Mit leisen Tönen zum großen Erfolg

Oliver Zille leitet seit 16 Jahren die Leipziger Buchmesse

Hastig schlingt Oliver Zille einige Löffel seines Bohneneintopfs hinunter und schaut auf die Uhr. »Viele Leute warten auf uns, wir sollten versuchen, halbwegs pünktlich zu sein.« Erst vor einer viertel Stunde haben wir uns in der Gästelounge des Messegeländes niedergelassen, nun geht es schon weiter zum Personalbriefing am anderen Ende des Gebäudekomplexes, wo rund 120 Mitarbeiter warten. Als wir uns erheben, bleibt die Suppenschüssel kaum angerührt zurück. Auf dem Weg durch die langen Gänge trifft Oliver Zille immer wieder auf Kollegen, für die er trotz der Zeitnot ein Lächeln und ein nettes Wort übrig hat. Noch im Laufen erzählt er von der Geschichte der Buchmesse, in einem Tempo, das dem seiner Schritte gleichkommt.
Der Saal ist randvoll und der Großteil der Stuhlreihen mit Studenten besetzt. Wie Oliver Zille da vorne steht, mit einer Hand am Pult abgestützt und der anderen lässig an der Hüfte, entspricht er kaum dem Bild, das man sich von einem Buchmesse-Direktor machen würde. Mit seiner schlanken Figur und dem kurzen Igelhaarschnitt könnte man ihn eher für einen ehemaligen Sportler halten. In seinem Gesicht deuten die Spuren kleiner Falten um Augen und Mund auf einen Menschen, der gerne lacht. Mit weichem sächsischen Akzent, der seine Worte abfedert, lässt er einen dezenten Humor in seine Ausführungen einfließen und erntet häufige Lacher. Nachdem er begonnen hat, die lange Liste der Preise aufzuzählen, die auf der Buchmesse vergeben werden, meint er beiläufig: »Es gibt noch 'ne Menge weiterer Preise. Das stelle ich jetzt Ihrer Lesekunst anheim, die noch herauszufinden.«
Ihm selbst war diese Kunst lange Zeit fremd. Als Kind hat er nie gelesen - sein Interesse erwachte erst durch Freunde, deren Elternhäuser umfangreichen Bibliotheken besaßen, in denen es auch »Westbücher« zu lesen gab. Wenn der Vater seines besten Freundes auf Dienstreise war, hatte der 13-jährige Oliver meist einen Tag Zeit, um sich eines der Bücher auszuleihen, es über Nacht »durchzuschroten« und am nächsten Tag zurück ins Regal zu stellen. »Das war grandios!« meint er noch heute.
Als wir uns nach der Versammlung wieder in der Lounge einfinden, unternimmt Oliver Zille einen zweiten Versuch, ein Mittagessen zu sich zu nehmen. Während die Bockwürste auf dem Teller dampfen, erzählt er, dass es heute, wenn er auf einer seiner zahlreichen Dienstreisen unterwegs ist, »nichts schöneres« für ihn gibt, »als keinen Laptop dabei zu haben, sondern ein Buch«. Er bevorzugt es, mit Büchern allein zu sein - »Lesungen sind nicht ganz mein Thema. Ich brauche dieses ganze Gedöns drumherum nicht. Manche Autoren lesen gut, manche schrecken aber eher ab. Das darf man gar nicht laut sagen, aber es ist so«, schmunzelt er ungeniert. An dem Festival »Leipzig liest« faszinieren ihn weniger die Einzellesungen, sondern vielmehr die Kombination, durch die man von einer Lesung zur anderen »surfen« und Entdeckungen machen kann.

