Von Rasputin bis Putin

Douglas Smith über Wunderheiler und Wunderglauben, Erwartungen und Enttäuschungen

  • Lesedauer: 10 Min.

Wie kommt ein US-amerikanischer Wissenschaftler dazu, eine voluminöse Biografie über Grigori Rasputin zu schreiben? Was fasziniert Sie an dieser obskuren Gestalt aus dem vorrevolutionären Russland?

Ehrlich gesagt hatte ich bisher überhaupt kein Interesse an ihm. Während der Recherchen zu meinem vorangegangenen Buch »Der letzte Tanz« über den Untergang der russischen Aristokratie stieß ich aber immer wieder auf seinen Namen, in Briefen, Memoiren, Zeitungsartikeln. Da wurde ich neugierig, wollte herauszufinden, wer dieser Mann wirklich war. Es gibt zwar bereits ungefähr 150 Biografien über Rasputin, und ich habe sie fast alle gelesen, hatte aber das Gefühl, dass sie nicht über den Menschen berichten, sondern nur eine Karikatur vermitteln: ein verrückter, diabolischer Mönch, teuflischer Satyr, der wahre Zar und Patriarch von ganz Russland. Ich musste zurück zu den Quellen. Das haben die meisten Biografen nicht getan.

Ich habe natürlich viel in Moskau und Petersburg gearbeitet, auch in Sibirien, in Tobolsk und Tjumen, aber ebenso in Berlin, Wien, Paris und London diplomatische Depeschen studiert. Ich entdeckte viele Dokumente, die ein neues Licht auf diesen Mann und die turbulente Zeit werfen, in der er lebte und wirkte.

Würden Sie sagen, dass der vermeintliche Wunderheiler und Hellseher, der in den Salons von Sankt Petersburg herumgereicht wurde und schließlich auch in den Palästen der Zarenfamilie ein- und ausging, ein Menetekel des Untergangs des alten Reiches war? Wer einem religiösen Fanatiker verfallen ist, kann kein Reich regieren. Zudem: Kurz vor seiner Ermordung am 30. Dezember 1916 durch eine Adelsclique, die sich an seinem Einfluss auf den Zaren störte, soll Rasputin Nikolaij II. prophezeit haben: »Wenn ich sterbe oder wenn ihr mich fallen lasst, werdet ihr euren Sohn und die Krone verlieren.«

Es gibt eine Unmenge von Mythen und Legenden über den diebischen, sexuellen Ausschweifungen und dem Alkoholismus frönenden, Zar und Zarin verhexenden Mönch. Nach dem Sturz der Romanows weiteten sie sich aus. Rasputin war jedoch weder ein Teufel noch ein Heiliger. Wichtiger als das Wissen, wo er sich wann aufhielt und mit wem er sich traf, was er gesagt, getan oder nicht getan hat, war für mich das Erkennen des Bildes von Rasputin in den Köpfen der Russen. So trieben mich zwei Motive an: einerseits zu erkunden, was geschehen ist, anderseits, was man glauben wollte und wieso die Vorstellung von Rasputin einen maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung im revolutionsschwangeren Russland und den Fall des Hauses Romanow haben konnte.

Ist der Glaube an Wanderprediger und Wundertäter eine russische Spezifik? Sie berichten, dass derer allein an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine Million landauf, landab unterwegs waren.

Sie fanden nicht nur in den »unteren« Schichten, unter den Bauern, die mehrheitlich Analphabeten waren, sondern auch »oben«, bis in die höchsten aristokratischen Kreise Gehör und Anhänger. Diese Pilgrims, im Russischen »Straniki« genannt, zogen quer durch das riesige russische Reich, von einer Kirche zur anderen, suchten Erleuchtung, spirituelle Weisheit. Wie so oft in Zeiten des Umbruchs oder einer sich ankündigenden Zeitenwende gab es damals eine Renaissance des Religiösen. Spiritismus, Okkultismus, Mystizismus waren sehr populär. Nicht nur in Russland, auch in Amerika, in England und wahrscheinlich auch in Deutschland.

Was hat Rasputin von den anderen Wanderpredigern unterschieden?

Er kannte die Heilige Schrift fast auswendig und konnte sehr lebendig und ausdrucksstark über die Bibel reden. Das unterschied ihn auch von den offiziellen Geistlichen. Hinsichtlich der adligen Gesellschaft kam deren Annahme hinzu, über Rasputin als einem Mann aus dem Volk Kontakt zum Volk zu erlangen.

Dessen Not der »feinen Gesellschaft« ansonsten egal war.

Ja, aber es war die sogenannte »Silberne Ära« in der Geschichte Russlands, in der sich Schriftsteller, Künstler, Philanthropen für die Volksseele interessierten.

Spiritualität scheint im heutigen Russland wieder stark zu sein?

