»Wir sind die Sieger«

Erkundungen im EU-Musterland Litauen

  • Hannes Hofbauer, Vilnius
  • Lesedauer: ca. 7.0 Min.

EU-Jungmitglied Litauen sieht sich als »baltischen Tiger« - ohne viel Gemeinsames mit Lettland und Estland, und schon gar nicht mit Russland.

Das kleine Städtchen Trakai, 20 Kilometer westlich der Hauptstadt Vilnius gelegen, macht einen verträumten Eindruck. Wären nicht die eindrucksvollen architektonischen Reste der früheren litauischen Reichshauptstadt zu bewundern, würden sich wohl kaum Besucher hierher verirren. Die mächtige gotische, aus Backsteinen erbaute Inselburg ragt mitten aus dem Galve-See. In der im Sowjetstil eingerichteten Gastwirtschaft nebenan werden wir in polnischer Sprache empfangen; perfektes Russisch - Litauisch sowieso - ist für die Generation der Wirtsleute selbstverständlich, und sie verstehen auch noch das von kaum mehr als ein paar Tausend Menschen gepflegte Karäisch, eine Turksprache, die sich über 600 Jahre in den Dörfern rund um Vilnius gehalten hat. Ende des 14. Jahrhunderts waren die Karäer von Großfürst Vytautas ins Land geholt worden, bis heute haben sie sich als kleine Minderheit erhalten. Gegessen wird die Hausmannskost der aus einer jüdischen Sekte hervorgegangenen Volksgruppe, die »Kibinas«, eine mit Lammstücken gefüllte Teigtasche, dazu Wodka »Sobieski« - kleinste Einheit 100 Gramm.
In Klaipeda, Litauens Hafenstadt, herrscht geschäftiges Treiben. Glaspaläste direkt am Kurischen Haff beherbergen Büros und Hotels, im Sommer setzen hier Tausende Touristen mit dem Fährboot auf die Nehrung über, zu einem 90 Kilometer langen und oft nur 500 Meter breiten Naturwunder mit Sanddünen, die bis zu 50 Meter in den Himmel ragen.
Hinter den Hafenanlagen liegt die bereits im 16. Jahrhundert planmäßig angelegte Altstadt aus verputzen Fachwerkhäusern, die schon viele Ansiedlungen und Vertreibungen gesehen hat. Vom deutschen Charakter Memels sind nur mehr bauliche Zitate übrig geblieben, und auch die sowjetische Zeit kann kaum noch erahnt werden. Klaipeda ist die Stadt der schnellen Geschäfte, hier kommen die Waren ins Land, die Litauens junge Generation in einen Konsumtaumel stürzen, der in zu vielen Fällen auf Pump finanziert ist.
Das Gegenstück zum hektischen Klaipeda finden wir in Panemune, Grenzübergang zum Kaliningrader Gebiet, der russischen Exklave. Mehrere Holzhütten und ein halbes Dutzend Metallcontainer fungieren als Versicherungsbüros und Bars. Die etwa 30 Pkw, die in der Schlange vor dem Zollhaus in Richtung Kaliningrad stehen, haben eine durchschnittliche Wartezeit von drei bis fünf Stunden vor sich. Die Langsamkeit beruhigt die Menschen indes kaum, mancher Chauffeur braucht gut 20 Minuten, bis er verstanden hat: Den Motor kann man hier getrost abstellen.
Nur der Fluss Nemunas (Memel) trennt das litauische Kaff von der gegenüberliegenden Stadt Sowjetsk, die in ostpreußischen Zeiten Tilsit hieß. Der Fußgängerübergang wird frequentiert. Kleinhandel beherrscht die Szene. Litauer kostet das Halbjahresvisum, das zum mehrfachen Übertritt berechtigt, im russischen Konsulat in Klaipeda nur 30 Litas, umgerechnet 8 Euro. »Drüben ist alles billiger«, erzählt uns eine Frau. Diese Art des kleinen Grenzverkehrs steht allerdings vor dem Aus. Denn vor der Aufnahme Litauens in das Schengen-Regime erwartet Brüssel die Abschaffung aller Sonderregelungen mit Drittstaaten. Und das Kaliningrader Gebiet ist für Litauen zum Drittstaat geworden.

