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  • »Lenin« von Milo Rau

Die letzten Tage der Menschheit

»Lenin« - Milo Rau erzählt an der Berliner Schaubühne vom Todeskampf der Revolution

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 5 Min.

Was nicht einmal den schlechtesten Lehrern gelungen ist, das hat Guido Knopp erledigt. Bedeutende Ereignisse, herausragende Persönlichkeiten und schwere Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts kann sich kaum ein Spätgeborener ohne gefühlige Musik samt prätentiösem Off-Kommentar vorstellen. Knopp ist seit den neunziger Jahren ganzen Generationen zum Hausregisseur im historischen Kopfkino geworden. Seine finstere und intime Ästhetisierung von Russischer Revolution, Holocaust oder Kaltem Krieg suspendierte Fakten zugunsten eines knackigen Spannungsbogens - ideologisch angereichert mit einer Dämonisierung des Sowjetsozialismus durch den permanenten Vergleich mit der Nazi-Diktatur.

Als der Schweizer Regisseur Milo Rau entschieden hat, ein Theaterstück über Lenin zu schreiben und es gleich selbst an der Berliner Schaubühne zu inszenieren, da muss er um diese Sehgewohnheit des deutschen Publikums gewusst haben. Er konnte nicht noch einmal den russischen Revolutionsführer im plombierten Zug in die Heimat eilen lassen, nicht wieder Trotzki im wehenden Ledermantel an der Front zeigen und nicht erneut präsentieren, wie Stalin bei Lenins Begräbnis ein Triumphlächeln mühsam unterdrückt. Also fasste Rau den Entschluss, sich auf Lenins letzte Tage zu konzentrieren und die Titelfigur durch einen umsichtigen Cast gar nicht erst auf einen theatralen Sockel zu stellen.

Die Hauptrolle, dieser Eindruck entsteht schon beim ersten Blick auf die Szenerie (Bühne: Anton Lukas und Silvie Naunheim), die kommt hier dem detailgetreu nachgebauten Landhaus bei Moskau zu, in dem Lenin sechs Jahre nach der Oktoberrevolution nach mehreren Schlaganfällen als sabbernder Schatten seiner selbst dem Tod entgegenvegetiert. Es ist wie in dem Film »Psycho« von Alfred Hitchcock: Das Anwesen scheint Augen zu haben, die unablässig das Publikum fixieren. Es dient den Bewohnern aber auch als Rückzugsort, als Festung und als Bunker. Darin machen die Stützen des Umsturzes große Politik - für die Massen und abgeschirmt von den Massen.

Den Ensemblemitgliedern bleibt zu Beginn nur der Bühnenrand; links auf Stühlen den Auftritt herbeisehend und rechts am Schminktisch sich auf den Auftritt vorbereitend. Felix Römer, der unverkennbar den Leo Trotzki spielen soll, spricht über seinen Vater. Der habe den Sohn frühzeitig mit der »richtigen« Literatur versorgen wollen. So kam er zu »Der junge Lenin« von Trotzki - bis heute, das sieht auch Römer so, ein großartiges Buch. Kay Bartholomäus Schulze, der sich zu Lenins Leibarzt Fjodor Guetier kostümieren lässt, spürt Neid in sich. Neid auf Leute, die sich der Oktoberrevolution unbefangen nähern können, weil sie den real existierenden Sozialismus nicht erlebt haben. 2005 sei er in Moskau gewesen und habe am Roten Platz zwei lange Wartereihen erblickt: eine vorm Lenin-Mausoleum und eine vor der McDonald’s-Filiale.

Zwischen den beiden Männern sitzt Ursina Lardi. Sie schweigt. Ihrem Äußeren ist nicht anzusehen, wen sie mimen wird. Da stapft Trotzki davon und stellt den Zuschauern die handelnden Personen vor. Ihn begleiten zwei Kameras, die weite Teile der zweistündigen Aufführung mit dem bewährten Milo-Rau-Mittel der optischen Dopplung auf eine Leinwand übertragen. Im akustischen Hintergrund wummern nicht etwa manierierte Geschichtsfernsehfilmklänge. Stattdessen plätschern Johann Sebastian Bach und leises Donnergrollen vor sich hin.

Die Pointe kommt schon am Ende dieses sehr langen Vorspanns: Ursina Lardi ist Lenin - ohne Bart und ohne Halbglatze. Eine als Lenin maskierte Frau, so hat es sich Milo Rau vielleicht gedacht, hätte Guido Knopp bestimmt gefallen, es wäre aber nur lächerlich gewesen. Überhaupt nimmt Lenin wenig Raum ein. Wo er auftaucht, brabbelt er schlaganfallbedingt wirres Zeug, weist die Untergebenen zurecht oder kotzt sich die Seele aus dem Leib.

Die Kombattanten sind die sich in dieser Datsche um Deutung und Fortgang der Revolution balgenden Trotzki, Lunatscharski (Ulrich Hoppe), Krupskaja (Nina Kunzendorf) und Stalin (Damir Avdic). Wäre die Sprache nicht so bildungsbeflissen, wären die Gedanken nicht so klug, wäre der kulinarische Geschmack nicht so distinguiert, man könnte sich in einer Seifenoper wähnen. Genug Leidenschaft ist jedenfalls im Spiel, und auch Lenins in klaren Momenten durchbrechender Zorn (»Draußen verhungert das Volk und wir fressen wie die Zaren!«) bringt Emotionen hinein, die nur noch durch Stalins Einfalt übertroffen werden.

Der spätere Sieger des Nachfolgekampfes macht sich am Beispiel Trotzkis und Lunatscharskis über Intellektuelle lustig. Trotzki wiederum verachtet Stalin, dem er als georgischen Bauerntölpel nichts zutraut. Während Trotzki in brillanter Rhetorik auf der Veranda von seinen jüngsten Theaterbesuchen schwärmt, arbeitet Stalin an der Sakralisierung des Mannes auf dem Sterbebett. Er reicht dem Delirierenden den ersten Entwurf des Marx-Engels-Lenin-Dreigestirns und kann über dessen Ablehnung des Personenkultes nur lachen.

Weil im Parkett niemand sitzen dürfte, dem der verhängnisvolle Ausgang der Geschichte unbekannt ist, kann Milo Rau dem Naturalismus huldigen und das Haus sich quälend langsam um die eigene Achse drehen lassen. Er leuchtet die Erleuchteten minutiös aus, ohne sie vorzuführen. Das erzeugt langatmige Episoden, die auszuhalten sich allein darum lohnt, weil gerade sie zeigen, dass dieser Winter 1923/24 das Ende eines außergewöhnlichen Menschen markiert, der später im Sinne des Stalinismus hoffnungslos mystifiziert wurde.

Um ganz sicher zu gehen, dass auch wirklich alle das genau so und nicht anders verstehen, muss Ursina Lardi gegen Ende dann doch noch einmal am Schminktisch mit Bart- und Halbglatzenkleber bestückt werden. Lenin ist jetzt zur Ikone entstellt, und den melancholischen Soundtrack zu diesem Abgesang liefert nicht mehr Johann Sebastian Bach, sondern Leonard Cohen mit »Who by Fire«, das verschiedene Arten des Todes thematisiert. Es ist die musikalische Antwort auf einen Satz, den Trotzki zuvor fast allen Beteiligten mehrmals aufs Butterbrot geschmiert hat: »Die Revolution stirbt!«

Nächste Vorstellungen: 4., 5., 16. November

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