Ein Leben lang dran bleiben
Barbara und Winfried Junge über 46 Jahre und 400 000 Meter Film
ND: Am Karfreitag wird der RBB den vorletzten Film aus Ihrer Reihe »Die Kinder von Golzow« zum ersten Mal in einem Stück, noch dazu zur besten Sendezeit um 20 Uhr, ausstrahlen. Er heißt: »Und wenn sie nicht gestorben sind ...«. Können Sie ein bisschen darüber erzählen? Um wen wird es gehen?
Winfried J.: Sagen wir so: Es ist der erste Teil unseres definitiv letzten Films. Ursprünglich wollten wir einen letzten Film mit zehn Porträts machen. Aber dann mussten wir ihn auf fünf Porträts kappen, sonst wäre er zu lang geworden, sodass wir gesagt haben: Er wird der Anfang vom Ende. Es wird also noch einen zweiten Teil geben.
Barbara J.: »Und wenn sie nicht gestorben sind ...« ist die Geschichte vom langsamen Abschied. Von denen, mit denen wir einmal gedreht, mit denen wir irgendwann nicht weitergemacht bzw. die uns gesagt haben, sie wollen nicht mehr. Petra zum Beispiel hat uns Anfang der 80er Jahre per Telegramm mitgeteilt, sie habe an weiteren Filmarbeiten kein Interesse. Und Ilona soll 1983 mal gesagt haben, sie wolle sich nicht von der Wiege bis zur Bahre filmen lassen. Wir dachten, es wäre ganz gut, die Materialien, die wir hatten, zusammenzustellen und mit Interviews abzuschließen: Wie geht es ihnen heute?
Haben alle Ihnen diese abschließenden Interviews gewährt?
Barbara J.: Nein. Von Petra wissen wir gar nicht, wo sie ist. Wenn Frauen heiraten, nehmen sie einen anderen Familiennamen an. Außerdem sind die Eltern gestorben, sodass wir keinen Kontaktpartner hatten. Ilona ist angeschrieben worden und sagte, sie möchte nicht. Sie hätte sich den Film, bevor er endgültig fertiggestellt war, am Schneidetisch ansehen können. Das bieten wir allen an: Wir können ja auch Fehler gemacht haben. Aber Ilona wollte nicht.
Schmerzen Sie diese abgebrochenen Geschichten? Nicht zu wissen, wie sie weitergehen?
Winfried J.: Das ist zwiespältig. Wir können ganz froh sein, dass einige Geschichten schon so früh enden. Dadurch ist der Teil mit Petra nur 20 Minuten lang, sonst hätten wir gar nicht alles untergekriegt. Bei Ilona schmerzt es mich sehr. Dich, Barbara, ja nun weniger, weil du sie nicht von klein auf erlebt hast. Es ist traurig, dass sie uns so früh den Korb gegeben hat und nach der Wende nicht bereit war, sich noch einmal filmen zu lassen.
Können Sie sich die Verweigerung erklären?
Winfried J.: Nein, wir wissen gar nichts. Sie hat uns nie etwas gesagt. Es war nicht zu erwarten, dass gerade sie nicht mehr wollte. Da gab es ganz andere Kinder, bei denen ich dachte, die lassen wir lieber in Ruhe. Aber Ilona drängte sich geradezu vor die Kamera, kontrollierte mit Blicken, ob wir sie auch ordentlich drehen. Wenn sie etwas Gutes gesagt hatte, dann sah man ihr an, dass sie stolz war. Natürlich haben wir Fehler gemacht, in der Pubertät. Wenn man dann in Situationen dreht, in denen gerade Mädchen sehr empfindlich sind ...
Barbara J.: Die Mädchen waren da etwas schwieriger als die Jungen. Bei denen kam es später.
Winfried J.: Dann haben wir Ilona, das war möglicherweise der Knackpunkt, in der Abschlussprüfung der 10. Klasse in Mathematik gefilmt, da hat sie ja versagt. Sie teilt das auch mit, geht dann raus und fängt an zu schluchzen. Für unseren Film war es natürlich wichtig zu zeigen, dass nicht alle mit Glanz und Gloria bestehen, sondern manche es schwer haben. Wir haben sie auch mit ihren eigenen Worten entschuldigt. Sie sagte im Off über der Szene, dass sie zu Hause die Mutter ersetzen musste. Die Mutter war krank, und sie hatte einfach keine Zeit, sich vorzubereiten. Aber das hat sie vielleicht nicht so gesehen. Vielleicht sieht sie sich nur da stehen und denkt, ich bin diejenige, die in dem Film die Rolle des Versagers hat.
Zwischen diesem Ihrem vorletzten und dem ersten Golzow-Film liegen 46 Jahre, 400 000 Meter Film und 19 Filme. Warum damals eigentlich gerade Golzow?
Winfried J.: Zunächst einmal: Die Idee, einen Schulanfang zu drehen und die Kinder dann mit der Kamera durchs Leben zu begleiten, stammt von Karl Gass. Gass war es auch, der mir riet, irgendwohin zu gehen, wo die DDR schon ein bisschen zur Ruhe gekommen war. Ich sah mich zuerst in Eisenhüttenstadt um, dort gab es eine neue Schule mit zwanzig Klassen für ABC-Schützen, aber ich konnte mich für keine entscheiden. Ich fuhr dann zum Bezirksschulrat von Frankfurt (Oder), Hans-Joachim Laabs. Er empfahl mir eine der neuen Landschulen entweder in Briesen bei Fürstenwalde oder Golzow. Da der Schulanfang kurz bevorstand, entschied ich mich kurzerhand für die Schule, die ich mir zuletzt angesehen hatte - Golzow. Wichtig war auch, dass Golzow von Berlin aus schnell zu erreichen war. Dass die Gegend dort sehr geschichtsträchtig war, spielte für mich zunächst keine Rolle: Es ging mir nur um die Kinder.
Das Wort »Dokumentarfilm« enthält das Wort »dokumentieren«, und dokumentieren klingt, als täte da jemand etwas vollkommen objektiv, was bekanntlich nicht geht. Selbst »Elf Jahr alt«, Ihr angeblich einziger Film ohne Kommentar, ist natürlich kommentiert - durch jedes Bild, durch jeden Schnitt.
Winfried J.: Es gibt nur subjektive Dokumentarfilme, andere nicht.
Eine Langzeitdokumentation wie die Ihre ist ja deshalb so interessant, weil sich erstens die Pro- tagonisten verändern, zweitens die Filmemacher und drittens, nicht ganz unwichtig, die Zeiten. Gibt es Filme, die Sie aus heutiger Sicht noch einmal anders, besser machen würden?
Winfried J.: Heute gibt es die digitale Kamera, und damit kann man dem Geschehen ganz anders folgen. Wir sind statisch in unseren Filmen, oft lassen wir Platz nehmen vor der Kamera. Heute könnte man mit den Kindern laufen, damit sie sich in Räumen in allen möglichen Situationen bewegen. Das ging nicht.
Barbara J.: »Wenn man Vierzehn ist« ist vielleicht der Film, der am meisten von außen geprägt wurde: Unser damaliger Gruppenleiter wollte das sozialistische Moment reindrücken. »Diese Golzower. Umstandsbestimmung eines Ortes« war wohl auch nicht unser größter Wurf. Er war unsere einzige Fernsehproduktion und trägt deutlich die Spuren des Fernsehens. Da wurde gerade Marzahn aufgebaut, und wenn Marie-Luise, die ins neue Königs Wusterhausen gezogen ist, gefragt wird, was denn dort nun so anders sei als in Golzow, und sie antwortet, na ja, hier ist eben alles Beton, dann durfte das Wort »Beton« nicht fallen. Das waren wir vom Kino her nicht gewöhnt. In Neubrandenburg, wo das nationale Dokumentarfilmfestival stattfand, hörten wir die Fernsehleute oft klagen: Ihr habt es gut, ihr habt mehr Freiheiten, wir sind an der kurzen Leine.
