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Jung, pragmatisch, links

Der 33-jährige René Wilke hat sehr gute Chancen, Oberbürgermeister in Frankfurt (Oder) zu werden

René Wilke ist ein freundlicher Mensch, der etwas auf dem Kasten hat. Der 33-jährige Sozialist könnte bei der Stichwahl am 18. März Oberbürgermeister von Frankfurt (Oder) werden. 43,4 Prozent hat er bei der ersten Wahlrunde am 4. März bekommen. Sein Konkurrent, der fast doppelt so alte bisherige Oberbürgermeister Martin Wilke (parteilos) hatte nur 20,3 Prozent erhalten.

Es gibt Zeitgenossen, denen passt es nicht, dass ein Sozialist Oberbürgermeister wird, erstmals im Land Brandenburg seit 1990. Aber auch denen fällt wenig ein, was konkret gegen René Wilke sprechen würde. Der leise Pragmatiker taugt nicht als kommunistisches Schreckgespenst. Darum wird nun gesagt, René Wilke sei zu nett. Mit seinem Charakter könne er nichts ausrichten in einem Rathaus, in dem das Arbeitsklima vergiftet sei. Dabei ist Wilke Mediator, also vielleicht genau der richtige Mann für einen Job, bei dem es darum gehen wird, Gräben zuzuschütten und das Verbindende zu suchen. Er hat auch einen Plan für den Umgang mit der Stadtverwaltung: Er will die Mitarbeiter zusammenholen und bei ihnen für seine Ideen werben.

Ein anderes Argument gegen René Wilke lautet, er sei zu jung für das Amt. Darauf hat sein ehemaliger Chef, der Bundestagsabgeordnete Thomas Nord (LINKE), mit einem offenen Brief reagiert. »Im Oberbürgermeisterwahlkampf setzen die Gegner von René Wilke zunehmend weniger darauf, die Zukunft der Stadt zu diskutieren«, schreibt Nord. »Renés Antworten halten offenbar jeder Debatte stand.« Da dort wenig Raum für politische Geländegewinne vorhanden sei, werde das Alter des Kandidaten thematisiert und davon abgeleitet seine Kompetenz und Durchsetzungsfähigkeit in Frage gestellt. Dabei sei Oskar Lafontaine einst auch mit 33 Jahren Oberbürgermeister von Saarbrücken geworden, einer Stadt mit immerhin 180 000 Einwohnern. Frankfurt (Oder) hat nur 59 000 Einwohner. Frankfurt (Oder) habe eine Reihe junger Politiker hervorgebracht, die nur nicht in der Heimat aktiv seien, erinnert Thomas Nord. So sei Manuela Schwesig (SPD) mit 34 Jahren Ministerin in Mecklenburg-Vorpommern geworden, und Klaus Lederer (LINKE) sei Kultursenator in Berlin.

René Wilke hätte in Potsdam etwas werden können, Linksfraktionschef im Landtag beispielsweise. Er hat sich aber mit der Stellvertreterfunktion begnügt und seine Lebensplanung auf die Bewerbung um den Posten des Oberbürgermeisters seiner Heimatstadt ausgerichtet. Dabei hört er lieber zu als selbst zu sprechen, was im Wahlkampf natürlich nicht ging.

»Ich hatte keinen Plan, Politiker zu werden«, verrät René Wilke. Als Kind ist er mit seinen Eltern nach Moskau gezogen. Die hatten dort beruflich zu tun. Die Familie lebte in einem speziellen Wohnviertel für Ausländer in vergleichsweise prächtigen Verhältnissen. Drumherum herrschte Armut. Es hat René Wilke geprägt, den Eltern zuzusehen, wie sie Lebensmittel kaufen und an Bedürftige verteilen, zu sehen, wie dieses Essen nicht für alle reicht, tote Obdachlose zu sehen, um die sich niemand kümmerte. Zurück in Deutschland ist Wilke mit 16 Jahren in die LINKE eingetreten, mit 19 Jahren war er bereits Kreisvorsitzender.

