Glibber in der Nahrungskette

Nährstoffanreicherung, Überfischung und Klimawandel sorgen dafür, dass Quallen immer bessere Lebensbedingungen vorfinden. Das verändert Ökosysteme.

  • Susanne Aigner
  • Lesedauer: 5 Min.

Seit etwas 650 Millionen Jahren gelingt es den Medusen, deren Körper zu fast 99 Prozent aus Wasser besteht, im Meer zu überleben. Als Räuber stehen die meisten Quallenarten in Konkurrenz zu etlichen Fischarten, wobei sie sich in ihrer Ernährung unterscheiden: Manche, wie etwa Schirmquallen, fressen neben Fischeiern und -larven auch Zooplankton. Andere Arten bevorzugen kleinere Krebstiere wie Ruderfußkrebse und Larven anderer Meeresorganismen. Größere Quallen fressen kleinere Fische sowie andere Quallen. In der Regel wird die Beute durch das Gift der Nesselzellen in den Tentakeln getötet oder betäubt. Anschließend befördern sie die Beute mit den Tentakel zur Mundöffnung und verschlingen sie.

Seit Jahren nimmt der Bestand an Quallen in den Weltmeeren zu. Einige Faktoren, die zu dieser Entwicklung führten, gehen wohl auf das Konto der Menschen. So gelangen immer mehr Düngemittel aus der Landwirtschaft ins Meer und reichern die Gewässer in Küstennähe mit Nährstoffen an. Dies fördert das Wachstum der Algen, von denen sich die kleinen Krebstierchen (Zooplankton) ernähren, welche wiederum den Quallen als Hauptnahrung dient. Zudem bietet eine wachsende Zahl technischer Anlagen wie Bohrinseln, Windkraftanlagen, Stege, Kaimauern den Polypen - das sesshafte Stadium im Quallenleben - den festen Halt, den sie im instabilen Sandboden so nicht finden. Laut dem Zoologen Gerhard Jarms von der Uni Hamburg haben in der Elbmündung Quallen drastisch zugenommen, seit dort ein Leitdamm die Fahrrinne begrenzt. Ähnliche Quallenplagen habe es zwar vermutlich auch früher gegeben, doch dank menschlicher Einflüsse vermehren sich Quallen heute weit schneller.

Immer wieder kommt es vor, dass die Medusen die Zuflüsse von Atom- oder Wasserkraftwerken verstopfen. Sie finden sich immer häufiger in Fischernetzen oder verderben Urlaubern schmerzhaft den Badespaß.

Brechen die sogenannten Quallenblüten nach Wochen oder Monaten zusammen, setzen die toten Tiere große Mengen organischer Substanzen frei. Ein Forscherteam um Ariella Chelsky vom Louisiana Universities Marine Consortium untersuchte die biogeochemischen und ökologischen Auswirkungen dieser Zersetzung in einer flachen Küstenlagune in Neusüdwales (Australien). Hier setzte man die Art Catostylus mosaicus carrion aus, um sie drei Tage lang zu beobachten: Wie die Forscher im Fachblatt »Science of The Total Environment« (DOI: 10.1016/j.scitotenv.2016.05.011) schreiben, erhöhte sich der Sauerstoffverbrauch sowie der Kohlenstoff- und Stickstoffausstoß im Vergleich zu Gebieten ohne Quallen um das Sechzigfache. Zudem vermehrten sich Schneckenarten, die sich von Aas ernähren, während sich der Anteil größerer Tiere verringerte. Überdies nahm bei niedrigem Sauerstoffgehalt im Wasser die Konzentration giftiger Sulfide in oberflächennahen Ablagerungen zu.

Allerdings scheinen Quallen mehr Fressfeinde zu haben, als bisher angenommen. So fand ein Forscherteam der Universität Barcelona, das den Mageninhalt von 20 Räubern im Mittelmeer analysierte, in den Mägen der Blauflossen-Thunfische lauter Quallen - bei den Jungtieren sogar bis zu 80 Prozent. Auch die Mägen des Kleinen Thun (Euthynnus alletteratus) und der Mittelmeer-Speerfische (Tetrapturus belone) waren mit Quallen gefüllt.

