• Kultur
  • Reportage - Halberstadt

Hugo, Fanny und Möhren vom Minister

Als die POS »John Schehr« nach der Wende zur Sekundarschule »Am Gröpertor« wurde, durfte sie keine Pferde mehr halten. So trat ein Verein 1992 das Erbe der Arbeitsgemeinschaft »Junge Ponyzüchter« an. Heute sitzen wieder Kinder auf dem Rücken der Haflinger

  • Uwe Kraus, Halberstadt
  • Lesedauer: ca. 6.0 Min.
Wie alt Hugo ist? Jens Kriesel schaut dem Shetland-Ponny ins Maul. »16 bis 20 Jahre, würde ich schätzen. Er benimmt sich aber, als ob er zwei wäre.« Das Ponny und der Enddreißiger kennen sich schon lange. Er ist in den Stall zurückgekehrt, der für ihn schon von der dritten bis zur zehnten Klasse in der damaligen POS »John Schehr« eine ganz besondere Anziehung ausübte.
Mit einem Shetlandpony begann auch die nun schon 43 Jahre währende Geschichte der Haflingerzucht auf dem Schulhof. Das noch ältere Jugendblasorchester erwarb 1964 Fanny. Eine Fehlinvestition, denn zum Ziehen des kleinen Wagens mit der großen Pauke erwies sie sich als völlig ungeeignet. Bei einem Wandertag entdeckte es Chemielehrer Hermann Nagel auf der Weide. Nach einigem Verhandeln wechselte das Pferdchen an die John-Schehr-Oberschule, wo zur Pflege eine Arbeitsgemeinschaft aus der Taufe gehoben wurde. 1966 gab es dann den ersten Nachzuchterfolg.
»Alle Leute sagten nur Pferdeschule. Und noch heute heißt die Sekundarschule am Gröpertor im Volksmund so, obwohl die Schule im engeren Sinne mit den Pferden nichts mehr zu tun hat. Immerhin kann man sagen, dass so jeder sechste Halberstädter Schüler hier mal gelernt hat«, erzählt Andreas Karger, der Vorsitzende des Vereins, der 1992 das Erbe der Arbeitsgemeinschaft »Junge Ponyzüchter« antrat. Der CDU-Kommunalpolitiker hatte schon mehrere Vereine mitgegründet und bot an, den engagierten Lehrern um Gundula Schiller und Hans- Dieter Neufert zu helfen, damit die Tradition »nicht die nahe Holtemme runtergeht«. Karger wollte eigentlich nur zwei Jahre an der Vereinsspitze stehen, unterdessen sind es 15. Die Vereinsgründung ermöglichte den Kindern, nach wie vor mit ihren Pferden umzugehen, nicht nur zum Reiten. »Das ist ein ganz wesentlicher sozialer Aspekt der Vereinsarbeit«, betont der Vorsitzende. »Der Verein lebt von den Leuten; engagierten Lehrern, einigen verlässlichen Sponsoren, den ABM-Kräften und natürlich von den Kindern.« Er weiß genau, die Kinder hier und deren Eltern könnten sich Pferde oder gar das Reiten woanders einfach nicht leisten. Zu den Schülergenerationen im Stall, auf der Wiese und auf dem Reitplatz gehörten heutige Ärzte und Unternehmer, Pferdefreunde wie Jens Kriesel oder der jetzige Halberstädter Zooinspektor Michael Bussenius.

Hauptsponsor ist die Arbeitsagentur
»An der damaligen John-Schehr-Schule habe ich schon ab der ersten Klasse gedrängelt, dass ich bei der Pferdezucht mitmachen kann. Was ich dort in der Arbeitsgemeinschaft Ponyzucht gelernt habe, war lebensbindend und lebensbildend. Von klein auf lernte man, Verantwortung zu übernehmen, für Tier und Mensch. Das erste nachts geborene Fohlen, das bleibt ein Leben lang in Erinnerung.« Und so gab es wohl schon damals keinen schöneren Beruf für Michael Bussenius als den eines Zootierpflegers. Im Magdeburger Zoo erhielt er die praktische, im Berliner Tierpark die theoretische Ausbildung. Später arbeitete er in Wernigerode als Übungsleiter in der Reit- und Fahrtouristik. »Doch es zog mich nach Halberstadt zurück.«
Auch Jens Kriesel kehrte zurück. Der Rat des Kreises suchte einen Leiter für die Pferdezucht-Arbeitsgemeinschaft. Der Bäcker lernte noch einmal Facharbeiter für Tierproduktion und absolvierte eine Ausbildung zum Gespannführer, arbeitete in der Reit- und Fahrtouristik und vor der Wende an der Pferdeschule. In der Zeit danach zählte sein Beruf nicht eben zu den gefragtesten auf dem Arbeitsmarkt. Geblieben ist aber die Nähe zu den Pferden in den Ställen am Schulhof, die in den sechziger Jahren ebenso wie die Sattelkammer und der Aufenthaltsraum ausgebaut wurden. 1998 durfte er für ein Jahr als ABM auf den Hof zurückkehren, 2007 nun zum zweiten Mal.
»Eigentlich ist die Arbeitsagentur unser Hauptsponsor«, meint Jörg Wenske, der Lehrer und 2. Vorsitzende des Vereins. Sie begleitet sehr wohlwollend die Arbeit. »Die ABM-Kräfte müssen Ahnung von Pferden und das nötige Fingerspitzengefühl haben sowie mit Kinder umgehen können. Bisher traf man fast immer eine gute Wahl. Viele von den ehemaligen Betreuern schauen auch heute noch gelegentlich bei den Ställen vorbei.« Dass jeden Januar neue Gesichter kommen und wieder bei null begonnen werden muss, sei dagegen ein ziemliches Dilemma.
Die ABM-Mitarbeiter sorgen mit für Ordnung im Stall und auf dem Gelände. Jens Kriesel umreißt ihre speziellen Aufgaben. »Wir beaufsichtigen das Training und das Voltigieren, betreuen das Therapeutische Reiten und kümmern uns um alle Dinge, die den Hengst betreffen.« Der gehört eigentlich Wilhelm May im altmärkischen Köckte und gastiert nur während der Decksaison in Halberstadt. »Sternenkämpfer« soll für Nachwuchs in den Vereinsställen und bei den Haflingerstuten der Umgebung sorgen. »Zwei unserer Stuten sind bereits tragend«, freut sich Jörg Wenske. Deckprämien und die Einnahmen durch das Therapie-Reiten zählen zu dem wenigen Geld, das durch eigenes Engagement in den Verein fließt. Zudem drehen die Pferde mit Kindern auf dem Rücken gegen eine Spende auf Schul- und Volksfesten ihre Runden. Wäre in Deutschland nicht alles so überreguliert, könnte man längst auch Fahrten mit dem Kremser anbieten. Doch der muss erst einmal technisch aufgerüstet werden, um den Sicherheitscheck zu überstehen.