Was würden Sie bei diesen Filmen heute anders machen?
Barbara J.: Noch mehr die Menschen reden lassen, eniger offiziell kommentieren. Gottseidank eine Unmenge Material übriggeblieben nicht nur das, was wir damals rausgeschnitten haben, weil man damit nicht so einverstanden war. Das kommt uns heute zugute.
Winfried J.: Unsere Haltung zu den Golzowern war nicht immer richtig. Vielleicht haben wir sie zu lange noch als Kinder betrachtet, wo sie schon längst kleine Erwachsene waren. Insofern haben wir sie vielleicht einerseits unterfordert. Andererseits haben wir sie auch überfordert, indem wir von ihnen etwas wissen wollten zu Dingen, die nicht ihre Themen waren. Man hätte generell mehr von ihnen ausgehen müssen. Es gibt zu vielen Themen des Erwachsenwerdens überhaupt keine Dokumente. Wir haben das nicht mitgekriegt oder haben es mitgekriegt und nicht sichern können. Das tut ein bisschen weh.
Halten Sie es für möglich, dass Ihnen später einige die Zusammenarbeit gekündigt haben, weil sie das Gefühl hatten, sich nicht ehrlich äußern zu dürfen?
Barbara J.: Wenn es um politische Fragen ging, war eigentlich nicht so viel von ihnen zu erwarten. Die waren nicht ihr Ding. Aber natürlich kam auch die Politik der DDR hinzu. Wir hatten ihnen ab 1986 gesagt: Jetzt könnt ihr reden, was ihr wollt, es wird nicht vor 1999, zum 50. Jahrestag der DDR, veröffentlicht. Trotzdem waren sie vorsichtig und wollten nicht mit allem raus.
Winfried J.: Ich will hinzufügen, dass ich natürlich immer abnehmbare Filme zu gewährleisten hatte. Das heißt, ich habe vor der Kamera doch staatserhaltend fragen oder mich zumindest verhalten müssen. Ich habe die längstmögliche Leine versucht, damit sie auch in Ecken hinein erzählen, wo es auf andere Weise auch wieder politisch wird. Natürlich hatte ich auch meine stereotypen Fragen. Die kannten sie durch die Lehrer, und das wars dann. Dann haben sie gekonnt geschwiegen oder sich mit Allgemeinplätzen rausgeredet, man sah auch, sie fühlten sich bedrängt und antworteten, wie sie dem Lehrer antworteten. Das konnte man dann sowieso vergessen.
Barbara J.: Aber nach der Wende wollten sie dann alles loswerden, das platzte so raus. Ich glaube, sie hätten es uns sehr übelgenommen, wenn wir damals nicht gekommen wären und sie interviewt hätten. Da wurde auch über die Enttäuschung gesprochen, die sie erlebt hatten, und was sie alles geärgert hatte in der DDR. In dieser Zeit konnte man mit ihnen viel über Politik reden. Bei privaten Dingen wurden sie dann aber vorsichtiger. Es kehrte sich um: Vor der Wende war privat alles und Politik eigentlich nichts, nun war es umgekehrt. Weil sie merkten, man muss ein gutes Bild von sich zeichnen, damit man eine Chance hat, im Berufsleben zu bestehen. Denn das ist ja nicht nur in dieser Gegend, in der die Arbeitslosigkeit hoch ist, ganz wichtig.
Arbeiten Sie heute anders als früher?
Winfried J.: Wir können Dinge in eine Beziehung setzen, die wir jetzt erst erkennen. Auch mal etwas richtig glänzen lassen, anderes dafür weglassen. Das ist das Schöne an dem Projekt: Mit einem neuen Film hat man die Chance, eine Sache noch mal neu zu sehen, also auch neu zu kommentieren.
Barbara J.: Es geht um Kleinigkeiten, kleine Szenen. Damals haben wir sie rausgeschmissen, weil wir glaubten, die taugen, die tragen nicht. Plötzlich sehen wir, wenn wir diese und jene Beobachtung dazusetzen, ergibt das ein ganz anderes Bild. Die Zeit, die sie durchlebt haben, spielt bei uns eine besondere Rolle. Die Wende war wirklich ein Wendepunkt, ein Wendepunkt in ihrem Leben. Wir haben immer gesagt: In der DDR ging es zu wie auf der Rolltreppe - die Lehrstelle war klar, Arbeit war da, Familie war geplant, irgendwann kriegte man eine Wohnung, vielleicht auch das Auto. Dann kam der Bruch, und sie mussten sich selber kümmern. Einige sind sehr gut zurande gekommen, andere leider auf der Strecke geblieben.
Gibt es ein Schicksal, das Sie besonders traurig macht?
Winfried J.: Wir wissen, dass nicht mehr alle aus dieser Klasse leben. Brigitte ist 1983 verstorben, und Jürgen aus unserem Film »Das Leben des Jürgen von Golzow« verstarb im vorigen Oktober an Folgen von Speiseröhrenkrebs. Das ist furchtbar, dass sie vor uns sterben. Über den Rest der Klasse wissen wir kaum etwas, auch die Gemeinde weiß nichts. Bernhard und Eckhardt, beide Landmaschinenschlosser, sind im Dorf geblieben. Die haben wir auch immer wieder neu gedreht. Eckhardt ist mit vier Kindern arbeitslos, Bernhard, der jetzt neu liiert ist, hat die übliche Anstellung von März bis November und ist über die Wintermonate ebenfalls arbeitslos.
1961, als Sie Ihr Projekt begannen, hatten Sie sich sicher eine andere Zukunft für »Ihre« Kinder vorgestellt.
Barbara J.: Sicher. Als sie 1961 zur Schule kamen, hatten wir hochfliegende Träume: dass einige vielleicht Doktoren, Professoren werden. Das sind sie nicht geworden. Sie sind im Rahmen ihrer Möglichkeiten mehr oder weniger glücklich, haben sich arrangiert. Wenn einer arbeitslos ist, kann er sowieso nicht so glücklich sein, und es sind eben eine ganze Menge darunter, die keine Arbeit mehr haben.
Winfried J.: Es gibt im Film »Elf Jahre alt« dieses Motiv: Alles fließt. Damals war das ein Stück Theorie, dann kam das Leben, und alles hat sich verändert. Nichts ist geblieben, wie es war. Der Staat ist weg, in den sie hineingeboren wurden. Manche haben sehr viel verloren: gute Arbeit, die Ehefrau oder den Ehemann. Und die Illusion, dass der Sozialismus funktioniert.
Wenn man sein Lebenswerk vollendet, ist auch das Ende der eigenen Lebenszeit absehbar. Wie gehen Sie damit um?
Winfried J.: Mit Vernunft. Wir sind in einem Alter, wo nicht mehr sehr viel drin ist. Eine unendliche Geschichte geht zwar immer weiter, aber unser Leben ist endlich. Entweder die Geschichte findet ein natürliches Ende, weil es unsereinen nicht mehr gibt, oder man beendet sie planvoll. Wir haben uns für Letzteres entschieden. Es gibt ja noch immer niemanden, der das nach uns übernimmt und fortsetzt.
Ihr jetziger Produzent, Klaus D. Schmutzer von der à jour Film- &Fernsehproduktion GmbH, will - gesponsert von »Neues Deutschland« - ein anderes Langzeitprojekt finanzieren: Zwei jüngere Filmemacher werden es in Berlin beginnen. Was halten Sie davon?
Winfried J.: Wie unser Projekt kann es nicht werden, das geht nicht. Es kann anders werden.
Sie würden die Leute ermutigen?
