Bewusstsein ohne Gehirn
Kann man den Geist eines Menschen auf eine Maschine übertragen? Von Martin Koch
Die Frage, in welchem Verhältnis Leib und Seele beziehungsweise Materie und Geist zueinanderstehen, beschäftigt Wissenschaftler und Philosophen schon seit Langem. Eine viel zitierte Antwort gab Mitte des 19. Jahrhunderts der deutsch-schweizerische Naturforscher Carl Vogt. In seinen »Physiologischen Briefen« erklärte er, »dass all jene Fähigkeiten, die wir unter dem Namen Seelentätigkeiten begreifen, nur Funktionen der Gehirnsubstanz sind, oder, um mich einigermaßen grob auszudrücken, dass die Gedanken in demselben Verhältnis zu dem Gehirn stehen, wie die Galle zur Leber oder der Urin zu den Nieren«.
Einer, der Vogt hier entschieden widersprach, war Wladimir I. Lenin. In seinem Buch »Materialismus und Empiriokritizismus« belegte er dessen Auffassung mit dem wenig schmeichelhaften Adjektiv »vulgärmaterialistisch«. Denn Empfindungen und davon abgeleitete Gedanken seien nicht materiell, sondern subjektive Abbilder der objektiven Welt, so Lenin. An einer Idee indes hielt er fest. Er beschrieb Geist und Bewusstsein als »höchste Produkte der in besonderer Weise organisierten Materie«, sprich des Gehirns.
Mit diesem Begriff wird das vielfach zu beobachtende Phänomen beschrieben, dass ein Ganzes mehr ist als die Summe seiner Teile. Oder anders ausgedrückt: Ein System, das aus vielen Elementen besteht, bringt oftmals Eigenschaften hervor, über die keines seiner Elemente verfügt. Dieser Fall tritt meist dann ein, wenn die Elemente des Systems untereinander spezielle Wechselwirkungen eingehen.
Ein einfaches Beispiel ist Wasser (H2O) - eine chemische Verbindung, bei der jedes Molekül aus zwei Wasserstoffatomen (H) und einem Sauerstoffatom (O) besteht. Bei Zimmertemperatur ist Wasser flüssig und durchsichtig. Ein einzelnes Wassermolekül hat diese Eigenschaften nicht. Flüssig und transparent zu sein, sind also emergente Eigenschaften des Wassers, die sich erst durch das Zusammenwirken vieler Wassermoleküle ergeben. mak
Lenin bekräftigte damit seinen eigenen materialistischen Standpunkt, den er unter anderem dem sogenannten psychophysischen Dualismus gegenüberstellte. Danach gibt es neben dem materiellen Körper einen davon unabhängigen immateriellen Geist. Diese These, die sich auch in den meisten Religionen wiederfindet, stellt vermutlich die eingängigste Lösung des Leib-Seele-Problems dar. Sie wirft allerdings zahlreiche Fragen auf, auf die es bis heute keine zufriedenstellenden Antworten gibt. So ist zum Beispiel unklar, wie der energielose Geist es fertigbringen soll, das Gehirn kausal zu beeinflussen und den Körper zu bestimmten Handlungen zu veranlassen. Zudem ist der Dualismus mit der Evolutionstheorie unvereinbar. Denn ein immaterieller Geist, der losgelöst von der Materie existiert, ist keinen Selektionsprozessen unterworfen. Ein Geist als Gehirnfunktion kann dagegen zusammen mit dem Gehirn evolvieren.
Obwohl der Dualismus aufgrund solcher Schwierigkeiten zunehmend an Akzeptanz verloren hat, ist unsere Alltagssprache noch immer weitgehend dualistisch geprägt. Das erweckt bei vielen den Eindruck, als könne man den Geist, verstanden zum Beispiel als eine Art Software, von der Hardware des Gehirns ablösen und woandershin transportieren. Science-Fiction-Filme nähren diese Hoffnung. In dem US-Streifen »Transcendence« wird der Geist des tödlich verletzten Protagonisten auf einen Computer hochgeladen und findet dort Zugang ins Internet, um sich zu verbreiten. In dem französischen Film »Lucy« schafft es eine Frau, die dank einer Droge 100 Prozent ihrer Gehirnleistung kontrollieren kann, ihr Ich auf einen USB-Stick zu transferieren.
