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  • Deutsch-polnischer Streit um Reparationen

Wie mit der Brechstange

Deutsch-polnische Beziehungen auf dem nationalkonservativen Prüfstand

  • Holger Politt
  • Lesedauer: 8 Min.

Dass Jarosław Kaczyński von Deutschland und überhaupt von den Deutschen nicht viel hält, darf ihm nicht verübelt werden. Er bleibt damit unter den Polen nicht allein, auch gibt es eine Reihe berühmter Vorgänger, die ihm an Skepsis gegenüber dem westlichen Nachbarn nicht nachgestanden haben. Die berechtigten Gründe dafür liegen auf der Hand, die Geschichte im 20. Jahrhundert hat einen Verlauf in den gegenseitigen Beziehungen genommen, auch im 21. Jahrhundert nachwirken muss. Daraus ergib sich für einen weitblickenden Staatslenker allerdings die Frage, welches Verhältnis gegenüber dem großen und wichtigen Nachbarn im Westen denn aus Sicht des polnischen Interesses das beste sei. Kaczyński hat sich nun in dieser Frage entschieden, denn so wie bisher könne es nicht weitergehen. Das Verhältnis zwischen Polen und Deutschland ist zum Element der nationalkonservativen Wende geworden, in der seit 2015 vieles in Polen auf den richtigen, weil zukunftsträchtigen Weg gebracht werden soll.

Immer noch die traditionellen Feinde - Deutschland und Russland

Holger Politt

Holger Politt, Jahrgang 1958, stammt aus Greifswald. Der Historiker und Publizist ist Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau. 2016 veröffentlichte er gemeinsam mit Krzysztof Pilawski »Polens Rolle rückwärts. Der Aufstieg der Nationalkonservativen und die Perspektiven der Linken« im VSA Verlag, Hamburg.

Politt ist Mitglied im Beirat der außenpolitschen Zeitschrift »WeltTrends«, der Text stammt aus der aktuellen Ausgabe (134). Der Schwerpunkt des Heftes ist unter dem Titel »Schuld und Sühne« einem Reizthema der deutsch-polnischen Beziehungen gewidmet. Aus dem Editorial: »Die aktuelle Debatte um deutsche Kriegsreparationen zeigt, dass auch 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Frage deutscher Schuld nicht vom Tisch ist. Sicherlich ist die politische Instrumentalisierung dieses Themas möglich. Manches deutet darauf hin. Jedoch bleibt die Aussöhnung im deutschpolnischen Verhältnis eine gesellschaftliche Herausforderung, der sich auch dieses Journal nach 25 Jahren nach wie vor verpflichtet sieht.« Weitere Informationen und Bezugsmöglichkeiten finden sie unter welttrends.de.

Wenn Deutschlands Rolle in der Europäischen Union mit dem Brexit noch stärker werden wird, darf die führende Politik in Polen nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Schnell hatte Kaczyński im Sommer 2016 die generelle Richtung gewiesen - eine EU, die sich als Zusammenschluss von Vaterländern begreift, in dem in nationale Souveränität so wenig wie möglich eingegriffen werden darf. Sollte es dennoch geschehen, verlören die Schwächeren, gewännen die Stärkeren. Damit war der entscheidende Punkt gefunden, um die bisherigen Beziehungen zu Deutschland seit 1990 auf den Kopf zu stellen. Anstatt all die Zumutungen aus Brüssel treu und brav herunterzuschlucken, sollte von nun an immer Härte gezeigt werden, soweit das Nationalinteresse unmittelbar berührt ist. Zuletzt meinte Kaczyński stolz und verwegen, zur Not könne das Land gar ganz alleine durchkommen, niemand von außen werde jedenfalls diesem den Willen aufzwingen, dann werde es eben eine »Insel der Freiheit, der Toleranz und all dessen sein, was so überaus stark in unserer Geschichte gegenwärtig ist«.