Winfried J.: Aber ja. Schon aus Neugier, wie die das anpacken und was dabei herauskommt. Sie dürfen sich in den Dimensionen nicht verschätzen. Sie müssen ein Leben lang dranbleiben.
Interview: Christina MatteND: Am Karfreitag wird der RBB den vorletzten Film aus Ihrer Reihe »Die Kinder von Golzow« zum ersten Mal in einem Stück, noch dazu zur besten Sendezeit um 20 Uhr, ausstrahlen. Er heißt: »Und wenn sie nicht gestorben sind ...«. Können Sie ein bisschen darüber erzählen? Um wen wird es gehen?
Winfried J.: Sagen wir so: Es ist der erste Teil unseres definitiv letzten Films. Ursprünglich wollten wir einen letzten Film mit zehn Porträts machen. Aber dann mussten wir ihn auf fünf Porträts kappen, sonst wäre er zu lang geworden, sodass wir gesagt haben: Er wird der Anfang vom Ende. Es wird also noch einen zweiten Teil geben.
Barbara J.: »Und wenn sie nicht gestorben sind ...« ist die Geschichte vom langsamen Abschied. Von denen, mit denen wir einmal gedreht, mit denen wir irgendwann nicht weitergemacht bzw. die uns gesagt haben, sie wollen nicht mehr. Petra zum Beispiel hat uns Anfang der 80er Jahre per Telegramm mitgeteilt, sie habe an weiteren Filmarbeiten kein Interesse. Und Ilona soll 1983 mal gesagt haben, sie wolle sich nicht von der Wiege bis zur Bahre filmen lassen. Wir dachten, es wäre ganz gut, die Materialien, die wir hatten, zusammenzustellen und mit Interviews abzuschließen: Wie geht es ihnen heute?
Haben alle Ihnen diese abschließenden Interviews gewährt?
Barbara J.: Nein. Von Petra wissen wir gar nicht, wo sie ist. Wenn Frauen heiraten, nehmen sie einen anderen Familiennamen an. Außerdem sind die Eltern gestorben, sodass wir keinen Kontaktpartner hatten. Ilona ist angeschrieben worden und sagte, sie möchte nicht. Sie hätte sich den Film, bevor er endgültig fertiggestellt war, am Schneidetisch ansehen können. Das bieten wir allen an: Wir können ja auch Fehler gemacht haben. Aber Ilona wollte nicht.
Schmerzen Sie diese abgebrochenen Geschichten? Nicht zu wissen, wie sie weitergehen?
Winfried J.: Das ist zwiespältig. Wir können ganz froh sein, dass einige Geschichten schon so früh enden. Dadurch ist der Teil mit Petra nur 20 Minuten lang, sonst hätten wir gar nicht alles untergekriegt. Bei Ilona schmerzt es mich sehr. Dich, Barbara, ja nun weniger, weil du sie nicht von klein auf erlebt hast. Es ist traurig, dass sie uns so früh den Korb gegeben hat und nach der Wende nicht bereit war, sich noch einmal filmen zu lassen.
Können Sie sich die Verweigerung erklären?
Winfried J.: Nein, wir wissen gar nichts. Sie hat uns nie etwas gesagt. Es war nicht zu erwarten, dass gerade sie nicht mehr wollte. Da gab es ganz andere Kinder, bei denen ich dachte, die lassen wir lieber in Ruhe. Aber Ilona drängte sich geradezu vor die Kamera, kontrollierte mit Blicken, ob wir sie auch ordentlich drehen. Wenn sie etwas Gutes gesagt hatte, dann sah man ihr an, dass sie stolz war. Natürlich haben wir Fehler gemacht, in der Pubertät. Wenn man dann in Situationen dreht, in denen gerade Mädchen sehr empfindlich sind ...
Barbara J.: Die Mädchen waren da etwas schwieriger als die Jungen. Bei denen kam es später.
Winfried J.: Dann haben wir Ilona, das war möglicherweise der Knackpunkt, in der Abschlussprüfung der 10. Klasse in Mathematik gefilmt, da hat sie ja versagt. Sie teilt das auch mit, geht dann raus und fängt an zu schluchzen. Für unseren Film war es natürlich wichtig zu zeigen, dass nicht alle mit Glanz und Gloria bestehen, sondern manche es schwer haben. Wir haben sie auch mit ihren eigenen Worten entschuldigt. Sie sagte im Off über der Szene, dass sie zu Hause die Mutter ersetzen musste. Die Mutter war krank, und sie hatte einfach keine Zeit, sich vorzubereiten. Aber das hat sie vielleicht nicht so gesehen. Vielleicht sieht sie sich nur da stehen und denkt, ich bin diejenige, die in dem Film die Rolle des Versagers hat.
Zwischen diesem Ihrem vorletzten und dem ersten Golzow-Film liegen 46 Jahre, 400 000 Meter Film und 19 Filme. Warum damals eigentlich gerade Golzow?
Winfried J.: Zunächst einmal: Die Idee, einen Schulanfang zu drehen und die Kinder dann mit der Kamera durchs Leben zu begleiten, stammt von Karl Gass. Gass war es auch, der mir riet, irgendwohin zu gehen, wo die DDR schon ein bisschen zur Ruhe gekommen war. Ich sah mich zuerst in Eisenhüttenstadt um, dort gab es eine neue Schule mit zwanzig Klassen für ABC-Schützen, aber ich konnte mich für keine entscheiden. Ich fuhr dann zum Bezirksschulrat von Frankfurt (Oder), Hans-Joachim Laabs. Er empfahl mir eine der neuen Landschulen entweder in Briesen bei Fürstenwalde oder Golzow. Da der Schulanfang kurz bevorstand, entschied ich mich kurzerhand für die Schule, die ich mir zuletzt angesehen hatte - Golzow. Wichtig war auch, dass Golzow von Berlin aus schnell zu erreichen war. Dass die Gegend dort sehr geschichtsträchtig war, spielte für mich zunächst keine Rolle: Es ging mir nur um die Kinder.
Das Wort »Dokumentarfilm« enthält das Wort »dokumentieren«, und dokumentieren klingt, als täte da jemand etwas vollkommen objektiv, was bekanntlich nicht geht. Selbst »Elf Jahr alt«, Ihr angeblich einziger Film ohne Kommentar, ist natürlich kommentiert - durch jedes Bild, durch jeden Schnitt.
Winfried J.: Es gibt nur subjektive Dokumentarfilme, andere nicht.
Eine Langzeitdokumentation wie die Ihre ist ja deshalb so interessant, weil sich erstens die Pro- tagonisten verändern, zweitens die Filmemacher und drittens, nicht ganz unwichtig, die Zeiten. Gibt es Filme, die Sie aus heutiger Sicht noch einmal anders, besser machen würden?
Winfried J.: Heute gibt es die digitale Kamera, und damit kann man dem Geschehen ganz anders folgen. Wir sind statisch in unseren Filmen, oft lassen wir Platz nehmen vor der Kamera. Heute könnte man mit den Kindern laufen, damit sie sich in Räumen in allen möglichen Situationen bewegen. Das ging nicht.
Barbara J.: »Wenn man Vierzehn ist« ist vielleicht der Film, der am meisten von außen geprägt wurde: Unser damaliger Gruppenleiter wollte das sozialistische Moment reindrücken. »Diese Golzower. Umstandsbestimmung eines Ortes« war wohl auch nicht unser größter Wurf. Er war unsere einzige Fernsehproduktion und trägt deutlich die Spuren des Fernsehens. Da wurde gerade Marzahn aufgebaut, und wenn Marie-Luise, die ins neue Königs Wusterhausen gezogen ist, gefragt wird, was denn dort nun so anders sei als in Golzow, und sie antwortet, na ja, hier ist eben alles Beton, dann durfte das Wort »Beton« nicht fallen. Das waren wir vom Kino her nicht gewöhnt. In Neubrandenburg, wo das nationale Dokumentarfilmfestival stattfand, hörten wir die Fernsehleute oft klagen: Ihr habt es gut, ihr habt mehr Freiheiten, wir sind an der kurzen Leine.
