In der Brandnacht hatten sich sogar die »Aufklärer« verdünnisiert

Einsatzleiter der Polizei über die Vorgänge vom 24. zum 25. August 1992 in Rostock-Lichtenhagen

  • Wolfgang Rex, Schwerin
  • Lesedauer: ca. 6.5 Min.

Der Prozess um die Brandnacht von Rostock-Lichtenhagen hätte in dieser Woche eine Wende erleben können. Zwei wichtige Zeugen sagten aus.

Jürgen Deckert war im August 1992 stellvertretender Polizeidirektor in Rostock. Selbst Kritiker des Polizeieinsatzes vom 22. bis 25. dieses Monats halten dem Bremer zugute, dass er der einzige führende Beamte war, der sein Wochenende unterbrach als er von den Ausschreitungen im Stadtteil Lichtenhagen hörte. Im »Sonnenblumenhaus« in der Mecklenburger Allee hatte man eine Aufnahmestelle für Asylbewerber untergebracht. Das Haus war hoffnungslos überfüllt. Landesbehörden verweigerten Hilfe. In den Tagen vor den Nazi-Krawallen erschienen in Rostocker Zeitungen angeblich anonyme Aufrufe, in Lichtenhagen aufzuräumen. Ab 22. August versammelten sich johlende Neonazis und Beifall klatschende Lichtenhagener vor dem Haus für Asylbewerber. Immer mal wieder flogen Brandflaschen. In der Nacht zum 25. August brannte das Haus, erwiesenermaßen angesteckt von randalierenden Neonazis. Wer konkret die Flaschen warf, ist bis heute nicht ermittelt. Die Krawalltage erlebte Jürgen Deckert als Einsatzleiter der Rostocker Polizei. Kollegen loben an ihm, dass er tatsächlich mit ihnen vor Ort im Einsatz war und nicht vom Schreibtisch aus dirigierte. Am Donnerstag dieser Woche erschien Deckert vor dem Schweriner Landgericht als Zeuge. Angeklagt sind drei junge Schweriner, wegen Beihilfe zu versuchtem Mord und wegen gemeinschaftlicher Brandstiftung. Sie gaben nur zu, in der Brandnacht am »Sonnenblumenhaus« in Rostock-Lichtenhagen gewesen zu sein. Polizist Deckert gibt vor Gericht zu, dass er keine Erfahrungen als Leiter eines solch großen Einsatzes hatte. In den Jahren nach der Wende übernahmen West-Bundesländer Patenschaften über die neu gegründeten Ost-Länder. Entscheidende Posten in den Innen- und Justizministerien wie in den Polizeidirektionen wurden mit West-Beamten besetzt. In der Regel beendeten die am Freitagmittag ihren Dienst und fuhren nach Hause. Deckert leitete auch in der Brandnacht vom 24. zum 25. August den Einsatz. Die Aufgänge des »Sonnenblumenhauses« in denen Asylbewerber wohnten, waren leergeräumt. Vor dem Haus fanden sich am Montag nur noch wenige »Störer« ein, wie der Polizist Deckert sagt. Dass einstige vietnamesische Vertragarbeiter noch in zwei Aufgängen des langen Plattenbaus wohnten, wusste der Polizeichef. Er habe geglaubt, den Vietnamesen drohe keine Gefahr, sagt er. Irgendwann will er in diesen Tagen im August 1992 mal gehört haben, dass die Schläger zu den Vietnamesen im »Sonnenblumenhaus« sagten: »Euch tun wir nichts!« Die Vietnamesen seien in Rostock doch integriert, erklärt Polizist Deckert dem Gericht. Da wird sogar Staatsanwalt Wulf Kollorz heftig. Das stimme nicht. Er sei selbst mit einer Asiatin verheiratet. Seine Frau werde angepöbelt, wenn sie auf die Straße gehe. Deckert wiederholt, dass er von freundschaftlichen Verhältnissen wisse. Das ändere sich schon auf dem Weg von der Haustür zur Straßenbahnhaltestelle, erwidert der Staatsanwalt. Nguyen do Thinh sitzt im Gerichtssaal als Nebenkläger. Der Vietnamese gehört zu den in der Augustnacht Eingeschlossenen, die sich nur über eine Dachluke aus dem brennenden »Sonnenblumenhaus« retten konnten. Er bestätigt, dass die DDR- Bevölkerung freundlich mit vietnamesischen Vertragsarbeitern umging. Das habe sich ab 1988 geändert. Da spürte er die stärkeren Vorbehalte. Nach der Wende sei offen ausgesprochen worden, was er bis dahin nur versteckt hörte. In der Brandnacht im August 1992 sah Nguyen do Thinh, wie sich die Polizei zurückzog. Er habe das zunächst für Taktik der Polizei gehalten. Er dachte, die wollten so die Angreifer überwältigen. Die Bewohner in den brennenden Aufgängen 18 und 19 seien jedoch ohne Hilfe geblieben. Das bestätigt auch Burkhard Legler vor dem Schweriner Landgericht. Der Mann war damals als Wachmann im »Sonnenblumenhaus«. Er sah die Neonazis Brandsätze werfen. Per Funk habe er Kollegen informiert, dass das Haus brennt und Menschen eingeschlossen seien. Er wisse von zwei Frauen, erklärt er dem Gericht, die die Polizei anriefen. Die ließ sich nicht blicken, sagt der inzwischen arbeitslose Wachmann. Dann habe er vom Balkon aus um Hilfe gerufen, sagt Legler. Der Mann kann vor Gericht die Tränen nicht unterdrücken. Verzweifelten Vietnamesen drückte er die Köpfe über das Balkongeländer, damit sie wenigstens frische Luft bekamen. Zwei der drei Angeklagten hatten ausgesagt, sie hätten in der Brandnacht niemanden im »Sonnenblumenhaus« gesehen. Natürlich bestreiten sie jede Teilnahme an den Krawallen vor dem Haus. Einsatzleiter Deckert wird vom Vorsitzenden Richter Heydorn, vom Staatsanwalt und von den Anwälten der Nebenkläger befragt, warum das »Sonnenblumenhaus« zweieinhalb Stunden ohne Polizeischutz blieb. Genau in dieser Zeit gingen die Neonazis zum Angriff über und steckten das Haus in Brand. Deckert erklärt, dass gegen 18 Uhr zwei Hamburger Hundertschaften abberufen wurden. Er selbst forderte zwei neue an, das sei abgelehnt worden. Den Vorhaltungen, dass bis 22.30 Uhr direkt vom »Sonnenblumenhaus« in der Mecklenburger Allee überhaupt kein Polizist zu sehen war, versucht Deckert zu widersprechen. In der Güstrower Straße und an der B 103 standen einsatzbereite Kräfte, sagt der Einsatzleiter vor Gericht. Staatsanwalt Kollorz zitiert die Zeitung taz, die nach dem Brand über einen angeblichen Pakt Deckerts mit den Angreifern schrieb. Vorgehalten wird ihm auch die Aussage eines Polizisten. Der will gehört haben, dass Deckert sagte, die Polizei habe ein Abkommen mit den »Störern«, deshalb dürfe sie sich nicht vor Ort sehen lassen. Solche Worte bestreitet der ehemalige Einsatzleiter. Er gibt aber zu, dass sich ein Mann bei der Polizei meldete. Der unter dem Namen Witt in die Protokolle Eingegangene soll gesagt haben, dass er für Ruhe sorgen könne. Witt soll angeblich zwei Bedingungen gestellt haben: Er wollte mit der Polizei sprechen und sich außerdem davon überzeugen, dass die Aufnahmestelle für Asylbewerber geräumt ist. Einsatzleiter Deckert erklärt vor Gericht, dass er von diesem Angebot über Funk erfuhr, verhandelt habe er nicht mit Witt. Dafür gibt er zwei mysteriöse Vorgänge zu: Nicht nur die uniformierte Polizei, auch die »Aufklärer« der Kripo in Zivil entfernten sich in den kritischen Stunden vom Tatort. Sogar die zwei im Haus für Asylbewerber eingesetzten »Aufklärer« hätten sich »verdünnisiert«, so Deckert vor Gericht. Dokumentationstrupps der Polizei hätten vor Ort sein müssen, erklärt der Einsatzleiter außerdem. Ob sie am Montag die Vorgänge aufzeichneten oder sich ebenfalls zurückzogen, wisse er nicht. Die drei Angeklagten können sich beruhigt zurücklehnen. Bisher trat kein Zeuge auf, der ausgesagt hätte, dass sie Brandsätze warfen. Eine Zeugin hat sogar eine frühere Aussage widerrufen. Alles läuft auf Freispruch hinaus. In dieser Woche schrieben Lokalzeitungen aus Mecklenburg-Vorpommern, offensichtlich seien weder Politik noch Justiz und auch nicht die Polizei daran interessiert, die Vorgänge in Rostock-Lichtenhagen aufzuklären. Es gehe wohl nur noch darum, formal eine lästige Geschichte abzuhaken, vermutet Wolfgang Richter, der Rostocker Ausländerbeauftragte. Er tritt ebenfalls als Nebenkläger vor Gericht auf. Richter bezeichnet die zweieinhalb Stunden, in denen sich die Polizei zurückzog, als Schlüsselszene. Die Gründe für diesen Rückzug sollten aufgeklärt werden. Was die Rolle der Angeklagten betrifft, verweist Wolfgang Richter auf Videoaufnahmen. Er selbst sah und hörte, wie sich Fernsehreporter am 24. August nachmittags mit Originalton von der Kaufhalle vor dem »Sonnenblumenhaus« meldeten. Es sei noch nichts los, man melde sich wieder, falls es wieder zu Ausschreitungen komme, wurde angekündigt. Richter war an diesem Tag mit dem ZDF verabredet. Gemeinsam mit Reporter Dietmar Schumann saß er im brennenden Haus fest. Nach Richters Ansicht müsste genügend Video-Material über die Brandnacht vorhanden sein. Unter Umständen könnte man auf solchen Filmen auch die drei Angeklagten identifizieren. Richter Horst Heydorn zeigte sich bisher unbeholfen. Ratlos fragte er einmal in die Runde, wen er beim ZDF anschreiben könne, um zusätzliches Videomaterial zu erhalten. Der gesendete Bericht von Schumann ist zwar Bestandteil der Prozessakten. Darin sind die drei Angeklagten aber nicht zu erkennen. Heydorn beklagte im Verlauf des Prozesses, dass sogar von der Staatsanwaltschaft Rostock 1992 verwendetes Videomaterial verschwunden ist. Auch deshalb finden es die Nebenkläger wichtig, aufzuklären, wie das mit den Dokumentationstrupps der Polizei war. Waren sie vor Ort und filmten oder wurden sie auch abgezogen? Beinahe bei jeder beliebigen Demonstration sieht man Polizeiwagen mit Videokameras und Polizisten, die fotografieren. Zweifel äußert Richter Heydorn, ob er einen Wunsch der Nebenklage erfüllen kann, die beiden »Aufklärer« als Zeugen zu laden, die sich in den Brandstunden aus dem »Sonnenblumenhaus« entfernten. Immer noch geht es um die Gründe für den seltsamen Rückzug der Polizei in diesen Stunden. Der damalige Einsatzleiter verspricht, seine Vorgesetzten zu fragen, ob er die Namen der beiden Leute nennen darf. Er hatte ...

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