Therapeutisches Reiten für Schwerbehinderte
»Wir krebsen ständig finanziell auf der Null-Linie«, gesteht der Vereinsvorstand. Der Hufschmied muss ebenso bezahlt werden wie der Kammerjäger, der Tierarzt und das Futter der neun Haflinger und von Pony Hugo. Auch das Zaum- und Sattelzeug müsste längst wieder erneuert werden. Doch der Verein spürt immer wieder das Wohlwollen Ehemaliger und von Halberstädter Bürgern. Der Steuerberater Klaus Peter Bronn übernahm vor Jahren die Patenschaft über ein Pferd und sponsert so dessen Futter. Eberhard Knobbe, der Geschäftsführer der Agrargenossenschaft im benachbarten Harsleben, sitzt im Vereinsvorstand und hilft mit Technik und Futtergrün, wo er kann. Einst gehörte die LPG zu den zahlreichen Paten der Mini-LPG. Nicht ohne Hintergedanke, denn der landwirtschaftliche Nachwuchs sammelte hier frühzeitig Erfahrungen für den Beruf. Fast 100 Pferde-Schüler gingen zu DDR-Zeiten in diese Richtung. Auch heute schauen Arbeitgeber auf die Erfahrungen aus dem Verein, wenn sich jemand als Pferdewirt bewirbt.
Über 60 Mädchen und Jungen zählten damals ständig zur Arbeitsgemeinschaft. Heute gehören etwa 25 Kinder und Jugendliche zum Verein. Viele kommen, schnuppern, helfen, einige gehen wieder, andere bleiben. So wie Nadine Fischer, die nun seit drei Jahren im Verein aktiv ist. Wenig unterscheidet sie von den Pferdeenthusiasten früherer Jahre, meint Jens Kriesel. »Sie helfen mit beim Ausmisten, striegeln die Pferde, kommen wie wir damals an den Wochenenden und in den Ferien spätestens um 8 Uhr in den Stall.« Studentin Janine Murra dagegen ging früher nie in die Sekundarschule am Gröpertor. Sie machte mit zehn oder zwölf Jahren ihre ersten Reit-Erfahrungen. »Seitdem bin ich nicht davon losgekommen. Da bin ich zum Verein hin und habe gefragt, ob ich als Erwachsene mitmachen könne. Ich finde, das ist eine prima Sache.«
Weit und breit einmalig in dieser Form ist das Therapeutische Reiten für Schwerbehinderte. Viermal wöchentlich vormittags wird es für jeweils acht Schüler der Schule für geistig Behinderte »Reinhard Lakomy« angeboten. Selbst die Freiwillige Feuerwehr Halberstadt rollte schon für die Pferdefreunde an. Als der ehemalige Schulgarten zur Weide für Maja, Hexe, Milena, Hilli und die anderen Pferde umgestaltet wurde, verlegte Wehrleiter Thomas Dittmer die Motorkettensägen-Ausbildung flugs dorthin, um das Areal von Bäumen und Gestrüpp zu befreien.
Selbst Landeskultusminister Hendrik Olbertz (parteilos) brachte eine Tüte Möhren für die Haflinger mit, als die Sekundarschule »Am Gröpertor« Europaschule wurde. Er lobte das Engagement des Vereins und versprach zu einer Fohlen-Taufe wieder vorbei zu schauen. Der heimische Europa-Abgeordnete Dr. Horst Schnellhardt dagegen fühlt sich aus einem anderen Grund hier sehr zu Hause. »Schließlich bin ich ja von Beruf Tierarzt«, erzählte er während eines seiner regelmäßigen Besuche. Die Vereinsmitglieder wissen, Politikerbesuche ernähren ihre Pferde nicht übers Jahr. Aber dabei rücken ihre Sorgen wenigste...

Wenn Sie ein Abo haben, loggen Sie sich ein:

Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.

Bitte aktivieren Sie Cookies, um sich einloggen zu können.

- Anzeige -
- Anzeige -