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Unterricht in zwei Sprachen

Kita-Projekt in Schöneberg fördert Gebärdensprache - auch bei hörenden Kindern

  • Maria Indyk
  • Lesedauer: 3 Min.
Das Geräusch der Klingel und ein Lichtblitz kündigen das Ende der Pause an. Die Schüler kehren in ihre Klassenräume zurück. Zwei Lehrkräfte betreten den Raum. Die Lehrerin verschafft sich stimmlich Gehör, der Lehrer stampft mit dem Fuß auf: »Alle mal hersehen, bitte«. Der Unterricht beginnt und findet zweisprachig statt: in der Laut- und der Gebärdensprache. Gehörlosen und schwerhörigen Kindern wird der Stoff in Gebärdensprache vermittelt, Hörende folgen dem Unterricht in der Lautsprache. Von diesem Schulalltag profitieren Hörende und nicht Hörende. Die Gebärdensprache unterstützt den Lese- und Schriftspracherwerb hörender Kinder und schützt vor »Sprachlosigkeit«. Sollten sie durch einen Unfall, eine Erkrankung oder im Alter von Hörverlust betroffen sein, können sie mit einer lautlosen Sprache kommunizieren. Mit der Gebärdensprache lassen sich auch Ausdrucksfähigkeit, Merkfähigkeit und Koordination der Schüler verbessern: durch die Bewusstwerdung der Bewegungsabläufe. Der Vorteil für gehörlose und schwerhörige Menschen liegt in der Integration und in einer mit Hörenden vergleichbaren Bildung. Die hörenden Schüler der Klasse »gebärden« so gut, dass sie sich problemlos mit den beiden gehörlosen und einem schwerhörigen Kameraden unterhalten können. Der Kreis derer, die mit den Händen sprechen, vergrößert sich und so bleiben die, die nichts hören, nicht mehr nur unter sich. Das neue Schulsystem bewirkt, dass gehörlose Schüler die Bildungseinrichtungen ohne massive Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben verlassen. Sie erraten den Unterrichtsstoff nicht mehr durch Lippen ablesen, sondern Bildung wird in Gebärdensprache vermittelt. Ihre gesellschaftliche Ausgrenzung gehören der Vergangenheit an. Berlin war die erste deutsche Stadt, die mit dem zweisprachigen Unterricht die Weichen für eine neue und erfolgreiche Bildungssituation stellte. Die bildungspolitisch Verantwortlichen ließen sich von Österreich und den USA inspirieren, denn dort füllten bereits zwei Sprachen den Raum. Wir schreiben das Jahr 2030. Von der Utopie »Zwei Sprachen füllen den Klassenraum« des Jahres 2030 kehren wir zurück zur Realität des Jahres 2007. »Hörende Kinder gebärden sich schlau« heißt ein Projekt in der Kita Crellestraße, dass der Kiezfonds Kolonnenstraße durch seine finanzielle Unterstützung ermöglicht. Verblüffende Erkenntnisse werden genutzt: die Gebärdensprache erhöht die Sprachkompetenz hörender Kinder. Sie erkennen nämlich Buchstaben und Laute besser, verfügen über einen größeren Wortschatz und überflügeln sogar in der Rechtschreibung nicht gebärdende Kinder. Ein weiteres Untersuchungsergebnis stellte einen deutlich höheren Intelligenzquotient bei 8-Jährigen fest, die als Baby die landeseigene Gebärdensprache lernten. Im Jahr 2007 beleben - zwei Mal wöchentlich und unterteilt in unterschiedlichen Altersgruppen - zwei Sprachen den Raum einer Schöneberger Kindertagesstätte. In Österreich und dne USA ist die beschriebene Schulsituation bereits keine Zukunftsmusik mehr. In Österreich wurden gehörlose und hörende Kinder gemeinsam von gehörlosen und hörenden Lehrerinnen und einer Dolmetscherin (ÖGS-Deutsch) dem normalen Volksschullehrplan entsprechend unterrichtet. In den USA wird seit 2004 ein zweisprachiger Unterricht praktiziert: in Englisch und der ASL, der amerikanischen Gebärdensprache.

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