Das damit verbundene Problem der digitalen Unsterblichkeit wird auch von seriösen Wissenschaftlern verfolgt, obwohl die Aufgabe, eine funktionsfähige Kopie des Gehirns auf einen Computer zu übertragen, schier gigantisch wäre. Denn das menschliche Gehirn hat ungefähr 86 Milliarden Nervenzellen (Neuronen), die jeweils über rund 10 000 Synapsen mit anderen Nervenzellen individuell vernetzt sind. Das heißt, die Erfahrungen und Erinnerungen eines Menschen werden ebenso wie einige Persönlichkeitseigenschaften durch ein einmaliges Muster von zig Billionen Synapsenverbindungen repräsentiert, das man Konnektom nennt.
Der Aufgabe, ein Konnektom zu kopieren, hat sich seit Längerem der Physiker Sebastian Seung von der Princeton University verschrieben. Noch benutzt er dafür Mäusehirne, glaubt aber, dass sich seine Methode auch bei Menschen anwenden ließe. Zunächst wird das Gehirn mit einem hochpräzisen Messer in hauchdünne Scheiben geschnitten, die danach abschnittsweise von einem extrem leistungsstarken Elektronenmikroskop gescannt werden. Nachdem die dabei erzeugten vergrößerten Bilder auf einem Computer gespeichert sind, werden sie wieder aufeinandergelegt und die Zellen über die Scheibchen hinweg verbunden. Dadurch entsteht ein dreidimensionales Modell des jeweiligen Gehirnabschnitts, aus dem hervorgeht, was darin auf welche Weise verbunden ist.
Wollte man mit dieser Methode ein menschliches Gehirn kopieren, bräuchte man einen Speicherplatz von einem Zettabyte. Das entspricht der heute weltweit gespeicherten Informationsmenge. Ungeachtet dessen lädt der amerikanische Neurobiologe David Eagleman zu einem Gedankenexperiment ein: »Schauen wir einmal weit in die Zukunft und stellen uns vor, wir könnten ein Abbild von einem speziellen Konnektom machen.« Würden die erhaltenen Informationen ausreichen, um den dazugehörigen Menschen zu repräsentieren? Könnte dieser Schnappschuss sämtlicher Schaltkreise des Gehirns Bewusstsein entwickeln? Nein, meint Eagleman. »Der Schaltplan ist nur die Hälfte des lebendigen Gehirns. Die andere Hälfte ist die elektrische und chemische Aktivität zwischen den Verbindungen: Botenstoffe werden ausgeschüttet, Proteine verändern ihre Form, elektrischer Strom fließt durch die Axone der Gehirnzellen.« Auch diese Prozesse machen das Besondere, das Einmalige eines Menschen aus. Und sie sind häufig das Resultat körperlicher Aktivitäten und sozialer Interaktionen, die das Gehirn auf unvorhersehbare Weise beeinflussen.
Zum Verständnis des Bewusstseins reicht es offenkundig nicht aus, allein die Feinstruktur des Gehirns in Betracht zu ziehen. Vielversprechender ist der Ansatz, Geist und Bewusstsein als emergente Eigenschaften des Gehirns zu begreifen. Unter Emergenz (lat. emergere = auftauchen) versteht man die spontane Herausbildung neuer Eigenschaften eines Systems infolge des Zusammenwirkens seiner Elemente. Dabei gilt: Die emergenten Eigenschaften des Systems kommen keinem seiner Elemente zu und lassen sich auch nicht vollständig auf deren Eigenschaften zurückführen. Hinter dem Phänomen Emergenz verbirgt sich, wenn man so will, ein dialektischer Prozess, bei dem quantitative Veränderungen eines Systems zum Entstehen einer neuen Qualität führen. Lebendig zu sein, wäre demnach eine emergente Eigenschaft der biologischen Zelle. Und das, was man gemeinhin Bewusstsein nennt, eine emergente Eigenschaft komplexer neuronaler Systeme.