Was würden Sie bei diesen Filmen heute anders machen?
Barbara J.: Noch mehr die Menschen reden lassen, eniger offiziell kommentieren. Gottseidank eine Unmenge Material übriggeblieben nicht nur das, was wir damals rausgeschnitten haben, weil man damit nicht so einverstanden war. Das kommt uns heute zugute.
Winfried J.: Unsere Haltung zu den Golzowern war nicht immer richtig. Vielleicht haben wir sie zu lange noch als Kinder betrachtet, wo sie schon längst kleine Erwachsene waren. Insofern haben wir sie vielleicht einerseits unterfordert. Andererseits haben wir sie auch überfordert, indem wir von ihnen etwas wissen wollten zu Dingen, die nicht ihre Themen waren. Man hätte generell mehr von ihnen ausgehen müssen. Es gibt zu vielen Themen des Erwachsenwerdens überhaupt keine Dokumente. Wir haben das nicht mitgekriegt oder haben es mitgekriegt und nicht sichern können. Das tut ein bisschen weh.
Halten Sie es für möglich, dass Ihnen später einige die Zusammenarbeit gekündigt haben, weil sie das Gefühl hatten, sich nicht ehrlich äußern zu dürfen?
Barbara J.: Wenn es um politische Fragen ging, war eigentlich nicht so viel von ihnen zu erwarten. Die waren nicht ihr Ding. Aber natürlich kam auch die Politik der DDR hinzu. Wir hatten ihnen ab 1986 gesagt: Jetzt könnt ihr reden, was ihr wollt, es wird nicht vor 1999, zum 50. Jahrestag der DDR, veröffentlicht. Trotzdem waren sie vorsichtig und wollten nicht mit allem raus.
Winfried J.: Ich will hinzufügen, dass ich natürlich immer abnehmbare Filme zu gewährleisten hatte. Das heißt, ich habe vor der Kamera doch staatserhaltend fragen oder mich zumindest verhalten müssen. Ich habe die längstmögliche Leine versucht, damit sie auch in Ecken hinein erzählen, wo es auf andere Weise auch wieder politisch wird. Natürlich hatte ich auch meine stereotypen Fragen. Die kannten sie durch die Lehrer, und das wars dann. Dann haben sie gekonnt geschwiegen oder sich mit Allgemeinplätzen rausgeredet, man sah auch, sie fühlten sich bedrängt und antworteten, wie sie dem Lehrer antworteten. Das konnte man dann sowieso vergessen.
Barbara J.: Aber nach der Wende wollten sie dann alles loswerden, das platzte so raus. Ich glaube, sie hätten es uns sehr übelgenommen, wenn wir damals nicht gekommen wären und sie interviewt hätten. Da wurde auch über die Enttäuschung gesprochen, die sie erlebt hatten, und was sie alles geärgert hatte in der DDR. In dieser Zeit konnte man mit ihnen viel über Politik reden. Bei privaten Dingen wurden sie dann aber vorsichtiger. Es kehrte sich um: Vor der Wende war privat alles und Politik eigentlich nichts, nun war es umgekehrt. Weil sie merkten, man muss ein gutes Bild von sich zeichnen, damit man eine Chance hat, im Berufsleben zu bestehen. Denn das ist ja nicht nur in dieser Gegend, in der die Arbeitslosigkeit hoch ist, ganz wichtig.
Arbeiten Sie heute anders als früher?
Winfried J.: Wir können Dinge in eine Beziehung setzen, die wir jetzt erst erkennen. Auch mal etwas richtig glänzen lassen, anderes dafür weglassen. Das ist das Schöne an dem Projekt: Mit einem neuen Film hat man die Chance, eine Sache noch mal neu zu sehen, also auch neu zu kommentieren.
Barbara J.: Es geht um Kleinigkeiten, kleine Szenen. Damals haben wir sie rausgeschmissen, weil wir glaubten, die taugen, die tragen nicht. Plötzlich sehen wir, wenn wir diese und jene Beobachtung dazusetzen, ergibt das ein ganz anderes Bild. Die Zeit, die sie durchlebt haben, spielt bei uns eine besondere Rolle. Die Wende war wirklich ein Wendepunkt, ein Wendepunkt in ihrem Leben. Wir haben immer gesagt: In der DDR ging es zu wie auf der Rolltreppe - die Lehrstelle war klar, Arbeit war da, Familie war geplant, irgendwann kriegte man eine Wohnung, vielleicht auch das Auto. Dann kam der Bruch, und sie mussten sich selber kümmern. Einige sind sehr gut zurande gekommen, andere leider auf der Strecke geblieben.
Gibt es ein Schicksal, das Sie besonders traurig macht?
Winfried J.: Wir wissen, dass nicht mehr alle aus dieser Klasse leben. Brigitte ist 1983 verstorben, und Jürgen aus unserem Film »Das Leben des Jürgen von Golzow« verstarb im vorigen Oktober an Folgen von Speiseröhrenkrebs. Das ist furchtbar, dass sie vor uns sterben. Über den Rest der Klasse wissen wir kaum etwas, auch die Gemeinde weiß nichts. Bernhard und Eckhardt, beide Landmaschinenschlosser, sind im Dorf geblieben. Die haben wir auch immer wieder neu gedreht. Eckhardt ist mit vier Kindern arbeitslos, Bernhard, der jetzt neu liiert ist, hat die übliche Anstellung von März bis November und ist über die Wintermonate ebenfalls arbeitslos.
1961, als Sie Ihr Projekt begannen, hatten Sie sich sicher eine andere Zukunft für »Ihre« Kinder vorgestellt.
Barbara J.: Sicher. Als sie 1961 zur Schule kamen, hatten wir hochfliegende Träume: dass einige vielleicht Doktoren, Professoren werden. Das sind sie nicht geworden. Sie sind im Rahmen ihrer Möglichkeiten mehr oder weniger glücklich, haben sich arrangiert. Wenn einer arbeitslos ist, kann er sowieso nicht so glücklich sein, und es sind eben eine ganze Menge darunter, die keine Arbeit mehr haben.
Winfried J.: Es gibt im Film »Elf Jahre alt« dieses Motiv: Alles fließt. Damals war das ein Stück Theorie, dann kam das Leben, und alles hat sich verändert. Nichts ist geblieben, wie es war. Der Staat ist weg, in den sie hineingeboren wurden. Manche haben sehr viel verloren: gute Arbeit, die Ehefrau oder den Ehemann. Und die Illusion, dass der Sozialismus funktioniert.
Wenn man sein Lebenswerk vollendet, ist auch das Ende der eigenen Lebenszeit absehbar. Wie gehen Sie damit um?
Winfried J.: Mit Vernunft. Wir sind in einem Alter, wo nicht mehr sehr viel drin ist. Eine unendliche Geschichte geht zwar immer weiter, aber unser Leben ist endlich. Entweder die Geschichte findet ein natürliches Ende, weil es unsereinen nicht mehr gibt, oder man beendet sie planvoll. Wir haben uns für Letzteres entschieden. Es gibt ja noch immer niemanden, der das nach uns übernimmt und fortsetzt.
Ihr jetziger Produzent, Klaus D. Schmutzer von der à jour Film- &Fernsehproduktion GmbH, will - gesponsert von »Neues Deutschland« - ein anderes Langzeitprojekt finanzieren: Zwei jüngere Filmemacher werden es in Berlin beginnen. Was halten Sie davon?
Winfried J.: Wie unser Projekt kann es nicht werden, das geht nicht. Es kann anders werden.
Sie würden die Leute ermutigen?
