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Drei Holländer an der »Säule der Gefangenen«

Bürger holten das Schicksal der Häftlinge des KZ-Außenlagers Berlin-Lichterfelde ans Licht

  • Jochen Reinert
  • Lesedauer: 6 Min.
Der 8. Mai ist für die »Initiative KZ-Außenlager Lichterfelde e.V.« jener Tag, an dem sie seit 2001 alljährlich das Andenken der an diesem Ort geschundenen Arbeitssklaven aus 19 Nationen ehrt. Bei dem Gedenken ergreift jeweils der Botschafter eines der Heimatländer der Insassen das Wort - in diesem Jahr der niederländische Emissär.
An diesem lichten Apriltag rauschen auf der Wismarer Straße im Süden Berlins etliche Autos vorbei, doch sonst ist es still rings um die »Säule der Gefangenen«. Nur der eine oder andere Jogger wirft einen kurzen Blick auf den hohen grauen Basaltblock, an dessen Spitze der Bildhauer Günter Oellers Schemen von Köpfen eingravierte - eine Andeutung massenhafter Zerstörung menschlicher Individualität. Um den mächtigen Block herum legte der Künstler einen doppelten Ring von Ketten, der Unfreiheit und Zwang der KZ-Häftlinge symbolisiert, die von Juni 1942 bis April 1945 hier gefangen waren.

Gedenken an die Arbeitssklaven der SS
Für Klaus Leutner, den Gründer der Bürgerinitiative, belebt sich die stille Szene am Teltowkanal in Gedanken bereits mit jenen Menschen, die am heutigen 8. Mai dieser Schreckenszeiten gedenken werden: ehemalige Häftlinge, Diplomaten, Steglitzer Schüler und Einwohner. Leutners Initiative hat 19 noch lebende ehemalige Lichterfelder Gefangene gefunden, einige von ihnen kommen seit 2001 jedes Jahr hierher. Vor mehr als 60 Jahren waren sie Arbeitssklaven der Waffen-SS, die hier an der Wismarer Straße ihre Zentralbauleitung und einen großen Bauhof eingerichtet hatte. Die Zwangsarbeiter - ob politische Häftlinge, so genannte Asoziale, Zeugen Jehovas oder Sinti und Roma - wurden jeden Tag in Sonderkommandos an mehreren SS-Standorten in Berlin eingesetzt: im Gestapohauptquartier in der Prinz-Albrecht-Straße, im SS-Führungshauptamt Kaiserallee, im SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt Berlin-Steglitz und selbst in Hitlers Reichskanzlei. Die Gefangenen kamen aus faktisch allen okkupierten Ländern Europas, auch der Brasilianer Wilhelm Hollein war dabei - ihm zu Ehren sprach im Vorjahr Brasiliens Botschafter zu den Versammelten an der »Säule der Gefangenen«. In diesem Jahr wird der niederländische Botschafter Peter van Wulfften Palthe das Wort ergreifen, und da werden ihm Gerard de Ruiter und Peter Josef Snep besonders aufmerksam zuhören.
Peter Josef Sneps Vater war ein holländischer Reiseführer, der nach 1933 jüdische Geschäftsleute aus Deutschland via Niederlande und Belgien in die Schweiz brachte. Sohn Peter Josef besorgte falsche Papiere und organisierte die Ausschleusungen - bis er verhaftet und nach Sachsenhausen verschleppt wurde. In Lichterfelde errichtete der gelernte Möbeltischler Baracken, im Stadtzentrum baute er an Hitlers Germania mit. Zum Zwangsarbeitsdienst nach Amsterdam abkommandiert, konnte er untertauchen.
Gerard de Ruiter, einer der ersten »Lichterfelder«, auf den Leutner bei seinen Nachforschungen stieß, war Seemann. Er wollte via Schweden nach England, um von dort aus sein Land befreien zu helfen. Doch in Norwegen wurde er von den Nazis ergriffen und mit 1000 Skandinaviern nach Sachsenhausen und Lichterfelde gebracht. Bei oftmals lebensgefährlichen Einsätzen musste er im untergehenden Berlin Bombenschäden an SS-Gebäuden ausbessern. Auf dem Todesmarsch der Häftlinge des KZ Sachsenhausen konnte er im Wald vor Below fliehen und sich »bis zu den Russen« durchschlagen.
Klaus Leutner, studierter Diplom-Ingenieur und langjähriger Fahrdienstleiter am Bahnhof Zoo, wollte als Frühpensionär nicht die Hände in den Schoß legen. 1997/98 half er in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen Hans Coppi bei der Dokumentation der dortigen Häftlinge. Dabei tauchte in den SS-Akten immer wieder der Name Lichterfelde auf, wo er damals wohnte. Bei ersten Erkundigungen fand er heraus, dass es dort seit 1984 Bemühungen gab, die Geschichte des KZ-Außenlagers zwischen Wismarer Straße und dem ehemaligen Leibstandartenweg (heute Ortlerweg) aufzuklären. Die Bezirksversammlung Steglitz hatte sogar schon beschlossen, mit einer Gedenktafel daran zu erinnern. Doch dann war alles wieder in Vergessenheit geraten.
Nun, da Ende der 1990er Jahre eine Bonner Wohnbaufirma auf dem früheren Lagergelände eine große Wohnanlage errichten wollte, bat das Steglitzer Bezirksamt Leutner um eine Dokumentation - als eine Art historische Dienstleistung für die Firma, die sich bereit erklärt hatte, einen Gedenkstein zu finanzieren. Leutner stürzte sich in die Akten, suchte von Amsterdam bis Klagenfurt nach überlebenden »Lichterfeldern«, begründete die Bürgerinitiative und weihte am 8. Mai 2001 zu Füßen der »Säule der Gefangenen« eine bronzene Gedenkplatte ein. Dort ist zu lesen, dass sich an diesem Ort »ein Außenlager des Nationalsozialistischen Konzentrationslagers Sachsenhausen« befand, von dem aus 1500 Gefangene »sichtbar für die Berliner Bevölkerung« Zwangsarbeit leisteten. Auf das Wort »sichtbar« hatte Leutner großen Wert gelegt. »Denn wer Augen hatte, konnte sehen, was hier los war.«
Als wir am Kanalufer der ehemaligen, mit Stacheldraht und Wachtürmen gesicherten Lagergrenze folgen - heute umschließt ein einfacher Drahtzaun die Wohnanlage -, versucht Leutner, den Platz der Hinrichtung des polnisch-stämmigen Handwerkers Wilhelm Nowak zu identifizieren. Der 22-Jährige war nach einem Fluchtversuch nahe dem Lagertor an einem Würgegalgen gehängt worden. Gerard de Ruiter erinnert sich: »Als der Befehl zum Aufhängen kam, fing einer von uns an zu singen, und alle, die konnten, machten mit. Das Lagerlied war: Wir sind die Moorsoldaten.« Doch das war nicht der einzige Mord an »Lichterfeldern«. So erhängten SS-Leute im Hof des SS-Wirtschaftsverwaltungsamtes zwei von ihnen wegen »Plünderung«, weil sie nach einem Bombenangriff eine beschädigte Konserve an sich genommen hatten. Im Lager gab es für die geringsten »Vergehen« Essensentzug oder Stockschläge.

