Trojas König Priamos war kein Grieche

  • Jochen Reinert
  • Lesedauer: ca. 7.0 Min.

Die Trojaner entpuppen sich immer mehr als Asiaten - war der von Homer geschilderte Große Krieg auch ein Kampf der Kulturen?


Mit dem Blau der Ägäis im Rückspiegel quert unser Reisebus die Passhöhen des nordwesttürkischen Ida-Gebirges, von dessen Spitze, dem Gargaron-Berg, Göttervater Zeus den Trojanischen Krieg beobachtete - so jedenfalls hat es Homer in seinem Epos »Ilias« geschildert. Vorbei an kräftigen Zedern, Eichen und Platanen gibt eine Straßenkehre plötzlich den Blick frei auf die klassische Troias, das berühmteste Schlachtfeld der Weltgeschichte, auf dem die Achäer, die große Koalition der Griechen, zehn Jahre lang das Troja des Königs Priamos und seiner Söhne Hektor und Paris berannten. Am nördlichen Rand der grünen, an diesem späten Nachmittag regenfeuchten Ebene hockt, mit bloßem Auge kaum zu erkennen, der Hügel von Hissarlik. Auf dieser heute eher unscheinbaren Erhebung - kein Vergleich mit dem mächtigen Massiv von Pergamon - reckten sich einst die Mauern von Troja. Am Horizont darüber das blassblaue Band der Dardanellen, dem Hellespont der Alten.
Von Canakkale her ist die Annäherung an Troja völlig unspektakulär: Felder, Waldstücke, minarettgekrönte Dörfer, niedrige Wacholderbüsche, die sich in ruhende Krieger verwandeln, wenn man die Augen ein wenig zukneift.
Heinrich Schliemann hat hier noch weit mehr gesehen, als er im Oktober 1871 mit Frau Sophia und einer Schar Hilfsarbeiter aufkreuzte. Ihn begleiteten die trojanischen Bilder aus Dr. Ludwig Jerres »Weltgeschichte für Kinder«, Nürnberg 1828, die ihm sein Vater, Pfarrer im mecklenburgischen Ankershagen, unter den Weihnachtsbaum gelegt hatte. Damals sagte er seinem Erzeuger, so jedenfalls die Legende: »Wenn ich groß bin, werde ich Troja ausgraben«. Und das tat der als Kaufmann reich gewordene Pfarrerssohn dann auch - überzeugt, dass Homer historische Vorgänge spiegelte und dass der Hügel von Hissarlik das Troja des König Priamos berge.
Das große Troja - der erste Eindruck mag für manchen Reisenden enttäuschend sein. Keine weiß leuchtenden Marmorsäulen wie in Ephesus oder Pergamon. Doch da winkt schon, an die zehn Meter hoch, das Trojanische Pferd herüber. Während der Krieg um Troja nach allem, was man weiß, tatsächlich stattfand, bleibt die Pferdestory eine Fama. Die von Homer lustvoll beschriebene Kriegslist, nach der eine Gruppe achäischer Krieger unbemerkt im Bauch eines hölzernen Rosses in die Stadt rollte, ist eher unwahrscheinlich, meint unser türkischer Reiseführer Tarkan Erkan. Unendlich viele andere Varianten der Eroberung Trojas mit Pferde-Hilfe seien denkbar. Wie auf assyrischen Reliefs zu sehen, könnten die Griechen eine pferde- oder widderähnliche Belagerungsmaschine konstruiert haben, mit der sie den Mauern zu Leibe rückten. Aber vielleicht hatten die Griechen auch im Nachhinein ein hölzernes Pferd gezimmert als symbolische Opfergabe für Poseidon, den Gott der Meere und Erderschütterer, der Trojas Befestigungen im zehnten Jahr des Krieges mit einem Erdbeben ruinierte.