Winfried J.: Aber ja. Schon aus Neugier, wie die das anpacken und was dabei herauskommt. Sie dürfen sich in den Dimensionen nicht verschätzen. Sie müssen ein Leben lang dranbleiben.
Interview: Christina Matte
Winfried J.: Sagen wir so: Es ist der erste Teil unseres definitiv letzten Films. Ursprünglich wollten wir einen letzten Film mit zehn Porträts machen. Aber dann mussten wir ihn auf fünf Porträts kappen, sonst wäre er zu lang geworden, sodass wir gesagt haben: Er wird der Anfang vom Ende. Es wird also noch einen zweiten Teil geben.
Barbara J.: »Und wenn sie nicht gestorben sind ...« ist die Geschichte vom langsamen Abschied. Von denen, mit denen wir einmal gedreht, mit denen wir irgendwann nicht weitergemacht bzw. die uns gesagt haben, sie wollen nicht mehr. Petra zum Beispiel hat uns Anfang der 80er Jahre per Telegramm mitgeteilt, sie habe an weiteren Filmarbeiten kein Interesse. Und Ilona soll 1983 mal gesagt haben, sie wolle sich nicht von der Wiege bis zur Bahre filmen lassen. Wir dachten, es wäre ganz gut, die Materialien, die wir hatten, zusammenzustellen und mit Interviews abzuschließen: Wie geht es ihnen heute?
Haben alle Ihnen diese abschließenden Interviews gewährt?
Barbara J.: Nein. Von Petra wissen wir gar nicht, wo sie ist. Wenn Frauen heiraten, nehmen sie einen anderen Familiennamen an. Außerdem sind die Eltern gestorben, sodass wir keinen Kontaktpartner hatten. Ilona ist angeschrieben worden und sagte, sie möchte nicht. Sie hätte sich den Film, bevor er endgültig fertiggestellt war, am Schneidetisch ansehen können. Das bieten wir allen an: Wir können ja auch Fehler gemacht haben. Aber Ilona wollte nicht.
Schmerzen Sie diese abgebrochenen Geschichten? Nicht zu wissen, wie sie weitergehen?
Winfried J.: Das ist zwiespältig. Wir können ganz froh sein, dass einige Geschichten schon so früh enden. Dadurch ist der Teil mit Petra nur 20 Minuten lang, sonst hätten wir gar nicht alles untergekriegt. Bei Ilona schmerzt es mich sehr. Dich, Barbara, ja nun weniger, weil du sie nicht von klein auf erlebt hast. Es ist traurig, dass sie uns so früh den Korb gegeben hat und nach der Wende nicht bereit war, sich noch einmal filmen zu lassen.
Können Sie sich die Verweigerung erklären?
Winfried J.: Nein, wir wissen gar nichts. Sie hat uns nie etwas gesagt. Es war nicht zu erwarten, dass gerade sie nicht mehr wollte. Da gab es ganz andere Kinder, bei denen ich dachte, die lassen wir lieber in Ruhe. Aber Ilona drängte sich geradezu vor die Kamera, kontrollierte mit Blicken, ob wir sie auch ordentlich drehen. Wenn sie etwas Gutes gesagt hatte, dann sah man ihr an, dass sie stolz war. Natürlich haben wir Fehler gemacht, in der Pubertät. Wenn man dann in Situationen dreht, in denen gerade Mädchen sehr empfindlich sind ...
Barbara J.: Die Mädchen waren da etwas schwieriger als die Jungen. Bei denen kam es später.
Winfried J.: Dann haben wir Ilona, das war möglicherweise der Knackpunkt, in der Abschlussprüfung der 10. Klasse in Mathematik gefilmt, da hat sie ja versagt. Sie teilt das auch mit, geht dann raus und fängt an zu schluchzen. Für unseren Film war es natürlich wichtig zu zeigen, dass nicht alle mit Glanz und Gloria bestehen, sondern manche es schwer haben. Wir haben sie auch mit ihren eigenen Worten entschuldigt. Sie sagte im Off über der Szene, dass sie zu Hause die Mutter ersetzen musste. Die Mutter war krank, und sie hatte einfach keine Zeit, sich vorzubereiten. Aber das hat sie vielleicht nicht so gesehen. Vielleicht sieht sie sich nur da stehen und denkt, ich bin diejenige, die in dem Film die Rolle des Versagers hat.
Zwischen diesem Ihrem vorletzten und dem ersten Golzow-Film liegen 46 Jahre, 400 000 Meter Film und 19 Filme. Warum damals eigentlich gerade Golzow?
Winfried J.: Zunächst einmal: Die Idee, einen Schulanfang zu drehen und die Kinder dann mit der Kamera durchs Leben zu begleiten, stammt von Karl Gass. Gass war es auch, der mir riet, irgendwohin zu gehen, wo die DDR schon ein bisschen zur Ruhe gekommen war. Ich sah mich zuerst in Eisenhüttenstadt um, dort gab es eine neue Schule mit zwanzig Klassen für ABC-Schützen, aber ich konnte mich für keine entscheiden. Ich fuhr dann zum Bezirksschulrat von Frankfurt (Oder), Hans-Joachim Laabs. Er empfahl mir eine der neuen Landschulen entweder in Briesen bei Fürstenwalde oder Golzow. Da der Schulanfang kurz bevorstand, entschied ich mich kurzerhand für die Schule, die ich mir zuletzt angesehen hatte - Golzow. Wichtig war auch, dass Golzow von Berlin aus schnell zu erreichen war. Dass die Gegend dort sehr geschichtsträchtig war, spielte für mich zunächst keine Rolle: Es ging mir nur um die Kinder.
Das Wort »Dokumentarfilm« enthält das Wort »dokumentieren«, und dokumentieren klingt, als täte da jemand etwas vollkommen objektiv, was bekanntlich nicht geht. Selbst »Elf Jahr alt«, Ihr angeblich einziger Film ohne Kommentar, ist natürlich kommentiert - durch jedes Bild, durch jeden Schnitt.
Winfried J.: Es gibt nur subjektive Dokumentarfilme, andere nicht.
Eine Langzeitdokumentation wie die Ihre ist ja deshalb so interessant, weil sich erstens die Pro- tagonisten verändern, zweitens die Filmemacher und drittens, nicht ganz unwichtig, die Zeiten. Gibt es Filme, die Sie aus heutiger Sicht noch einmal anders, besser machen würden?
Winfried J.: Heute gibt es die digitale Kamera, und damit kann man dem Geschehen ganz anders folgen. Wir sind statisch in unseren Filmen, oft lassen wir Platz nehmen vor der Kamera. Heute könnte man mit den Kindern laufen, damit sie sich in Räumen in allen möglichen Situationen bewegen. Das ging nicht.
Barbara J.: »Wenn man Vierzehn ist« ist vielleicht der Film, der am meisten von außen geprägt wurde: Unser damaliger Gruppenleiter wollte das sozialistische Moment reindrücken. »Diese Golzower. Umstandsbestimmung eines Ortes« war wohl auch nicht unser größter Wurf. Er war unsere einzige Fernsehproduktion und trägt deutlich die Spuren des Fernsehens. Da wurde gerade Marzahn aufgebaut, und wenn Marie-Luise, die ins neue Königs Wusterhausen gezogen ist, gefragt wird, was denn dort nun so anders sei als in Golzow, und sie antwortet, na ja, hier ist eben alles Beton, dann durfte das Wort »Beton« nicht fallen. Das waren wir vom Kino her nicht gewöhnt. In Neubrandenburg, wo das nationale Dokumentarfilmfestival stattfand, hörten wir die Fernsehleute oft klagen: Ihr habt es gut, ihr habt mehr Freiheiten, wir sind an der kurzen Leine.
Was würden Sie bei diesen Filmen heute anders machen?