Katholischer Glaube, antirussische Identität
Die 3,5 Millionen Einwohner des Landes stellen ethnisch und religiös die homogenste Bevölkerung der drei baltischen Republiken dar. Der russische Bevölkerungsanteil beträgt knapp 10, der polnische etwas über 7 Prozent. Deutsche und Juden spielen nach Krieg und Holocaust keine Rolle mehr. Der langen historischen Partnerschaft mit Polen ist es geschuldet, dass die überwiegende Mehrheit der Litauer römisch-katholisch betet. Das Selbstverständnis ist überwiegend konservativ. Und wer sich auf die Suche nach einer linken politischen oder gesellschaftlichen Kraft macht, wird es schwer haben, seriöse Gesprächspartner zu finden.
Stattdessen regiert die nationale Frage, auch und gerade im politischen Establishment. Mindaugas Jurkynas, Politikwissenschaftler im Range eine offiziellen Präsidentenberaters, erklärt in wenigen Sätzen die Identität seiner Landsleute: »Ich glaube nicht an eine baltische Integration, die ist nur kosmetisch. Die einzige Gemeinsamkeit zwischen Estland, Lettland und Litauen speist sich aus unserem Antisowjetismus. Der kann allerdings nur eine negative, rückwärtsgewandte Identität bilden.« Die Zukunft sieht Jurkynas im Konkurrenzkampf um Marktanteile. In dieser Hinsicht glaubt er an die oft beschworenen »baltischen Tiger«. Der 34-Jährige strotzt vor Kraft: »Wir sind die Sieger. Dieses Siegerbewusstsein formt unsere positive Identität.«
Über wen die Litauer gesiegt haben, steht außer Frage: über die Sowjetunion und deren Nachfolger Russland. Ganz entschieden weist der Präsidentenberater das Ansinnen zurück, Russland als baltischen Anrainer zu betrachten. »Unsere politische Identität liegt im demokratischen System begründet.« Russland passt nicht in dieses Konzept. Im Gegenteil: Der verschmähte große Bruder gibt einen idealen Sündenbock ab. Alle Probleme Litauens werden Russland - mehr als der russischen Minderheit im Lande - in die Schuhe geschoben. »Die Bedrohung wird ständig übertrieben«, meint dazu ein zaghafter Kritiker litauischer Politik, Gierius Sarkansas, der eine Homepage betreibt, die zwischen Globalisierungskritik und Angst vor Überfremdung schwankt.
Wie die postsowjetische litauische Identität konstruiert wird, kann man am eindrucksvollsten im »Museum der Opfer des Genozids« in Vilnius studieren. In der Stadt, in der nach der deutschen Besetzung 1941 die in Relation zur Bevölkerung größte jüdische Gemeinde Osteuropas von den Nazis ins Getto gesperrt und dann planmäßig vernichtet wurde, gilt der »Genozid«-Begriff den von den Sowjets ermordeten »litauischen Freiheitskämpfern« der Jahre 1944 bis 1953. Mit den »Waldbrüdern«, die in kleinen Gruppen fast zehn Jahre lang gegen die »sowjetische Okkupation« gekämpft hatten, beschäftigt sich die Ausstellung im Genozidmuseum. Ihre Heldentaten werden dort den ohne Zweifel brutalen Verfolgungen durch NKWD/MWD-Offiziere gegenübergestellt. Der Partisanenkrieg, antikommunistisch, national und antirussisch, wird zum Mythos des Litauertums stilisiert. Durch die Keller des KGB-Gebäudes, in dem zuvor das Gestapo-Quartier untergebracht war, ziehen Heerscharen von Schulklassen, um dem litauischen Nationalgefühl historisches Fundament beizustellen.
Die Verfassung des Jahren 1992 hat dem Land ein halbherziges Präsidialsystem verschafft. Wer politisch tatsächlich das Sagen hat, ist indes nur schwer zu durchschauen. Mafiotische Strukturen werden allerseits beklagt. Die Menschen haben das Vertrauen in die politische Klasse verloren, die Agonie überwiegt. Die erste EU-Wahl des Landes ließ mehr als die Hälfte der Bürger kalt, nur 48,2 Prozent fanden den Weg zur Urne, an der sie die »Arbeitspartei« des russischstämmigen Millionärs Viktor Uspaskich zur stärksten Partei machten. Uspaskich wird heute in Litauen wegen angeblicher Korruption gesucht und hat sich nach Moskau abgesetzt.
Die Parlamentswahlen im Oktober 2004 beehrten 46,8 Prozent mit ihrer Teilnahme. Dass sich die Gewählten weit abgehoben von den Wählenden bewegen, hat unlängst auch Staatspräsident Valdas Adamkus zu kritischen Anmerkungen veranlasst. Anlässlich des 17. Jahrestages der Unabhängigkeit am 11. März beklagte er »das Misstrauen, ja die Verzweiflung unserer Mitbürger«. »Warum«, fragte Adamkus, »existiert ein so großes Segment in unserer Gesellschaft, das nicht an die Wichtigkeit von Wahlen glaubt? Warum fühlt es Zweifel und Unsicherheit gegenüber den staatlichen Institutionen, ihrer Arbeit und sogar der Wichtigkeit der Staatlichkeit überhaupt?« Gegen Ende der Festrede setzte er noch eins drauf: »Was uns am meisten fehlt, ist der Zusammenhang zwischen Versprechen und Einlösen, zwischen Aktion und Verantwortung.« Mit diesem Offenbarungseid entließ er das Publikum in die litauische Wirklichkeit.

