Der dürre Dreikäseniedrig

Deutsches Nationaltheater Weimar: »Othello« ist ein Kerl, wer aber ist Jago?

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: ca. 4.0 Min.
Es muss so sein. Gar nicht mehr anders vorstellbar, die Sache. Es muss da ein Raunen sein, ein Wispern, aber gleichsam eines mit donnergleicher Einflüsterungskraft. Aus allen Kulissen des Theaters: dieses Raunen, und dem Regisseur, zumindest ihm, eine Ohrenbetäubung. Das Stück, der Text liegt auf den Probentischen - aus den Lüften aber, den staubigen Theaterinnenlüften, dieses unhörbare, aber folternde Raunen: Zugriff!!! Idee!!! Idee!!! Zugriff!!! Denn: So alt schon das Stück, so elendig oft schon gespielt, so durchgewalkt schon die Lesarten. Was also neu erfinden? Und erfunden muss doch werden, ohne Wenn und Aber. Damit das Alte neu erscheine. Damit der Zuschauer nicht merkt, dass er sich zum vermehrten Male die abgelederte, die in allen wechselnden Gegenwartswelten bereits durchgenudelte Tragödie antut. Deren Ende er schon weiß, ehe sich der Vorhang hebt. Desdemona ist doch eine Tote von Beginn an. Woher sollen die Überraschungen noch kommen?
Wirklich, das Theater hat in dem, was seine dramatische Basis bildet, ein Problem. Die sich oben auf der Bühne mühen, sehen sich - grob gesagt - einem Publikum gegenüber, das entweder alles weiß, aber den Abend tapfer als Feier der kulturellen Routine absitzt, oder aber, eben weil es alles weiß, gierig den Kitzel der Zertrümmerung spüren will. Just diese Lage nährt den Keim des Raunens, das da heißt: Idee!!! Zugriff!!!
»Othello« am Nationaltheater Weimar, inszeniert von Tilmann Köhler, Bühnenbild: Karoly Risz. Die Idee springt über die Bühne und ist ein Heuschreck des Karriereknicks, eine Art Grashüpfer der hierarchischen Demütigung; spindeldürre Beinchen in röhrigen Hosen, das enge Jackett schultergepolstert - das feige Schneiderlein, ein Märchen von Shakespeare. Dieser Dreikäseniedrig heißt: Jago. Einer der Schurkigsten der Weltliteratur. Draht-Zieher, bis draus die tödliche Schlinge wird. Thomas Braungardt, das darf wohl als begründeter Verdacht geäußert werden, ist der unscheinbarste, zitteraaligste, winzigste, hibbeligste Jago der jüngeren Theatergeschichte. Aber siehe: Es funktioniert. Lüge, ideologische Verführung, Mord bedürfen gar nicht der Kraft oder des Charakters - so wie der da wäre wohl auch ein Goebbels ins Hüpfen gekommen, hätte ihm die Natur nicht ein Hinkebein gestellt. Braungardt fiepst, fispelt, wird auch mal schnell von Othello geschultert, ein Sack Flöhe, dies Bübchen; selber doch nur Elementarteilchen, steigert er sich zum teuflischen Gott über das Streben der Anderen.
Das ist schon die Hauptidee dieser Inszenierung: Eine Struktur offenbart sich. Das Böse ist die blanke Ökonomie: Es baut auf den Selbstlauf. Dies erschrickt, und es ist ein Erschrecken über die Gegenwart: Die Zeiten mögen wechseln, allein, sie ändern sich nicht.
Freilich muss gleichzeitig gefragt werden, warum auf so einen Winzling, auf so ein Tröpfchen derart viel weltliterarischer Furor verwandt wurde, so viel an poetischem Aufbau, kurzum: Warum so viel Skakespeare wegen dem da?
Matthias Reichwalds Othello: kreuzbreit, brustmusklig, ein Anklang von Ranger - überm Kopf eine Art Affenmaske, die den Mohren zum Hautjucken verführt. Wo Waffen sprechen, wird knallend auf der schräg ins Publikum gekippten Spielfläche gestampft, gesprungen. Dieser Fremde auf Zypern ist hurtig und offen im ausverschämten Türkenhass, seine Selbstkontrolle platzt im Laufe von Verletztheit und Eifersuchtsleid weg wie eine überspannte Haut.
Die Gesichtsmaske: eine zweite Idee. Othello trägt sie wie ein Kainsmal - auch hier: Blick auf eine Metapher, nicht auf einen Menschen. Dass Reichwald aber genau das, durch sich selbst, vergessen lässt, macht seine Leistung aus. Wuchtiger Widerstandskampf gegen eine Konzeption. Wo der gelingt, kommt zum Durchbruch, was letztlich jeden Theaterabend ins Ereignis rettet: Schauspieler. Aber die Konzeption kommt zurück. Am Ende ein Durchblick bis auf die Brandmauern. Othello hatte die Maske zwischendurch abgenommen (erstmalig in der tiefsten Demütigungsneurose) - nun, im Schluss, trägt sie sogar Jago: Auch der Verbrecher ist ein Ausgestoßener. Weil über ihn ausgerechnet jene Welt ihr Urteil spricht, deren Mechanismen er doch »nur« in den perfekten Eigennutz übertrug.
Antje Trautmann ist Desdemona. Unsentimental, von bodenständiger Weiblichkeit - noch vom Totenbett erhebt sie sich und spricht letzte Worte; ein beeindruckender Moment zutiefst gebrochener Weisheit: Als zeige uns da ein Mensch, dass wir immer erst dann eingreifen, immer erst dann Klarheit fassen, immer erst dann Wahrheit haben, wenn wir entkräftet verloren sind. Vor ihrem Tod steht Desdemona als Zitat der leidenden Madonna auf der Bühne; jenes große schwarze Tuch - das vorhin bewegtes Meer war, bei der Venezianer Überfahrt nach Zypern - nun als Messgewand eines Schicksals, das Opferung heißt. Ina Piontek spielt Emilia, die Frau Jagos: erst unbekümmert gläubig, mehr und mehr mit verfeinerter Beobachtungskraft fürs Tatsächliche, zum Schluss mit natürlicher Rache-Energie und geradezu noblem Ekel vor dem Gatten. Wie bei der Trautmann, wie in den besten Szenen der Titelgestalt: Menschliche Aura steigert sich in jenes Lebendige, das Walter Benjamin einst »die Totenmaske der Konzeption« nannte.
Köhlers Zugriff auf »Othello« ist jung, intellektuell, politanalytisch, unberührt aber vom Tiefschmerz einer großen Liebesgeschichte. Nicht langweilig oder überdrüssig oder respektlos. Aber irgendwie bemüht - und im »Zugriff« doch immerhin so ehrenwert verunsichert, dass ein paar Schauspieler Sieger blei...

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