Barbara J.: Noch mehr die Menschen reden lassen, eniger offiziell kommentieren. Gottseidank eine Unmenge Material übriggeblieben nicht nur das, was wir damals rausgeschnitten haben, weil man damit nicht so einverstanden war. Das kommt uns heute zugute.
Winfried J.: Unsere Haltung zu den Golzowern war nicht immer richtig. Vielleicht haben wir sie zu lange noch als Kinder betrachtet, wo sie schon längst kleine Erwachsene waren. Insofern haben wir sie vielleicht einerseits unterfordert. Andererseits haben wir sie auch überfordert, indem wir von ihnen etwas wissen wollten zu Dingen, die nicht ihre Themen waren. Man hätte generell mehr von ihnen ausgehen müssen. Es gibt zu vielen Themen des Erwachsenwerdens überhaupt keine Dokumente. Wir haben das nicht mitgekriegt oder haben es mitgekriegt und nicht sichern können. Das tut ein bisschen weh.
Halten Sie es für möglich, dass Ihnen später einige die Zusammenarbeit gekündigt haben, weil sie das Gefühl hatten, sich nicht ehrlich äußern zu dürfen?
Barbara J.: Wenn es um politische Fragen ging, war eigentlich nicht so viel von ihnen zu erwarten. Die waren nicht ihr Ding. Aber natürlich kam auch die Politik der DDR hinzu. Wir hatten ihnen ab 1986 gesagt: Jetzt könnt ihr reden, was ihr wollt, es wird nicht vor 1999, zum 50. Jahrestag der DDR, veröffentlicht. Trotzdem waren sie vorsichtig und wollten nicht mit allem raus.
Winfried J.: Ich will hinzufügen, dass ich natürlich immer abnehmbare Filme zu gewährleisten hatte. Das heißt, ich habe vor der Kamera doch staatserhaltend fragen oder mich zumindest verhalten müssen. Ich habe die längstmögliche Leine versucht, damit sie auch in Ecken hinein erzählen, wo es auf andere Weise auch wieder politisch wird. Natürlich hatte ich auch meine stereotypen Fragen. Die kannten sie durch die Lehrer, und das wars dann. Dann haben sie gekonnt geschwiegen oder sich mit Allgemeinplätzen rausgeredet, man sah auch, sie fühlten sich bedrängt und antworteten, wie sie dem Lehrer antworteten. Das konnte man dann sowieso vergessen.
Barbara J.: Aber nach der Wende wollten sie dann alles loswerden, das platzte so raus. Ich glaube, sie hätten es uns sehr übelgenommen, wenn wir damals nicht gekommen wären und sie interviewt hätten. Da wurde auch über die Enttäuschung gesprochen, die sie erlebt hatten, und was sie alles geärgert hatte in der DDR. In dieser Zeit konnte man mit ihnen viel über Politik reden. Bei privaten Dingen wurden sie dann aber vorsichtiger. Es kehrte sich um: Vor der Wende war privat alles und Politik eigentlich nichts, nun war es umgekehrt. Weil sie merkten, man muss ein gutes Bild von sich zeichnen, damit man eine Chance hat, im Berufsleben zu bestehen. Denn das ist ja nicht nur in dieser Gegend, in der die Arbeitslosigkeit hoch ist, ganz wichtig.
Arbeiten Sie heute anders als früher?
Winfried J.: Wir können Dinge in eine Beziehung setzen, die wir jetzt erst erkennen. Auch mal etwas richtig glänzen lassen, anderes dafür weglassen. Das ist das Schöne an dem Projekt: Mit einem neuen Film hat man die Chance, eine Sache noch mal neu zu sehen, also auch neu zu kommentieren.
Barbara J.: Es geht um Kleinigkeiten, kleine Szenen. Damals haben wir sie rausgeschmissen, weil wir glaubten, die taugen, die tragen nicht. Plötzlich sehen wir, wenn wir diese und jene Beobachtung dazusetzen, ergibt das ein ganz anderes Bild. Die Zeit, die sie durchlebt haben, spielt bei uns eine besondere Rolle. Die Wende war wirklich ein Wendepunkt, ein Wendepunkt in ihrem Leben. Wir haben immer gesagt: In der DDR ging es zu wie auf der Rolltreppe - die Lehrstelle war klar, Arbeit war da, Familie war geplant, irgendwann kriegte man eine Wohnung, vielleicht auch das Auto. Dann kam der Bruch, und sie mussten sich selber kümmern. Einige sind sehr gut zurande gekommen, andere leider auf der Strecke geblieben.
Gibt es ein Schicksal, das Sie besonders traurig macht?
Winfried J.: Wir wissen, dass nicht mehr alle aus dieser Klasse leben. Brigitte ist 1983 verstorben, und Jürgen aus unserem Film »Das Leben des Jürgen von Golzow« verstarb im vorigen Oktober an Folgen von Speiseröhrenkrebs. Das ist furchtbar, dass sie vor uns sterben. Über den Rest der Klasse wissen wir kaum etwas, auch die Gemeinde weiß nichts. Bernhard und Eckhardt, beide Landmaschinenschlosser, sind im Dorf geblieben. Die haben wir auch immer wieder neu gedreht. Eckhardt ist mit vier Kindern arbeitslos, Bernhard, der jetzt neu liiert ist, hat die übliche Anstellung von März bis November und ist über die Wintermonate ebenfalls arbeitslos.
1961, als Sie Ihr Projekt begannen, hatten Sie sich sicher eine andere Zukunft für »Ihre« Kinder vorgestellt.
Barbara J.: Sicher. Als sie 1961 zur Schule kamen, hatten wir hochfliegende Träume: dass einige vielleicht Doktoren, Professoren werden. Das sind sie nicht geworden. Sie sind im Rahmen ihrer Möglichkeiten mehr oder weniger glücklich, haben sich arrangiert. Wenn einer arbeitslos ist, kann er sowieso nicht so glücklich sein, und es sind eben eine ganze Menge darunter, die keine Arbeit mehr haben.
Winfried J.: Es gibt im Film »Elf Jahre alt« dieses Motiv: Alles fließt. Damals war das ein Stück Theorie, dann kam das Leben, und alles hat sich verändert. Nichts ist geblieben, wie es war. Der Staat ist weg, in den sie hineingeboren wurden. Manche haben sehr viel verloren: gute Arbeit, die Ehefrau oder den Ehemann. Und die Illusion, dass der Sozialismus funktioniert.
Wenn man sein Lebenswerk vollendet, ist auch das Ende der eigenen Lebenszeit absehbar. Wie gehen Sie damit um?
Winfried J.: Mit Vernunft. Wir sind in einem Alter, wo nicht mehr sehr viel drin ist. Eine unendliche Geschichte geht zwar immer weiter, aber unser Leben ist endlich. Entweder die Geschichte findet ein natürliches Ende, weil es unsereinen nicht mehr gibt, oder man beendet sie planvoll. Wir haben uns für Letzteres entschieden. Es gibt ja noch immer niemanden, der das nach uns übernimmt und fortsetzt.
Ihr jetziger Produzent, Klaus D. Schmutzer von der à jour Film- &Fernsehproduktion GmbH, will - gesponsert von »Neues Deutschland« - ein anderes Langzeitprojekt finanzieren: Zwei jüngere Filmemacher werden es in Berlin beginnen. Was halten Sie davon?
Winfried J.: Wie unser Projekt kann es nicht werden, das geht nicht. Es kann anders werden.
Sie würden die Leute ermutigen?
Winfried J.: Aber ja. Schon aus Neugier, wie die das anpacken und was dabei herauskommt. Sie dürfen sich in den Dimensionen nicht verschätzen. Sie müssen ein Leben lang dranbleiben.
