Je suis HASPA, REWE oder Cashmaschine!« sagen und denken.

Militarisierung der Polizei

Und doch geht der Hinweis auf den Krieg durch »Spiegel-Online« im Zusammenhang mit der Randale auf der Schanze nicht ganz fehl. Erstmals in der Geschichte der Niederhaltung von Revolten durch die Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik wurde der Bevölkerung im Schanzenviertel demonstrativ das G36-Maschinengewehr unter die Nase gehalten. Die Rüstungsschmiede Heckler & Koch wirbt damit, dass »nicht zuletzt Spezial- und Sicherheitskräfte« aus zahlreichen Nationen, »der konstanten Zuverlässigkeit des G36« vertrauen. Auch mexikanische Sicherheitskräfte bauten auf die »konstante Zuverlässigkeit« dieser Waffe, als sie damit im September 2014 in der mexikanischen Universitätsstadt Ayotzinapa im südwestlichen Bundesstaat Guerrero bei Studentenprotesten sechs Menschen erschossen.

Mit dem demonstrativen Zeigen der besagten Wunderwaffe in einem medial gut ausgeleuchteten »Feld« war es für die Hamburger Polizeiführung bestimmt ein weiteres Anliegen, den Verkauf eines solchen Mordinstrumentes weiter anzuheizen. Insofern hat die von Innensenator Grote vor dem G20 angekündigte moderne Polizeiarbeit in der Randalenacht tatsächlich der hohen Exportorientierung der bundesdeutschen Wirtschaft in besonderer Weise Rechnung getragen.

»Sinnbefreite Gewalt« im eigenen Viertel

Davon mochte sich bislang niemand distanzieren – traurig ist das –, aber von der Randale in der Schanze schon. Die Distanzierungen sind alle gar nicht zu zählen. Die vom Genossen Andreas Blechschmidt zum Zwecke der Abwehr eines polizeilichen Überfalls auf die Rote Flora ist dabei noch die nachvollziehbarste. Und über seinen hier gegebenen Hinweis auf die Ambivalenzen einer »sinnbefreiten Gewalt« muss sowieso stets nachgedacht werden.

Die konstruktiv gemeinte Empfehlung des Genossen Andreas Beuth, in Zukunft den Aufstand nicht mehr in einer Vergnügungsstraße, sondern lieber in beschaulicheren Distrikten wie Pöseldorf oder Blankenese zu vollziehen, wirft bei näherem Nachdenken eine Reihe von Fragen und Widersprüchen auf. Denn auch dort leben sicher viele Illegale und Arme, die sich mit vielfältigen Servicetätigkeiten für die Reichen mehr oder minder großzügig honoriert durchschlagen müssen. Soll man denn auch denen ihre bescheidene Existenzgrundlage verwüsten?

Am meisten irritieren muss aber ein Einfall des Genossen Jan van Aken, dass die Randale »nichts mit, sage ich mal, einem politischen Protest zu tun (hat), aus meiner Sicht, sondern das ist reine Krawallmacherei«. Van Aken ist allerdings das Recht zu bestreiten, sich mit solchen Aussagen in das Lager der Gegenaufklärung zu stehlen. Natürlich ist eben auch das an sozialer Wut politisch, was einem im Horizont parlamentarisch-bürgerlicher Repräsentativität aus stets noblen Gründen nicht in den Kram passt.

Die Sprache der Stummgemachten Europas

In der Randalenacht waren sicher auch Autonome aus Italien, Frankreich, Spanien, Griechenland oder sonst woher auf dem Schulterblatt unterwegs. Dabei haben sie die ihnen aus der Perspektive der anhaltend superoptimal aufgestellten deutschen Wirtschaftspolitik zugedachte Rolle als stumm gemachte Module in ständig neu aufgelegten Strukturanpassungs- und Sparprogrammen nicht erfüllt. Ganz im Gegenteil: Sie haben in der Metropole zurückgeschlagen, und wie es im »Welcome-to-hell!«-Aufruf auch indirekt prophezeit worden ist, dafür gesorgt, dass die an die Messehallen angrenzenden Bezirke zum Krisengebiet geworden sind.

In eben dieser historischen Sekunde haben sich diese Leute schlicht ihr Leben zurückgeklaut. Aus einer autonomen Perspektive ist daran nicht das Mindeste zu kritisieren, aber alles noch besser zu verstehen. Und bedenkenswert hier der Gedanke aus der Rede der Interventionistischen Linken während der Abschlussdemonstration zum G20 am 8. Juli: »Zum Ganzen des Widerstands gehört auch das Nein, das nicht mehr redet. Auch nicht mit uns.«

Markus Mohr wird oft als Alt-Autonomer bezeichnet, versteht sich selbst aber als junger Kommunist. Er lebt seit dem 1. Januar 2005 von Leistungen der Arbeitsagentur, die umgangssprachlich nach einem Straftäter benannt sind.

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