Über sein Lebensziel sagt er heute: »Ich möchte, dass es nicht egal war, dass ich existiert habe.« Dass man ihm dereinst ein Denkmal errichtet, das möchte er nicht, aber das Leben der Menschen will er besser machen. »Ich habe so viel Energie in mir, zu gestalten.« Diese Gestaltungsenergie verwendet er im Moment als Landtagsabgeordneter, künftig könnte er sie als Oberbürgermeister nutzen. Manche Beobachter sagen, der Wahlsieg sei René Wilke bei seinem riesigen Vorsprung nicht mehr zu nehmen. Es gab aber bei Bürgermeisterwahlen in Brandenburg auch schon Fälle, wo derartige Rückstände in der Stichwahl noch aufgeholt worden sind. Die CDU und die SPD, deren eigene Kandidaten Markus Derling und Jens-Marcel Ullrich mit 14,2 Prozent beziehungsweise 5,0 Prozent ausgeschieden sind, sprechen sich immerhin nicht für Martin Wilke aus, der vor acht Jahren noch ihr gemeinsamer Kandidat gewesen ist. Auch die AfD hält sich heraus. Ihr Chef Wilko Möller hatte als OB-Kandidat 17 Prozent geholt.

Das ist übrigens auch ein Geheimnis von René Wilke, dass es noch zu lüften gilt: Wie konnte er neben den Mitbewerbern der demokratischen Parteien auch den Mann von der AfD so klar distanzieren? Man bedenke: Vor der Bundestagswahl am 24. September 2017 gab es ernstzunehmende Befürchtungen, AfD-Frontmann Alexander Gauland würde in Ostbrandenburg den Wahlkreis gewinnen, der aus dem Landkreis Oder-Spree und der Stadt Frankfurt (Oder) besteht. Bei der Bundestagswahl wurde die AfD in Frankfurt (Oder) dann mit 21,9 Prozent zweistärkste Kraft hinter der CDU (23,2 Prozent) und vor der Linkspartei (21,6 Prozent). Ein halbes Jahr später sorgt René Wilke in der traditionellen LINKE-Hochburg wieder für die dort gewohnten Mehrheitsverhältnisse. Wie ist ihm das gelungen?

Vielleicht mit einem Wahlkampf, »der realistische Visionen aufzeigte«, wie René Wilke sagt. Ein Wahlkampf, der die großen Probleme der Stadt, beispielsweise die Kinderarmut, nicht ausklammerte, der sich damit auch an die Protestwähler richtete, der aber fair und respektvoll geführt wurde, so dass kein Raum für Wut und Hass blieb.

Stattdessen kam der Spaß nicht zu kurz. LINKE und Bündnisgrüne hatten René Wilke gemeinsam nominiert. Unerwartete Unterstützung leistet die Satiretruppe »Die Partei«. Die lässt auf einem Plakat den Superhelden Batman für René Wilke werben, in einer Sprechblase mit dem Text: »Er ist nicht der Held, den diese Stadt verdient, aber er ist der Held, den diese Stadt braucht.«

Von Wilkes Wohnzimmergesprächen schwärmt LINKE-Landesgeschäftsführerin Anja Mayer. Diese Gespräche sind ein anderes Format als das Klinkenputzen, das nach US-amerikanischem Vorbild auch in Deutschland Mode geworden ist. Anstatt bei Wildfremden auf Verdacht an der Tür zu klopfen, hat sich René Wilke zu Gesprächen im Wohnzimmer einladen lassen. An einen Infostand treten in der Regel die heran, die schon überzeugt sind. An einer beliebigen Wohnungstür ist die Trefferquote gering. Im Wohnzimmergespräch erreichte Wilke punktgenau die Zielgruppe der durchaus interessierten Wähler, die aber noch überzeugt werden möchten.

Überlegenswert ist auch Mayers Gedanke, dass René Wilke mit seiner leisen, überlegten und lösungsorientierten Art einen neuen Typ Politiker vertrete, der bei den Menschen besser ankomme als der klassische Sprücheklopfer, der Parlamentsdebatten mit seiner Lautstärke dominiert.

In der brandenburgischen LINKEN gibt es für Wilkes Art sogar schon ein Vorbild: Kornelia Wehlan, Landrätin von Teltow-Fläming. Sie ist die erste und einzige Landrätin der Sozialisten in Brandenburg. René Wilke könnte der erste Oberbürgermeister seiner Partei im Bundesland werden.

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