Brief an einen Hammerfester Häftling
Die Lichterfelder Initiative rechnet heute mit rund 3000 Gefangenen, die in dem SS-Lager ausgebeutet wurden. Gut 800 von ihnen sind inzwischen identifiziert - neben 38 Niederländern auch etliche der Skandinavier, die mit de Ruiter nach Sachsenhausen verschleppt worden waren. Leutner öffnet in seinem Computer die Liste der norwegischen Ex-Gefangenen, 16 wurden bisher ermittelt. Doch der Hammerfester Widerstandskämpfer Aksel Wahl, der mir vor Jahren in seiner Heimatstadt von seinem Lichterfelder Martyrium berichtete, ist nicht dabei.
Wahl organisierte nach der Okkupation Norwegens den Widerstand in der nördlichsten Stadt der Welt, wo damals auf 3000 Einwohner beinahe ebenso viele deutsche Besatzer kamen. Am 3. März 1944 von der Gestapo verhaftet, wurde Wahl vier Tage lang verhört und geschlagen, bis er bewusstlos zusammenbrach. Mit vier Mitstreitern wurde er über das norwegische KZ Grini nach Sachsenhausen und Lichterfelde deportiert. Als Fernmeldemechaniker musste der Kommunist im Gestapohauptquartier die Radios und Telefone warten und reparieren; hier erlebte er auch, wie hektisch die SS auf das Stauffenberg-Attentat am 20. Juli 1944 reagierte. Ende Februar 1945 schrieb seine Frau Sara einen Brief an den »Schutzhäftling Aksel Wahl,... Nr. 79741 Block 4 Li(chterfelde), K.L.S. Sachsenhausen, 2 Oranienburg bei Berlin«. Das Faksimile des beschädigten Umschlages illustriert einen längeren Artikel, den Wahls Sohn Kåre vor einiger Zeit über Widerstand und KZ-Gefangenschaft seines Vaters veröffentlichte.
Klaus Leutner ist elektrisiert, ruft sogleich im Archiv der Gedenkstätte Sachsenhausen an. Aber die Archivarin Monika Liebscher muss passen. Der Name Aksel Wahl ist auch dort nirgendwo verzeichnet, lediglich die Häftlingsnummer mit der anonymen Angabe »Telefonarbeiter«. Im Artikel Kåre Wahls ist zu lesen, dass sein Vater dank der Aktion »Weiße Busse« des Schwedischen Roten Kreuzes wieder glücklich nach Hause kam - wenn auch mit einer Wirbelsäulenverletzung als Folge der Folterungen. Leutner ist hoch erfreut, nimmt sich eine Kopie von dem Briefumschlag: Wieder hat einer der »Lichterfelder« Name, Hausnummer und - Gesicht erhalten.

Das Lied der Moorsoldaten
Das Gedenken am Tag der Befreiung ist nach Leutners Worten auch deshalb wichtig, »weil der Nazi-Ungeist noch in den Köpfen vieler Menschen vorhanden ist«. Im April vorigen Jahres sprühten Unbekannte ein großes Hakenkreuz auf den Basaltblock mit der doppelten Kette und zerstörten nach der Feier die Kränze. Das hat auch der Holländer Peter Josef Snep zu denken gegeben, der heute neben dem Botschafter seines Landes an der »Säule der Gefangenen« über seine Befreiung sprechen und wie einst das Lied von den Moorsoldaten anstimmen wird.
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