Der Gang durch die Ruinen von Troja gleicht einer Achterbahn durch Raum und Zeit, durch neun ziemlich klar abgegrenzte Städte, die von 3000 v.u.Z. bis 500 u.Z. den Hügel von Hissarlik krönten. Vorbei an den mächtigen Mauern des Osttores von Troja VI, der Stadt des Priamos, gelangen wir zum Plateau des einstigen Athena-Tempels, den die Römer obenauf setzten. Ein wuchtiges Bruchstück der Kassettendecke des Tempels spießt in der Erde, sonst ist hier oben wenig zu sehen.
In das Nachdenken über entschwundene Schönheit hinein schleust Erkan einen Exkurs über die einstigen Standortvorteile Trojas und damit auch über die Kriegsgründe jenseits der Homerischen Schilderungen. Die geografische Lage am Eingang des Hellespont sage schon manches. Die Trojaner konnten die schon seinerzeit stark befahrene Wasserstraße kontrollieren und Zölle erheben. Das war den Griechen, die bereits erste Kolonien jenseits des Bosporus gegründet hatten, ein Dorn im Auge. Deshalb war die Entführung Helenas von Mykene nach Troja gewiss nur ein Vorwand - wie heute ging es auch in diesem Krieg um den Zugang zu Ressourcen, wenn auch noch nicht um Erdöl, sondern z.B. um kaukasisches Zinn. Weshalb sonst hätten die Griechen Troja zehn Jahre lang berannt?
Wie vor 3300 Jahren in dem von Homer mehrfach als »windig« apostrophierten Troja streicht auch an diesem Vormittag ein böiger Nordwest über Hissarlik, als wir in den berühmt-berüchtigten Schliemann-Graben hinunterschauen. Der besessene Mecklenburger hatte in seiner ersten Grabungskampagne 1871/73 mit über 120 Arbeitern einen 200 Meter langen, 40 Meter breiten und 17 Meter tiefen Graben quer durch den Hügel gezogen, dabei erheblichen Schaden angerichtet, aber auch allerlei Wissen über die trojanischen Schichtungen gewonnen. Die zweite Schicht mit den meisten Brandresten erklärte er flugs zum Troja der »Ilias«, und den reichen Goldschmuck, den er darin fand, zum »Schatz des Priamos«. Doch schon während seiner letzten Grabungskampagne 1890 schwante ihm, dass er falsch lag: Neue Funde in der sechsten Schicht zeigten an, dass dies am ehesten Homers Troja sei - was im Wesentlichen bis heute gilt. Die Ausgrabungen, die deutsche, US-amerikanische und türkische Archäologen seit 1988 unter Leitung des Tübinger Professors Manfred Korfmann unternehmen, haben viele beeindruckende Bauten des sechsten Troja ans Licht gebracht: die Burgmauer mit dem Osttor, einen Palast (wohl der des Priamos) oder das Südtor (wahrscheinlich das berühmte Skäische Tor, Schauplatz so vieler Homerischer Gesänge). Die Toranlage mit gepflasterter Straße und Abwasserkanal lässt die hohe Zivilisation der Trojaner erahnen.
Merkwürdigerweise haben die Griechen nach gewonnenem Krieg Troja nicht besetzt. Ihnen genügte es, die konkurrierende Metropole niederzubrennen. Doch fünf Jahrhunderte später kamen sie doch und errichteten auf den Ruinen des Homerischen Troja das hellenistische Ilion, später folgte das römische Ilium. Die größte Anlage beider Gründungen war neben dem Athena-Tempel ein Theater, das Platz für 6000 Zuschauer bot. Alexander der Große hat die Bauten ebenso gefördert wie später der römische Kaiser Augustus - die Römer sahen sich gar als direkte Nachfahren der Trojaner. Und beinahe hätte Troja noch einmal Metropolenstatus erhalten. Kaiser Konstantin ließ schon mit Bauarbeiten für seine neue Residenz auf dem Hissarlik-Hügel beginnen, entschied sich dann aber für Byzanz. Ilium diente noch lange als kleiner oströmischer Bischofssitz bevor es allmählich entschlief - bis es Schliemann erweckte.