Interview: Christina MatteND: Am Karfreitag wird der RBB den vorletzten Film aus Ihrer Reihe »Die Kinder von Golzow« zum ersten Mal in einem Stück, noch dazu zur besten Sendezeit um 20 Uhr, ausstrahlen. Er heißt: »Und wenn sie nicht gestorben sind ...«. Können Sie ein bisschen darüber erzählen? Um wen wird es gehen?
Winfried J.: Sagen wir so: Es ist der erste Teil unseres definitiv letzten Films. Ursprünglich wollten wir einen letzten Film mit zehn Porträts machen. Aber dann mussten wir ihn auf fünf Porträts kappen, sonst wäre er zu lang geworden, sodass wir gesagt haben: Er wird der Anfang vom Ende. Es wird also noch einen zweiten Teil geben.
Barbara J.: »Und wenn sie nicht gestorben sind ...« ist die Geschichte vom langsamen Abschied. Von denen, mit denen wir einmal gedreht, mit denen wir irgendwann nicht weitergemacht bzw. die uns gesagt haben, sie wollen nicht mehr. Petra zum Beispiel hat uns Anfang der 80er Jahre per Telegramm mitgeteilt, sie habe an weiteren Filmarbeiten kein Interesse. Und Ilona soll 1983 mal gesagt haben, sie wolle sich nicht von der Wiege bis zur Bahre filmen lassen. Wir dachten, es wäre ganz gut, die Materialien, die wir hatten, zusammenzustellen und mit Interviews abzuschließen: Wie geht es ihnen heute?
Haben alle Ihnen diese abschließenden Interviews gewährt?
Barbara J.: Nein. Von Petra wissen wir gar nicht, wo sie ist. Wenn Frauen heiraten, nehmen sie einen anderen Familiennamen an. Außerdem sind die Eltern gestorben, sodass wir keinen Kontaktpartner hatten. Ilona ist angeschrieben worden und sagte, sie möchte nicht. Sie hätte sich den Film, bevor er endgültig fertiggestellt war, am Schneidetisch ansehen können. Das bieten wir allen an: Wir können ja auch Fehler gemacht haben. Aber Ilona wollte nicht.
Schmerzen Sie diese abgebrochenen Geschichten? Nicht zu wissen, wie sie weitergehen?
Winfried J.: Das ist zwiespältig. Wir können ganz froh sein, dass einige Geschichten schon so früh enden. Dadurch ist der Teil mit Petra nur 20 Minuten lang, sonst hätten wir gar nicht alles untergekriegt. Bei Ilona schmerzt es mich sehr. Dich, Barbara, ja nun weniger, weil du sie nicht von klein auf erlebt hast. Es ist traurig, dass sie uns so früh den Korb gegeben hat und nach der Wende nicht bereit war, sich noch einmal filmen zu lassen.
Können Sie sich die Verweigerung erklären?
Winfried J.: Nein, wir wissen gar nichts. Sie hat uns nie etwas gesagt. Es war nicht zu erwarten, dass gerade sie nicht mehr wollte. Da gab es ganz andere Kinder, bei denen ich dachte, die lassen wir lieber in Ruhe. Aber Ilona drängte sich geradezu vor die Kamera, kontrollierte mit Blicken, ob wir sie auch ordentlich drehen. Wenn sie etwas Gutes gesagt hatte, dann sah man ihr an, dass sie stolz war. Natürlich haben wir Fehler gemacht, in der Pubertät. Wenn man dann in Situationen dreht, in denen gerade Mädchen sehr empfindlich sind ...
Barbara J.: Die Mädchen waren da etwas schwieriger als die Jungen. Bei denen kam es später.
Winfried J.: Dann haben wir Ilona, das war möglicherweise der Knackpunkt, in der Abschlussprüfung der 10. Klasse in Mathematik gefilmt, da hat sie ja versagt. Sie teilt das auch mit, geht dann raus und fängt an zu schluchzen. Für unseren Film war es natürlich wichtig zu zeigen, dass nicht alle mit Glanz und Gloria bestehen, sondern manche es schwer haben. Wir haben sie auch mit ihren eigenen Worten entschuldigt. Sie sagte im Off über der Szene, dass sie zu Hause die Mutter ersetzen musste. Die Mutter war krank, und sie hatte einfach keine Zeit, sich vorzubereiten. Aber das hat sie vielleicht nicht so gesehen. Vielleicht sieht sie sich nur da stehen und denkt, ich bin diejenige, die in dem Film die Rolle des Versagers hat.
Zwischen diesem Ihrem vorletzten und dem ersten Golzow-Film liegen 46 Jahre, 400 000 Meter Film und 19 Filme. Warum damals eigentlich gerade Golzow?
Winfried J.: Zunächst einmal: Die Idee, einen Schulanfang zu drehen und die Kinder dann mit der Kamera durchs Leben zu begleiten, stammt von Karl Gass. Gass war es auch, der mir riet, irgendwohin zu gehen, wo die DDR schon ein bisschen zur Ruhe gekommen war. Ich sah mich zuerst in Eisenhüttenstadt um, dort gab es eine neue Schule mit zwanzig Klassen für ABC-Schützen, aber ich konnte mich für keine entscheiden. Ich fuhr dann zum Bezirksschulrat von Frankfurt (Oder), Hans-Joachim Laabs. Er empfahl mir eine der neuen Landschulen entweder in Briesen bei Fürstenwalde oder Golzow. Da der Schulanfang kurz bevorstand, entschied ich mich kurzerhand für die Schule, die ich mir zuletzt angesehen hatte - Golzow. Wichtig war auch, dass Golzow von Berlin aus schnell zu erreichen war. Dass die Gegend dort sehr geschichtsträchtig war, spielte für mich zunächst keine Rolle: Es ging mir nur um die Kinder.
Das Wort »Dokumentarfilm« enthält das Wort »dokumentieren«, und dokumentieren klingt, als täte da jemand etwas vollkommen objektiv, was bekanntlich nicht geht. Selbst »Elf Jahr alt«, Ihr angeblich einziger Film ohne Kommentar, ist natürlich kommentiert - durch jedes Bild, durch jeden Schnitt.
Winfried J.: Es gibt nur subjektive Dokumentarfilme, andere nicht.
Eine Langzeitdokumentation wie die Ihre ist ja deshalb so interessant, weil sich erstens die Pro- tagonisten verändern, zweitens die Filmemacher und drittens, nicht ganz unwichtig, die Zeiten. Gibt es Filme, die Sie aus heutiger Sicht noch einmal anders, besser machen würden?
Winfried J.: Heute gibt es die digitale Kamera, und damit kann man dem Geschehen ganz anders folgen. Wir sind statisch in unseren Filmen, oft lassen wir Platz nehmen vor der Kamera. Heute könnte man mit den Kindern laufen, damit sie sich in Räumen in allen möglichen Situationen bewegen. Das ging nicht.
Barbara J.: »Wenn man Vierzehn ist« ist vielleicht der Film, der am meisten von außen geprägt wurde: Unser damaliger Gruppenleiter wollte das sozialistische Moment reindrücken. »Diese Golzower. Umstandsbestimmung eines Ortes« war wohl auch nicht unser größter Wurf. Er war unsere einzige Fernsehproduktion und trägt deutlich die Spuren des Fernsehens. Da wurde gerade Marzahn aufgebaut, und wenn Marie-Luise, die ins neue Königs Wusterhausen gezogen ist, gefragt wird, was denn dort nun so anders sei als in Golzow, und sie antwortet, na ja, hier ist eben alles Beton, dann durfte das Wort »Beton« nicht fallen. Das waren wir vom Kino her nicht gewöhnt. In Neubrandenburg, wo das nationale Dokumentarfilmfestival stattfand, hörten wir die Fernsehleute oft klagen: Ihr habt es gut, ihr habt mehr Freiheiten, wir sind an der kurzen Leine.