In der Antarktis gehören die Glibbertiere zum Nahrungsspektrum von Adeliepinguinen (Pygoscelis adeliae,) genauso wie zu dem von Albatrossen sowie Esels-, Königs-, Goldschopf- und Felsenpinguinen, wie der Meeresbiologe Simon Jarman von der westaustralischen Curtin University schon 2011 herausfand.

Ein weiterer der seltenen Fressfeinde von Quallen ist der siebenarmige Krake Haliphron atlanticus, einer der größten bekannten Tiefseekraken. Die Weibchen erreichen bis zu vier Meter Länge und bringen bis zu 75 Kilogramm auf die Waage. Wissenschaftler des GEOMAR Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung Kiel hatten auch in den Mägen von fünf toten Exemplaren dieser Art zahlreiche Quallen und gelatinöse Substanzen gefunden, die wohl ebenfalls von Quallen stammten (»Scientific Reports«; DOI: 10.1038/ srep44952). Die Tiefseekraken ihrerseits stehen auf dem Speisezettel von Pottwalen, Blauhaien und Schwertfischen. Der Kieler Meeresökologe Henk-Jan Hoving schließt aus diesen Beobachtungen, dass Quallen als Bestandteil der Nahrungskette bisher deutlich unterschätzt wurden.

Dass sich kleine Fische, Schalentiere und andere Organismen an Quallen anheften, war schon länger bekannt. Relativ neu ist die Erkenntnis, dass die Transportmittel ihre Passagiere auch verköstigen. So fand ein Wissenschaftlerteam um Andrew Jeffs vor der Küste Westaustraliens kürzlich beim Fang eines großen Salpen (Thetys vagina) - ein tonnenförmiges, gelatineartiges Manteltier - Dutzende von Langustenlarven. Sechs davon befanden sich direkt im Salpen: Eine DNA-Analyse der Innereien ergab, dass sich die Larven von ihrem Wirt ernährten. Der Erfolg der Larven bestehe darin, dass sie sich an einen schwimmenden Brocken Fleisch - sei es ein Salp oder eine Qualle - anheften, erklärt der Forscher. Davon könnten sie einige Wochen leben, ohne selbst die geringste Energie aufzubringen.

Auf der anderen Seite können Quallen auch eine Art Sackgasse in der Nahrungskette bilden. Das fand ein Forscherteam um Robert Condon vom Virginia Institute of Marine Science in Gloucester heraus. So fressen Quallen große Mengen an pflanzlichem und tierischem Plankton, deren Ausscheidungen bakteriell als Kohlendioxid freigesetzt werden. Und Ruderfußkrebse, die sich als Teil des marinen Zooplanktons unter anderem von Algen ernähren, werden ihrerseits von Quallen verzehrt. Je mehr Plankton sie sich einverleiben, umso weniger Nahrung bleibt für Fische übrig. Quallen schaden Fischbeständen aber nicht nur als Nahrungskonkurrenten, sondern auch direkt, indem sie Fischlarven, Fischeier und Kleinfische vertilgen.

Umgekehrt verringert die Überfischung, die in einigen Meeresbereichen bereits über 90 Prozent aller Großfische ausgerottet hat, die Zahl der Nahrungskonkurrenten der Quallen. Als Folge davon befürchtet GEOMAR-Forscher Martin Visbeck eine massive Störung der Nahrungsketten.

Zusätzlich dürfte die Erwärmung der Nordsee die Entwicklung und Vermehrung einiger Quallenarten beschleunigen. Beispiel Schirmquallen (Scyphozoa): Die Polypen produzieren in immer kürzerer Zeit immer mehr Ephyren (eine Larvenform), die zu Medusen heranwachsen. Ein Temperaturanstieg von 2,6 Grad Celsius in der Nordsee würde viele Fischarten von dort vertreiben. Dank der so reduzierten Nahrungskonkurrenten stünden den Schirmquallen nicht nur mehr Beute zur Verfügung, nach ihrer Fortpflanzung würden auch immer mehr Quallen überleben und sich ausbreiten.

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