Sie ist aber meiner Meinung nach nicht dieselbe. Zwar ist die Kirche wieder Stützpfeiler von Staat und Gesellschaft und zieht auch viele junge Leute an. Die Mentalität ist jedoch eine andere. Damals erschien die offizielle orthodoxe Kirche zu formalistisch, zu bürokratisch und war suspekt als Träger des verhassten Regimes. Man glaubte lieber Leuten wie Rasputin, die echte religiöse Glut zu versprühen schienen.

Interessant ist, dass Rasputin Russland aus dem Weltkrieg raushalten wollte.

Ein angeblich von Grund auf bösartiger Mensch hat sich die Lehren Christi zu Herzen genommen, es sei wider den Willen Gottes, Menschen zu töten. Er versuchte im Sommer 1914, den Zaren zu überreden, nicht in den Krieg zu ziehen. Obwohl er damals halbtot in einem Spital in Tjumen lag, in Folge eines Attentats, schrieb er diesen unglaublich prophetischen Brief an Nikolaij. Er ist im Original überliefert, im Archiv der Yale University im Bundesstaat Connecticut. Ich habe den Brief in meinen Händen gehalten. Für einen Historiker ein beglückendes Gefühl.

Sympathisch an Rasputin war auch, dass er den Antisemitismus ablehnte. Juden und Christen hätten den gleichen Gott, betonte er. Seine Ermordung erfolgte nicht wegen seines Einflusses auf die Politik. Er hat auch keine militärischen Geheimnisse an Deutschland verraten. Er war ein willkommener Sündenbock für die Niederlagen Russlands im Krieg.

Nomen est omen, sagt man. Stimmt das bei Rasputin?

»Rasputnik« bedeutet im Russischen ein sehr verdorbener Mensch. Aber sein Name hatte gar nichts zu tun mit seiner Persönlichkeit oder dem, was aus dieser gemacht wurde. Es gab viele Leute in Sibirien mit diesem Familiennamen. Aber weil dieser im Russischen keinen schönen Klang hat, bekam er vom Zar einen aufwertenden Beinamen: »Nowoj«, der Neue. Ab 1907 hieß er nicht nur Grigori Jefimowitsch Rasputin, sondern Grigori Jefimowitsch Rasputin Nowoj. In der Briefen von Alexandra und Nikolaij wurde er aber immer nur »Grigori« oder »unser Freund« genannt.

Weil er mehrfach dem Zarewitsch Alexej, der Bluter war, das Leben gerettet haben soll durch seine Heilkräfte und Gebete?

Nicht nur deshalb, auch weil er für den Zaren und vor allem die Zarin in schwierigen Zeiten immer da war.

Die Bolschewiki haben nicht nur der Religion als Opium für das Volk den Kampf angesagt, sondern jedwedem Aberglauben. Sie wollten Russland zu einem modernen, säkularen Staat umformen.

Ja. In gewisser Weise war aber auch der Bolschewismus ein neuer Glaube, er bot eine neue Religion an. Es war kein Zufall, dass diese Bewegung in Russland entstand.

Lenin, Trotzki, Kamenew, Sinowjew, Bucharin etc. waren konsequente Atheisten.

Aber sie glaubten an die Revolution und an Marx und Engels wie Rasputin an die Heilige Schrift geglaubt hat.

Was war Ihrer Ansicht nach der Schlüssel zum Erfolg der Bolschewiki? Sie errichteten immerhin eine völlig neue Gesellschaftsordnung auf einem Sechstel der Erde.

Weil das alte System allen Respekt und Vertrauen verloren hat. Niemand glaubte mehr an die Monarchie, alle hassten die Romanows. Und sie hassten den Krieg, der auch nach der Abdankung des Zaren fortgeführt wurde, von der Provisorischen Regierung, die damit ihren Kredit verspielte. Die Bolschewiki versprachen Frieden, Land und Brot, wonach sich das Volk hauptsächlich sehnte. Die Bolschewiki hatten einen Plan, die anderen nicht. Deswegen waren sie im Oktober/November 1917 erfolgreich. Aber es hat lange gedauert, bis sie ihre Macht etablieren konnten - bis 1921/22.

Russland wurde nicht nur von einem blutigen Bürgerkrieg, sondern auch von Interventen heimgesucht, darunter US-Truppen.

Und von Engländern und Japanern. Die Intervention hat meiner Meinung nach keine so große Rolle gespielt, wie ihr später zugeschrieben wurde.

Was war die Ur-Sünde der Bolschewki, die den hoffnungsvollen Anfang in sein Gegenteil verkehrte, den Traum in einen Albtraum unter Stalin verwandelte und schließlich in den Untergang auch des Sowjetimperiums führte?