Der Name des Mecklenburgers ist hier allgegenwärtig - er prangt auch neben dem Touristenzentrum über einem Schuppen, der einmal als Kulisse für einen Schliemann-Film gedient haben soll. Ein Blick hinein zeugt von wenig pietätvollem Umgang mit dem ersten Troja-Ausgräber. An der Wand ein verblichenes Foto des Ankershagener Pfarrhauses, ansonsten Gartengerät, leere Gasflaschen, Taubenfutter. Mustafa Askin, Senior der türkischen Troja-Führer und Betreiber des Touristenzentrums, hat für Schliemann nicht sehr viel übrig. »Obwohl er Hissarlik regelrecht in einen Maulwurfshügel verwandelt hat, wird er als Vater der Archäologie bezeichnet«, mokiert er sich. Auch gefällt ihm überhaupt nicht, dass Schliemann den Priamos-Schatz »mit 1001 Ränkespielen« nach Berlin entführte. Er hofft, der Schatz kehre eines Tages an seinen Ursprungsort zurück - in ein neues modernes archäologisches Museum.
Mustafa Askin stört an Schliemann auch, dass sich jener wenig Gedanken darüber machte, wer die Trojaner eigentlich waren. Für den Türken steht fest: Es waren nicht, wie lange behauptet, irgendwelche andere Griechen, sondern »ein einheimisches anatolisches Volk«. Das musste freilich Glaubenssache bleiben - bis Korfmann, den Askin als »starken, disziplinierten und seriösen Menschen und Gelehrten« skizziert, vor zwei Jahren das erste schriftliche Zeugnis des homerischen Troja fand - ein 2,3 Zentimeter großes Bronzesiegel. Bei dessen Schriftzeichen handelt es sich nach Korfmann um »hethitische Hieroglyphen, die benutzt wurden, um luvisch zu schreiben«. Hethiter und Luvier, zwei indogermanische Völker, waren um 2000 v.u.Z. in Kleinasien eingewandert.
»Das hat gewiss auch mit Wilusa zu tun«, ruft mir Askin noch über den Ladentisch zu, an dem sich neue Kunden drängen. In Askins sehr instruktivem Troja-Führer ist zu lesen, dass der US-amerikanische Archäologe Calvert Watkins auf luvischen Tontafeln eine Stadt »Steil Wilusa« mit dem Herrscher Priya Muwas erwähnt fand. Das könnte durchaus Priamos sein. Und - auch Homer spricht von »Steil Wilusa«.
Wenn sich die anatolische Herkunft von Priamos und den Seinen erhärtet, war der Trojanische Krieg gewissermaßen auch ein Kampf der Kulturen - der griechisch-europäischen und der trojanisch-asiatischen. Und dies haben spätere Kriegsherren durchaus auch so gesehen. Ob Xerxes bei der Eroberung Griechenlands, Alexander der Große bei seinem Zug nach Südwestasien, die Kreuzfahrer des 4. Kreuzzuges oder Sultan Mehmet Fatih bei der Eroberung Konstantinopels - sie alle beriefen sich auf diese Dimension des Trojanischen Krieges. Auf andere Art fand dieser Kampf seine Fortführung, als die national erweckten Türken 1922/23 die letzten griechischen Bauern, die sich hier im Laufe der Jahrhunderte angesiedelt hatten, aus der Troias-Ebene vertrieben. Auch heute scheint der Kampf um Troja noch nicht ausgestanden zu sein: Nach seiner »anatolischen Begründung« der Heldenstadt Homers erhielt Korfmann für die Stuttgarter Troja-Ausstellung des Vorjahres keine Leihgaben aus griechischen Museen.
Unterdessen haben die Ausgräber Korfmanns viel Neues ans Licht gebracht, den Hafen von Troja und die ersten Mauern der 200 000 Quadratmeter großen Unterstadt. Zweifellos wird man noch lange über die Trojaner rätseln, denen Göttervater Zeus - so sieht es jedenfalls Mustafa Askin - mehr zugetan war als den Griechen. Vielleicht wird man auch eines Tages nach den Spuren von Schliemannopolis suchen. So wurde die kleine Barackenstadt für Ingenieure und Arbeiter spaßhaft genannt, die der Mecklenbu...

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