Was würden Sie bei diesen Filmen heute anders machen?
Barbara J.: Noch mehr die Menschen reden lassen, eniger offiziell kommentieren. Gottseidank eine Unmenge Material übriggeblieben nicht nur das, was wir damals rausgeschnitten haben, weil man damit nicht so einverstanden war. Das kommt uns heute zugute.
Winfried J.: Unsere Haltung zu den Golzowern war nicht immer richtig. Vielleicht haben wir sie zu lange noch als Kinder betrachtet, wo sie schon längst kleine Erwachsene waren. Insofern haben wir sie vielleicht einerseits unterfordert. Andererseits haben wir sie auch überfordert, indem wir von ihnen etwas wissen wollten zu Dingen, die nicht ihre Themen waren. Man hätte generell mehr von ihnen ausgehen müssen. Es gibt zu vielen Themen des Erwachsenwerdens überhaupt keine Dokumente. Wir haben das nicht mitgekriegt oder haben es mitgekriegt und nicht sichern können. Das tut ein bisschen weh.
Halten Sie es für möglich, dass Ihnen später einige die Zusammenarbeit gekündigt haben, weil sie das Gefühl hatten, sich nicht ehrlich äußern zu dürfen?
Barbara J.: Wenn es um politische Fragen ging, war eigentlich nicht so viel von ihnen zu erwarten. Die waren nicht ihr Ding. Aber natürlich kam auch die Politik der DDR hinzu. Wir hatten ihnen ab 1986 gesagt: Jetzt könnt ihr reden, was ihr wollt, es wird nicht vor 1999, zum 50. Jahrestag der DDR, veröffentlicht. Trotzdem waren sie vorsichtig und wollten nicht mit allem raus.
Winfried J.: Ich will hinzufügen, dass ich natürlich immer abnehmbare Filme zu gewährleisten hatte. Das heißt, ich habe vor der Kamera doch staatserhaltend fragen oder mich zumindest verhalten müssen. Ich habe die längstmögliche Leine versucht, damit sie auch in Ecken hinein erzählen, wo es auf andere Weise auch wieder politisch wird. Natürlich hatte ich auch meine stereotypen Fragen. Die kannten sie durch die Lehrer, und das wars dann. Dann haben sie gekonnt geschwiegen oder sich mit Allgemeinplätzen rausgeredet, man sah auch, sie fühlten sich bedrängt und antworteten, wie sie dem Lehrer antworteten. Das konnte man dann sowieso vergessen.
Barbara J.: Aber nach der Wende wollten sie dann alles loswerden, das platzte so raus. Ich glaube, sie hätten es uns sehr übelgenommen, wenn wir damals nicht gekommen wären und sie interviewt hätten. Da wurde auch über die Enttäuschung gesprochen, die sie erlebt hatten, und was sie alles geärgert hatte in der DDR. In dieser Zeit konnte man mit ihnen viel über Politik reden. Bei privaten Dingen wurden sie dann aber vorsichtiger. Es kehrte sich um: Vor der Wende war privat alles und Politik eigentlich nichts, nun war es umgekehrt. Weil sie merkten, man muss ein gutes Bild von sich zeichnen, damit man eine Chance hat, im Berufsleben zu bestehen. Denn das ist ja nicht nur in dieser Gegend, in der die Arbeitslosigkeit hoch ist, ganz wichtig.
Arbeiten Sie heute anders als früher?
Winfried J.: Wir können Dinge in eine Beziehung setzen, die wir jetzt erst erkennen. Auch mal etwas richtig glänzen lassen, anderes dafür weglassen. Das ist das Schöne an dem Projekt: Mit einem neuen Film hat man die Chance, eine Sache noch mal neu zu sehen, also auch neu zu kommentieren.
Barbara J.: Es geht um Kleinigkeiten, kleine Szenen. Damals haben wir sie rausgeschmissen, weil wir glaubten, die taugen, die tragen nicht. Plötzlich sehen wir, wenn wir diese und jene Beobachtung dazusetzen, ergibt das ein ganz anderes Bild. Die Zeit, die sie durchlebt haben, spielt bei uns eine besondere Rolle. Die Wende war wirklich ein Wendepunkt, ein Wendepunkt in ihrem Leben. Wir haben immer gesagt: In der DDR ging es zu wie auf der Rolltreppe - die Lehrstelle war klar, Arbeit war da, Familie war geplant, irgendwann kriegte man eine Wohnung, vielleicht auch das Auto. Dann kam der Bruch, und sie mussten sich selber kümmern. Einige sind sehr gut zurande gekommen, andere leider auf der Strecke geblieben.
Gibt es ein Schicksal, das Sie besonders traurig macht?
Winfried J.: Wir wissen, dass nicht mehr alle aus dieser Klasse leben. Brigitte ist 1983 verstorben, und Jürgen aus unserem Film »Das Leben des Jürgen von Golzow« verstarb im vorigen Oktober an Folgen von Speiseröhrenkrebs. Das ist furchtbar, dass sie vor uns sterben. Über den Rest der Klasse wissen wir kaum etwas, auch die Gemeinde weiß nichts. Bernhard und Eckhardt, beide Landmaschinenschlosser, sind im Dorf geblieben. Die haben wir auch immer wieder neu gedreht. Eckhardt ist mit vier Kindern arbeitslos, Bernhard, der jetzt neu liiert ist, hat die übliche Anstellung von März bis November und ist über die Wintermonate ebenfalls arbeitslos.
1961, als Sie Ihr Projekt begannen, hatten Sie sich sicher eine andere Zukunft für »Ihre« Kinder vorgestellt.
Barbara J.: Sicher. Als sie 1961 zur Schule kamen, hatten wir hochfliegende Träume: dass einige vielleicht Doktoren, Professoren werden. Das sind sie nicht geworden. Sie sind im Rahmen ihrer Möglichkeiten mehr oder weniger glücklich, haben sich arrangiert. Wenn einer arbeitslos ist, kann er sowieso nicht so glücklich sein, und es sind eben eine ganze Menge darunter, die keine Arbeit mehr haben.
Winfried J.: Es gibt im Film »Elf Jahre alt« dieses Motiv: Alles fließt. Damals war das ein Stück Theorie, dann kam das Leben, und alles hat sich verändert. Nichts ist geblieben, wie es war. Der Staat ist weg, in den sie hineingeboren wurden. Manche haben sehr viel verloren: gute Arbeit, die Ehefrau oder den Ehemann. Und die Illusion, dass der Sozialismus funktioniert.
Wenn man sein Lebenswerk vollendet, ist auch das Ende der eigenen Lebenszeit absehbar. Wie gehen Sie damit um?
Winfried J.: Mit Vernunft. Wir sind in einem Alter, wo nicht mehr sehr viel drin ist. Eine unendliche Geschichte geht zwar immer weiter, aber unser Leben ist endlich. Entweder die Geschichte findet ein natürliches Ende, weil es unsereinen nicht mehr gibt, oder man beendet sie planvoll. Wir haben uns für Letzteres entschieden. Es gibt ja noch immer niemanden, der das nach uns übernimmt und fortsetzt.
Ihr jetziger Produzent, Klaus D. Schmutzer von der à jour Film- &Fernsehproduktion GmbH, will - gesponsert von »Neues Deutschland« - ein anderes Langzeitprojekt finanzieren: Zwei jüngere Filmemacher werden es in Berlin beginnen. Was halten Sie davon?
Winfried J.: Wie unser Projekt kann es nicht werden, das geht nicht. Es kann anders werden.
Sie würden die Leute ermutigen?
Winfried J.: Aber ja. Schon aus Neugier, wie die das anpacken und was dabei herauskommt. Sie dürfen sich in den Dimensionen nicht verschätzen. Sie müssen ein Leben lang dranbleiben.
Interview: Christina Matte
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