Oh, das ist eine schwierige Frage. Wasmoschno ... Entschuldigung, ich will immer Russisch sprechen. Es ist eine sehr schöne, klangvolle Sprache. Nun ja. Zur Frage: Vielleicht, weil die Bolschewiki glaubten, auf sich allein gestellt und sofort die gesamte Gesellschaft umkrempeln zu müssen. Und weil sie ihre politischen Konkurrenten nicht nur als Gegner ansahen, sondern als Feinde, die vernichtet werden müssten. Das mündete dann in eine Sackgasse.

Der Kult um Stalin, der sich von der intellektuellen Elite und dem Volk wie ein Messias feiern ließ, lässt wieder an Rasputin denken.

Man kann Ähnlichkeiten auch in der russischen Gegenwart entdecken.

Meinen Sie Putin, an dessen 65. Geburtstag in Moskau gegen ihn demonstriert wurde?

Die Bilder habe ich auch gesehen. Es waren viele junge Leute auf der Straße. Sie riefen nur den einen Namen: »Nawalny.« Das finde ich problematisch. Da schimmert der Glaube durch, ein Mann könne alles besser machen. Ob Nikolaij, oder Kerenskij, Lenin oder Stalin, Putin, oder Nawalny - nicht die Person ist entscheidend, sondern die Gesellschaft. Wobei ich die Rolle historischer Persönlichkeiten nicht negiere. Aber zu glauben, ein einzelner Mensch könne alles ändern, ist gefährlich.

Peter der Große hat für Russland das Tor zum Westen aufgestoßen. Jetzt ist es zugeschlagen. Mit Donald Trump im Weißen Haus glaubte mancher, es käme zu einem besseren Verhältnis zu Russland.

Mir wäre lieber, wenn wir nicht über meinen Präsidenten reden. Ich bin nicht sein Fan. Er ist meiner Meinung nach ein gefährlicher Mensch. Zu Ihrer Frage: Es hat zwischen den USA und Russland oder der Sowjetunion fast immer Missverständnisse und Konflikte gegeben. Und es gab immer Momente, in denen wir enger zusammenarbeiteten.

In der Antihitlerkoalition oder beim SALT-Abkommen zum Beispiel.

Ja. Und ich glaube, wir sollten stets im Dialog bleiben, gemeinsam herauszufinden versuchen, was uns gleichermaßen wichtig ist, ob Abrüstung, Antiterrorkampf, Schutz der Ökologie und so weiter. Natürlich sind unsere Interessen nicht immer die gleichen, aber wir müssen dennoch immer wieder Kontakt zueinander suchen und finden.

Putins nach wie vor große Zustimmung in der Bevölkerung Russlands scheint sich dem Umstand zu verdanken, dass er das Land aus der großen nationalen Demütigung und dem wirtschaftlichen Chaos der Jelzin-Ära herausgeführt und wieder zu einer Großmacht gemacht hat?

Das stimmt. Ich habe in den 90er Jahren in Russland gelebt. Es war wirklich schrecklich, was da geschehen ist. Eine sehr chaotische Zeit. Vielleicht ist das ein Klischee, aber mir scheint es, als ob die Russen stets zwischen den Extremen pendeln: Anarchie oder Diktatur. Es fällt Russland schwer, einen Platz in der Mitte zu finden.

Haben Sie schon ein neues Buchprojekt im Sinne?

Ja, und das befasst sich wieder mit der russischen Geschichte. Zu Ende des Bürgerkriegs brach 1921 in Russland eine furchtbare Hungersnot aus. Maxim Gorki hat mit Unterstützung von Lenin einen Brief an die Welt geschrieben: »Bitte helfen sie uns!« Und sogar bei uns in den USA wurde, unter anderem durch Herbert Hoover, der später Präsident wurde, die American Relief Administration gegründet, die ungefähr 60 Millionen Dollar Hungerhilfe aufbrachte und 300 junge Männer nach Sowjetrussland schickte. Zwei Jahre lang haben sie jeden Tag elf Millionen Menschen genährt. Amerika hat viele schlimme Dinge gemacht, aber dieses Kapitel ist ein löbliches in seiner Geschichte. Zumal dies in der so genannten »Red Scare«-Ära geschah, als ständig die »Rote Gefahr« beschworen, den Amerikanern Angst und Schrecken vor den Bolschewiki eingeredet wurde. Ich versuche, diese Geschichte aus dem Blickwinkel von vier jungen Männern zu erzählen, die damals nach Russland reisten und uns viele Briefe und Tagebücher hinterließen.

Waren jene auch bei Lenin zu Besuch wie der Journalist John Reed?

Nein, aber der Leiter der American Relief Expedition, William N. Haskell, könnte Lenin getroffen haben. Hauptsächlich hatte er aber mit Kamenew, Trotzki, Dserschinski zu tun.

Was bleibt von der Russischen Revolution?

Eine traurige Erinnerung.

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