Ein Täter ohne Erinnerung an die Tat
Seit gestern steht der 17-jährige Mike P. wegen 37-fachen Mordversuchs vor Gericht
Mordversuch in 37 Fällen, dazu gefährliche Körperverletzung und Raub - so lautet die Anklage gegen den heute 17-jährigen Schüler Mike P. Die Öffentlichkeit ist wegen des jugendlichen Alters des mutmaßlichen Täters von der Gerichtsverhandlung, die gestern begann, ausgeschlossen. So spielen sich die medialen Turbulenzen vor dem Gerichtssaal ab, versuchen Reporterscharen und Kamerateams, von der Verteidigung und der Staatsanwaltschaft Worte der Erklärung zu erhaschen.
Worte der Erklärung für eine Tat, die am 26. Mai vorigen Jahres gegen 23.20 Uhr ihren Anfang nahm. Das Volk feierte ein rauschendes Fest zur Einweihung des neuen Hauptbahnhofs, als der damals 16-Jährige aus Neukölln in einem wahren Blutrausch mit einem Klappmesser wild um sich stach und schlug und mindestens 43 Passanten verletzte. 31 Opfer erhielten innerhalb von 25 Minuten Messerstiche. Bei drei Geschädigten gelangte das Messer nicht durch die Kleidung. Für mindestens acht Opfer waren die Stichverletzungen in Bauch, Lunge oder Niere lebensgefährlich, das jüngste Opfer war 14 Jahre alt. Da einer der ersten Getroffenen an der Immunschwäche Aids litt, bestand für mindestens 15 Verletzte die Gefahr, durch die Messerattacke mit dem Virus infiziert worden zu sein. Erst im Dezember endete für die Betroffenen die quälende Ungewissheit. Eine HIV-Ansteckung war durch das Attentat nicht erfolgt.
Dem mutmaßlichen Täter tue alles selbstverständlich leid, ließ er über seinen Anwalt zum Prozessauftakt der Presse erklären. Mike wolle sich im Gerichtssaal bei den Opfern entschuldigen. Sein Mandant, der seit der Tat in Untersuchungshaft sitzt, könne sich an nichts erinnern. Er war zum Tatzeitpunkt stark alkoholisiert, aber eben nicht so, dass er nicht mehr gerade laufen konnte, wie Augenzeugen der Tat berichteten. Für Psychologen ist beides möglich: Sowohl, dass er sich tatsächlich nicht mehr an die Tat erinnern kann, als auch, dass er das Geschehen in jener Nacht verdrängt hat.
Wie stark der Alkohol die Sinne von Mike trübte, werden Gutachter in dem Verfahren klären müssen. 2,2 Promille soll er im Blut gehabt haben, das könnte zu einer verminderten Schuldfähigkeit des Angeklagten zum Zeitpunkt der Tat führen. Deshalb dürfte die Jugendstrafe, die im Höchstfall zehn Jahre beträgt, auch wesentlich geringer ausfallen.
In den polizeilichen Vernehmungen hatte der Jugendliche die Tat zunächst geleugnet und dann wiederholt erklärt, sich an nichts erinnern zu können. Und auch am ersten Prozesstag bestätigte er in einer 15-minütigen Aussage seine Erinnerungslücken. Auch über das Motiv könne er nach langem Nachdenken nichts sagen.
Insgesamt sind 158 Zeugen und vier Sachverständige geladen. Zwölf Anwälte vertreten die Opfer des Amokläufers.
Mike, so scheint es, hat zwei Gesichter. Mitschüler aus der Johann-Thienemann-Schule in Steglitz beschreiben ihn als zurückhaltend und bescheiden, als einen, der sich in der Schule und in der Freizeit sehr unauffällig verhält. Ein Nebenkläger-Anwalt beschrieb ihn in der Verhandlungspause als einen ganz normalen Jungen, »er wirkt völlig harmlos«. Andererseits musste er wegen Beleidigung und Diebstahls in eine andere Schule versetzt werden, liebte Gewaltvideos und zeigte schlechte Leistungen im Unterricht. Auch hatte er die Auflage, an einem Antigewalt-Training teilzunehmen.
Für das Verfahren sind zunächst sieben Verhandlungstage angese...
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