Berufswunsch: Messe
Wie ist er dann Direktor der Leipziger Buchmesse geworden? »Das wüsste ich auch gerne«, lacht Oliver Zille auf und lässt sich in den weichen Ledersessel zurückfallen. »Das frage ich mich jeden Tag!« Seine braunen Augen blitzen vergnügt durch die Brillengläser. Die Idee, später bei der Messe zu arbeiten, kam ihm schon als kleiner Junge. »Denn die Messe war in Leipzig immer etwas Außergewöhnliches und überall präsent. In der Schule gab es sogar Einweisungen, dass wir die Mercedessterne von den Westautos nicht abschrauben sollten, und meine Eltern hatten oft Messegäste im Haus.« Diese Weltoffenheit faszinierte den Jugendlichen, so dass er nach der Schule eine kaufmännische Lehre im Buchgroß- und Außenhandel begann - mit der Hoffnung auf eine spätere Anstellung bei der Leipziger Messe. Mit Büchern hatte dieser Entschluss erstmal wenig zu tun, Oliver Zilles Neigung ging in Richtung Außenwirtschaft und Handel. So trat er dann nach seinem Studium an der Berliner Hochschule für Ökonomie 1988 in die Leipziger Messe ein.
Während der Wende durchlebte auch die Buchmesse einen großen Umbruch. Das gesamte zuständige Team hatte Leipzig verlassen und musste nun neu besetzt werden. Oliver Zille war gerade 30, hatte im Buchhandel gelernt und darum schon erste Kontakte in die Branche. 1991 wurde er gefragt, ob er nicht an der Buchmesse »mitarbeiten« möchte. Er betont dieses Wort und fügt hinzu, dass er das interessant fand und »nichtsahnend« zusagte. Dann begann für das kleine Team aus drei Leuten ein langer Lauf der Profilfindung und Vertrauensbildung. Das Fortbestehen einer zweiten Buchmesse neben der in Frankfurt (Main) war in der Branche umstritten, und auch der Publikumsbedarf schien gering. Leipzig verfolgte zwar schon zu DDR-Zeiten das Konzept einer leserorientierten Messe, doch konnte man nach dem Fall der Mauer die Bücher »der freien Welt« auch im Buchladen kaufen und musste dazu nicht mehr die Messe besuchen. Die vielen kritischen Stimmen waren für Oliver Zille eine Herausforderung, und seine persönliche Motivation entsprang einer Form von Lokalpatriotismus. Er hatte eine Aufgabe gefunden, mit der er sich identifizieren und an der er auch wachsen konnte - etwas für seine Stadt zu tun.
Das Samenkorn für die Idee einer neuen Leipziger Buchmesse legte der Club Bertelsmann, der 1991 mit dem Vorschlag einer großen Leseveranstaltung nach Leipzig kam und sowohl die Stadt als auch die Messe als Partner einbeziehen wollte. Der Buchmesse kam die Idee wie gerufen, und das Lesefest fand großen Anklang. Anschließend begannen die Schwierigkeiten einer langfristigen Umsetzung. Die Kosten, die beim ersten Mal von Bertelsmann übernommen wurden, mussten schrittweise auf die Verlage umgelegt werden. Dazu reiste Oliver Zille viel herum und leistete noch mehr Überzeugungsarbeit. Als »Leipzig liest« schließlich etabliert und sowohl Verlage als auch Besucher begeistert waren, hieß es plötzlich erneut, die Buchmesse werde nicht gebraucht, das Festival sei vollkommen ausreichend. Erst mit dem Umzug auf das neue Messegelände und der dadurch ermöglichten Verbindung von »Leipzig liest« mit der Buchmesse wurden die Diskussionen um ihre Berechtigung leiser. Noch bis ins neue Jahrtausend hinein sei ständig gefragt worden, was denn das Konzept dieser Buchmesse sei.

Endlich Anerkennung
Oliver Zille ist lange Zeit unter Druck gewesen, neue Nischen aufzuspüren, um das Profil der Leipziger Buchmesse zu schärfen. Er besuchte viele der großen Buchmessen dieser Welt und holte sich Anregungen. Überall suchte er nach Trends, die man aufgreifen und weiterentwickelt könnte. Die Idee für den Schwerpunkt Hörbuch fand er auf der Popkomm in Köln. Dort war diese Sparte wenig erfolgreich, da Hörbücher über den Buchhandel vertrieben werden, der auf der Popkomm nicht vertreten ist. Oliver Zille erkannte das Potenzial des Hörbuchs und nutzte die Lücke: »Wir haben das Publikum, die Verlage, die Distribution - das müsste eigentlich funktionieren«, dachte er sich. »Und es hat eingeschlagen wie eine Bombe.«
Oliver Zille wird nachdenklich. Den Kopf auf den Zeigefinger gestützt zieht er seine Augenbrauen hoch und stellt wie für sich selbst fest, dass es eigentlich zehn Jahre gedauert hat, bis »man wieder in normale Bahnen gekommen ist«. Während er davon erzählt, wie er hat »strampeln« müssen, um der Buchmesse die Anerkennung zu verschaffen, die sie heute bekommt, ist nichts von der Arroganz zu spüren, die Erfolg mit sich bringen kann. Wenn es um seinen Job geht, spricht er nicht einmal in der Ich-Form. Vielmehr bezieht er seine eigenen Verdienste in ein großes »Wir« oder unbestimmtes »man« ein: »Wir haben hier sozusagen Tag und Nacht gearbeitet. Jetzt erst, so langsam, kann man durchatmen.« Aber er könne doch stolz darauf sein, was aus der Buchmesse geworden ist. »Froh - ja. Stolz...?«, er wiegt ein wenig den Kopf hin und her, als wäre ihm die Bedeutung dieses Wortes fremd.
Oliver Zille mag die leiseren Töne, alles Gestelzte ist ihm zuwider. In seiner Weltsicht ist kein Platz für Selbstdarstellung. Darum liebt er auch die Osteuropäer und ihre Literatur. Diese würden die Dinge lockerer sehen und für ihre Sachen kämpfen, ohne sich in den Mittelpunkt zu schieben. »Ich finde, die Sache, die man tut, soll man richtig ernst nehmen - aber sich selbst darf man dabei nicht so wichtig nehmen.« Dieses Credo verkörpert Oliver Zille durch und durch - er braucht sich gar nicht zu profilieren, um Eindruck zu machen. Er ist ein Mann, der mit großer Bescheidenheit sehr weit gekommen ist. Das liegt vor allem an seiner Begeisterung für den Beruf. Seine Lieblingswörter während des Gesprächs sind »total spannend«, »grandios« und »klasse«. An der Art, wie er dabei die Vokale fröhlich in die Länge zieht, zeigt sich, dass er es ernst meint. Zu sich selbst hat er einmal gesagt »Solange ich hinter der nächsten Biegung noch etwas Interessantes sehen kann, mache ich den Job weiter.« Auch wenn er manchmal zweifelt, ob er sein ganzes Leben bei der Buchmesse verbringen möchte, denn die vielen Reisen und die ununterbrochene Suche nach Trends werden langsam anstrengend für ihn, so ist er sich doch sicher: »Es ist der schönste ...

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