Da nun in Polen fast jedes Kind weiß, wie sehr das Land in der augenblicklichen Phase seiner Entwicklung von den EU-Hilfen abhängig ist, braucht die Perspektive einer Insel, zu der das Land nach Ansicht des unbestrittenen Staatslenkers politisch zumindest eine Zeit lang werden könnte, entsprechende Erklärung. In dieser Hinsicht bleibt Kaczyński der Öffentlichkeit nichts schuldig. Die Logik der Sache ist bestechend, soweit man sich darauf einlässt, beim Zweiten Weltkrieg zu beginnen. Ausgangspunkt ist der Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939, mit dem die erneute Teilung Polens zwischen Deutschland und der Sowjetunion besiegelt worden war. Deren Vollzug im September 1939 hatte bedeutet, dass Polen in der Schusslinie der beiden miteinander konkurrierenden Mächte zerrieben worden war, weil die sich zunächst auf den gemeinsamen Beutezug gegen Polen und das Baltikum einigen konnten. Mit dem Überfall der deutschen Truppen und ihrer Verbündeten auf das nun sowjetische Territorium im Juni 1941 endete diese Anfangsphase, schlug endgültig um in die große, weltumspannende Entscheidungsschlacht.

Ab hier nun pocht Polens heutiger Staatslenker auf Konsequenz, denn selbstverständlich habe das Nationalinteresse der Polen in jenen gefährlichen Zeiten darin bestanden, das Polen in den Grenzen vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs von beiden Okkupanten zu befreien und die Grenzen wiederherzustellen. Der Konflikt mit der Befreiungsrolle, die nach dem Juni 1941 der Roten Armee objektiv zugefallen war, ist offensichtlich. Die Geschichte dieser Auseinandersetzung unter den Polen ist dramatisch, gleichsam tragisch, denn der von den Deutschen blutig niedergeschlagene Warschauer Aufstand vom August 1944 ist diesem Konflikt zwischen der Interessenlage der Anti-Hitler-Koalition und der aufrechterhaltenen eigenen Staatsräson zuzuordnen. Es soll hier nur am Rande erwähnt werden, dass Władysław Gomułlka noch im März 1944 bei Georgi Dimitrow schriftlich intervenierte, weil er die immer mehr Gestalt annehmenden Vorstellungen einer künftigen sowjetischen Westgrenze am Bug für einen schweren politischen Fehler hielt!

Die Kapitulation des Warschauer Aufstands im Oktober 1944 besiegelte alle Träume, mit Kriegsausgang die alten Grenzen Polens von 1939 zurückerhalten zu können. Von nun an hatte Stalin alle Trümpfe in der Hand, die Grenzlinien zwischen der Sowjetunion, Polen und Nachkriegsdeutschland nach eigener Interessenlage festlegen zu können. Er entschied sich für die sowjetische Westgrenze am Bug und - zur Überraschung vieler - für ein »starkes Polen«, das seinen großen Gebietsverlust im Osten nun auf Kosten Deutschlands im Westen ausgleichen wird. In den Beschlüssen von Jalta im Februar 1945 einigten sich die drei Großmächte der Anti-Hitler-Koalition auf die sowjetische Westgrenze und auf den entsprechenden großen Gebietsausgleich zugunsten Polens im bisherigen deutschen Osten. Mit dem Potsdamer Abkommen vom Sommer 1945 wurde zunächst die Oder-Neiße-Grenze als Trennungslinie zwischen dem »starken Polen« und der sowjetischen Besatzungszone festgelegt, die sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten als völkerrechtlich allgemein anerkannte Grenze zwischen Deutschland und Polen durchsetzen konnte. Die abschließende Regelung der Grenzfrage zwischen Deutschland und Polen ermöglichte es, aus der Oder-Neiße-Grenze einen der wichtigsten Brückenpfeiler der heutigen EU zu gestalten.

