Montag, Schontag?
Mein Onkel mütterlicherseits war zehnmal häufiger als ich im Schokoladen in Mitte gewesen, in diesem Wohn- und Kulturprojekt in der Ackerstraße, um das es jahrelang einen Rechtsstreit wegen der Nutzungsverhältnisse gegeben hatte, der letztlich gewonnen wurde. Nun gut, mein Onkel war in den 70ern auf dem Gelände dieser ehemaligen Süßwarenfabrik als Gabelstaplergott beschäftigt. Er lancierte als Arbeitsnachweise einige Marzipanbrote in unsere gute Stube. Onkel Günter weiß mehr über dieses Haus als Tante Google.
Ich war nur 111 Mal im Schokoladen, zuletzt am Montag, der kein Schontag war. Es herrschten spätsommerliche Temperaturen, trotz des seit Tagen angekündigten Scheißwetters. Ich war mit meinem Kumpel Bernd sportlich im Prenzlauer Berg unterwegs, erst an der Tischtennisplatte in der Stargarder, danach am Schachbrett in der Schönhauser. Hoch lebe die freundschaftliche Körper- und Kopfertüchtigung! Wir spielten ohne Schachuhr, mir war etwas langweilig, denn ich bin internetschachgestählt. Vielleicht war Bernd gedanklich schon zu sehr bei den hübschen Französinnen, bei den Decibelles, die am Abend im Schokoladen Mitte auftreten sollten. Warum auch nicht?
Also zackig mit den Rädern die Kastanienallee Allee runter, quer über den Rosenthaler Platz und hinein in die Ackerstraße, in das einstige Marzipanparadies! Die Vorband Nakeds rockte im gut besuchten Laden zwar erst den dritten Songs runter, doch die Luft war schon wieder zum Schneiden. Noch voll der Wochenendpartymief, vielleicht sogar etwas Werktätigenmuff. Also ab in die hintere Ecke, an den Kickertisch; aber ach, das ist nicht mein Sport. Ich fing mir dank meines behäbigen Stils solch Resultate ein, wie es einst die BSG Chemie Buna Schkopau in ihrer einzigen Oberligasaison 1981/82 tat.
Immerhin machten die Decibelles bald ihrem Namen alle Ehre. Musikalisch sind die beiden Frauen und der Herr irgendwo zwischen den Lolitas und den Thee Ultra Bimbos anzusiedeln. Diese duften Bands sah ich nie live, dank Helmut Kohl. Die Decibelles haben Feuer und bringen Gitarre, Bass und Schlagzeug mit an den Start. Keine Tasten, keine Bläser, keine Kompromisse. Der punkige Look ist ihnen fremd. Als Jungerwachsene sind sie automatisch schön. Mit ihrem aktuellen Album »Tight« kommen sie einigermaßen herum in Europa. Die Songs dauernd zwischen 1:24 und 4:19 Minuten, also selten länger als eine Partie Blitzschach. Um 21 Uhr 55 war es fünf vor 12, also spät genug, um den Konzertlärm einzustellen und die Gespräche vor das Haus zu verlagern. Vorsichtshalber vergaß ich während einer Fachsimpelei über das verjährte Relegationsunglück der TSG Neustrelitz nicht völlig die Zeit, denn am Dienstag wartete, wie es der Tag schon verrät, der Dienst.
Heute gehe ich zu Günters Geburtstagskaffeeklatsch und versuche, ihn zu einem Besuch im Schokoladen zu überreden. Abends schlägt der BFC Dynamo die TSG Neustrelitz. Schönes Wochenende.
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