Amtsenthebung statt Bürgerbeteiligung
Diese politische Wirklichkeit ist geprägt von einer seltsamen Abfolge von Amtsenthebungsverfahren, die seit Jahren in die demokratische Willensbildung eingreifen. Anlass bieten in der Regel Korruptionsvorwürfe. Der prominenteste Fall betrifft den vielleicht populärsten Politiker Litauens: Am 26. April 2004 stimmte der Seimas (Parlament) mit knapper Mehrheit für die Amtsenthebung von Rolandas Paksas. Knapp ein Jahr zuvor hatte der heute 50-Jährige die Präsidentenwahl gegen Adamkus gewonnen. Paksas, zuvor bereits zwei Mal Ministerpräsident und auch Bürgermeister von Vilnius, stolperte über den Vorwurf, für einen seiner Unterstützer, den Russen Juri Borissow, die litauische Staatsbürgerschaft erschlichen zu haben. Das Verfassungsgericht ahndete diesen Bruch des Amtseides mit dem Entzug eines Teils der bürgerlichen Rechte: Paksas darf nie wieder ein politisches Amt antreten, das an eine Eideserklärung gebunden ist.
Hinter der vermeintlich politisch-moralischen Säuberungsaktion stehen handfeste wirtschaftliche und militärische Interessen. Bei der konservativen, USA-freundlichen Elite des Landes war Paksas bereits 1999 als Regierungschef in Ungnade gefallen, als er sich gegen den Ausverkauf der Raffinerie »Mazeikiu Nafta« an den USA-Konzern Williams International aussprach. Der damalige und inzwischen ins Amt zurückgekehrte Präsident Adamkus stand hinter dem Deal.
Ins Rollen kam das Amtsenthebungsverfahren wohl nach Paksas' Kritik am Engagement für den Irak-Krieg. Die entscheidende Frage, die sich hinter dem Vorgang verbirgt, ist jedoch: Wie hält es die litauische Politik mit Russland? Die Elite ist in Ideologen und Pragmatiker gespalten. Bei den Ideologen dominieren jene Kräfte, die Anfang der 90er-Jahre aus dem US-amerikanischen Exil gekommen sind. Prominentester Vertreter dieser Gattung ist Langzeitpräsident Adamkus; seine politische Karriere begann in den USA, wohin er nach dem Zweiten Krieg emigriert war und wo er unter Ronald Reagan hohe Verwaltungsämter bekleidete.
Die Pragmatiker wiederum orientieren sich an der ökonomischen Wirklichkeit. Ohne Russland wäre Litauens Wirtschaft kaum überlebensfähig, das betrifft sowohl die aus dem Osten kommende Energie als auch den Absatz einer Reihe von litauischen Produkten.
Nach Paksas wurde Parlamentspräsident Arturas Paulauskas - offiziell wegen privater Nutzung eines Regierungsfahrzeugs - aus dem Amt entfernt. Solche Vorgänge prägen das politische Leben und tragen zur Politikmüdigkeit der Bevölkerung bei. Als Sieger aus all diesen Machinationen gingen bislang immer die betont USA-hörigen Kreise hervor, was manchen Verschwörungstheoretiker zur Vermutung veranlasst, auf litauischem Boden würde ein ganz anderer Kampf ausgetragen: nämlich der zwisch...

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