Glaubt man indes der heutigen offiziellen geschichtspolitischen Linie in Warschau, dann müssen diejenigen Generationen von Menschen, die sich nach 1945 in den neuen Grenzen und unter nicht einfachen Bedingungen an die Aufbauarbeit machten, um das von den Siegermächten zugesprochene Land zu integrieren und zu einem lebensfähigen Staatsorganismus zu gestalten, schlichtweg als Verräter am nationalen Interesse bezeichnet werden, während die bewaffneten Einheiten, die im Oktober 1944 nach der Niederlage des Warschauer Aufstands versprengt weiterkämpften - und zwar jetzt gegen die Rote Armee und ihren polnischen Verbündeten - nun zu Nationalhelden erhoben werden. Im engeren Kaczyński-Lager zeigt man sich überzeugt, der Zweite Weltkrieg sei in Polen erst 1989 beendet worden. Die Befreiung Polens von der deutschen Okkupation 1945 mündete in eine neue Okkupation - durch die Rote Armee und ihre polnischen Helfershelfer. Die Volksrepublik Polen sei nicht souverän gewesen, habe kein nationales Interesse vertreten oder gar durchsetzen können, sei in keiner Weise legitimiert gewesen. Ihre Existenz habe völlig dem sowjetischen Interesse in die Hände gespielt, die Anerkennung der Volksrepublik Polen durch die Westmächte nach der Beschlusslage von Jalta und Potsdam müsse als Verrat am treuesten Verbündeten aufgefasst werden. Die Anerkennung der sowjetischen Westgrenze am Bug habe die unheilvolle Teilung Polens durch den Hitler-Stalin-Pakt bestätigt, die Verschiebung Polens weit nach Westen an die Oder-Neiße-Grenze habe das Land zu einem Vasallen Moskaus gemacht, denn allein dort konnte - erpresserisch - nunmehr über die Sicherheit des Landes entschieden werden.

Wiedergutmachung durch Geldzahlungen

An diesem Punkt aber tauchen plötzlich nur noch zwei Möglichkeiten auf, die Sache wiedergutzumachen. Um nämlich geschichtliche Gerechtigkeit herzustellen, wie es Kaczyńskis Absicht ist, müssten entweder die Grenzen erneut verschoben werden, oder aber es müsste für die Verschiebung in die jetzigen Grenzen ein entsprechender Ausgleich gezahlt werden. Das Bild der Insel, die das auf seinen Werten beruhende Polen notfalls werden könne, verrät auch hier die Richtung: Es geht überhaupt nicht um erneute Grenzverschiebungen, die von vornherein aussichtslos und aus Sicht des polnischen Interesses gefährlich wie unsinnig wären, es geht allein um den Ausgleich in zahlbarer Münze. Die Zustimmung des Westens, Polens Grenzen mit dem Ausgang des Zweiten Weltkriegs zu verschieben, sei ein Verrat gewesen, der das Land nach den fürchterlichen Zerstörungen in die Fänge einer Herrschaft brachte, mit der eine Entwicklung wie im Westen ausgeschlossen worden sei. Die noch heute bestehenden Rückstände des Landes, weshalb EU-Hilfen nötig seien, ließen sich auf diesen historischen Bogen zurückführen: Zunächst die gewaltigen materiellen Zerstörungen und das unermessliche menschliche Leid während der Okkupation im Zweiten Weltkrieg, dann die Jahrzehnte, die eine normale, aufholende Entwicklung verhindert hätten.

Während Kaczyński früher gerne andeutend von einer allgemeinen Schuld des Westens gegenüber Polen sprach, weshalb die erhaltenen EU-Mittel nur ein sich nahezu von selbst verstehender später Ausgleich seien, spricht er seit diesem Sommer Klartext: Die Deutschen müssten die ausstehenden Reparationen zahlen, eine gigantische Summe, die Polen bislang vorenthalten werde. Es werde ein langer und mühsamer Weg sein, diese Forderungen umzusetzen, aber das werde Polen unter seiner Führung nicht mehr abhalten, sie in geeigneter Form nun mit Nachdruck zu präsentieren. So wie nahezu jede polnische Familie von den Zerstörungen und von dem menschlichen Leid im Zweiten Weltkrieg betroffen gewesen sei, so seien heute die meisten polnischen Familien noch immer von dem historischen Rückstand betroffen, der darauf gründe.

Der Vorgang ist eine seltsame Reaktion auf die nach wie vor bestehenden Entwicklungsunterschiede innerhalb der EU. Der möglichst schnelle wirtschaftliche Aufholprozess, der ohne Zweifel mit hohen sozialen Kosten verbunden ist, ist in Polen in seiner bisherigen Form in die Diskussion geraten. Die Angleichung geht vielen zu langsam voran, denn die Aussicht, in vielleicht zwanzig oder dreißig Jahren das Niveau Deutschlands oder Dänemarks erreicht zu haben, ist vielen keine Aussicht mehr. Kaczyński wirft nun einen Vorschlag in die ohnehin aufgeheizte polnische innenpolitische Debatte, der einen schlauen wie wagemutigen Ausweg zu weisen vorgibt. Ob es nur ein Strohfeuer ist, wird sich bald zeigen.

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