Kein Grund, sich aufzuregnen!

  • Lesedauer: 3 Min.

Schlimmer als das Wetter in diesem Sommer ist eigentlich nur die Hysterie um das Wetter. Als es letztens mal zwei Tage und zwei Nächte hintereinander regnete, standen offenbar nicht nur ein paar Straßen unter Wasser, sondern auch die Köpfe vieler Berliner. Ihre verschwommene Wahrnehmung kann ich mir anders nicht erklären: »Jetz rejnet dit schon seit eener Woche«, beschwerte sich ein Schmerbauch in der Umkleidekabine des Fitness-Studios, obwohl mein Wetterprotokoll bewies, dass es zu diesem Zeitpunkt gerade mal 32 Stunden und 14 Minuten waren. Das tätowierte Muskelgebirge am Nachbarspind pflichtete dem Dicken lispelnd bei, wodurch seinem Mund wie zur Bestätigung ein paar feine Nieselspritzer entwichen. Dass die Nackedeis triefend nass waren, lag aber schlicht daran, dass sie gerade aus der Dusche gekommen waren.

Leider sind auch bekleidete Intellektuelle nicht davor gefeit, die Witterung drastischer einzuschätzen, als es angemessen wäre. Der anhaltende Regen hielt den Kollegen aus dem Lokalressort zwar ebensowenig vom Fahrradfahren ab wie mich selbst. Als ich aber nach Feierabend den mit einer Plane geschützten Kindersitz über den Gepäckträger montierte, auf dem ich morgens meinen zweijährigen Sohn in seine Verwahranstalt gebracht hatte, verlor der Kollege die Fassung. Während er am Nachbarständer sein Rad abschloss, staunte es entrüstet unter seiner Kapuze hervor: »Du fährst bei dieser Sturzflut doch nicht etwa mit Kind?« - »Warum denn nicht?«, entgegnete ich, »es gibt doch Regenbekleidung.« Er runzelte weiter die Stirn, doch das Naheliegende schien ihn überzeugt zu haben. »Hart, aber gerecht«, murmelte er noch. Dann schwang er sich auf den Sattel und verschwand im Wasser.

Die schlimmste Hysterie, sobald einmal nicht die Sonne schien, musste ich allerdings von einer erdulden, von der ich es am wenigsten erwartet hätte. Seit Wochen malträtierte die Wetter-App auf meinem Telefon mich mit Horrormeldungen: »Achtung, Unwettergefahr!« vibrierte es aus der Hosentasche, »Gewitterwarnung - Stufe 2!«. Ich wusste zwar nicht, was »Stufe 2« bedeutet, ein Blick aus dem Fenster verriet mir aber, dass die Blätter der Bäume etwas wackelten und ein paar vereinzelte Wolken sich am Himmel zusammentaten. Mein Gott! Nicht auszudenken, wenn wir erst »Stufe 3« erreichen. Das kann nichts anderes bedeuten als den Weltuntergang. Im Minutenrhythmus brummte nun das Handy: »Stu᠆fe 2!«, »Stufe 2!«, »Stufe 2!«

Als ich am Abend desselben Tages auf meinem Balkon saß, fielen dann tatsächlich einige Tropfen vom Himmel. Das Telefon begann augenblicklich, wie vom Blitz getroffen zu zucken. Als ich es wenige Sekunden später aus der Tasche gefingert hatte, war der Schauer schon wieder vorbei. Aber die Wetter-App schien dicht vor dem Herzinfarkt zu stehen.

Weil ich weiß, dass Apps kein Herz besitzen, entschloss ich mich, auch keins zu haben, und löschte den Mist. Tags darauf brezelte die Sonne. Und alle jammerten über die schreckliche Hitze.

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