Bei einer solchen Betrachtung gelte es jedoch, einige Missverständnisse zu vermeiden, betonen der Philosoph Mario Bunge und der Biologe Martin Mahner in ihrem lesenswerten Buch »Über die Natur der Dinge«. »Sprechen wir bei Geist und Bewusstsein von Emergenz, dann ist damit nicht gemeint, dass das Gehirn gleichsam eine geistige Substanz produziert, die als eigenständiges Ding irgendwie neben oder über dem Gehirn existiert.« Vielmehr sei das Bewusstsein der Innenaspekt bestimmter komplexer neuronaler Systeme, die von außen betrachtet nichts als neurophysiologische Prozesse erkennen lassen. Oder anders formuliert: In der subjektiven Erfahrung des Individuums, auch Erste-Person-Perspektive genannt, ist lediglich Mentales präsent, zum Beispiel die Farbe Rot. Dagegen offenbart die objektive Beobachtung, also die Dritte-Person-Perspektive, nur ein komplex vernetztes System von Nervenzellen. Pointiert könnte man sagen: Farben wie Rot sind vom Gehirn hervorgerufene Erlebnisqualitäten von elektromagnetischer Strahlung in einer eigentlich farblosen Welt.
Oft schwingt bei der Deutung emergenter Prozesse die Vorstellung mit, dass das Gehirn das Bewusstsein verursache. Bunge und Mahner widersprechen auch hier: »Eine Verursachung liegt nur dann vor, wenn ein Ereignis in einem Ding A ein Ereignis in einem anderen Ding B hervorbringt.« Das Entstehen von Bewusstsein in komplexen neuronalen Systemen könne jedoch nicht als ein kausales Hervorbringen verstanden werden. Bewusstsein sei vielmehr eine spezielle Eigenschaft jener Systeme und lasse sich mithin nicht von diesen abtrennen und transferieren. Auch kann es nicht mit anderen Dingen oder Systemen unmittelbar wechselwirken, wie von Esoterikern gern behauptet wird. Denn das liefe dem Energieerhaltungssatz zuwider.
Zwar sagt die Auffassung, dass Bewusstsein eine emergente Eigenschaft des Gehirns ist, noch nicht viel über dessen Beschaffenheit. Gleichwohl leistet sie einen wichtigen Beitrag zur Naturalisierung des Psychischen. Denn dadurch werde das Auftreten von Bewusstsein als etwas Gesetzmäßiges verstanden, für das es keiner übernatürlichen Zutaten bedürfe, betonen Bunge und Mahner, die ihre Auffassung denn auch emergentistischen Materialismus nennen.
Das Bewusstsein ist danach zwar keine Fiktion, es besitzt aber auch keine eigenständige Existenz losgelöst vom biochemischen Substrat des Gehirns. Die Vertreter des sogenannten Funktionalismus in der Philosophie des Geistes sehen das anders. Bewusstsein ist für sie nicht an irgendeine Biomaterie gebunden, sondern an die in einem System realisierte Struktur. Folglich könnten beliebige Systeme mit entsprechender Komplexität und Vernetzung ebenfalls Bewusstsein entwickeln. An erster Stelle wären hier künstliche neuronale Netze zu nennen, die heute insbesondere im Rahmen der Forschungen zur Künstlichen Intelligenz untersucht werden. Manche Wissenschaftler behaupten sogar, dass sich in einer extrem großen Stadt eine Art Bewusstsein herausbilden könne. Eagleman beschreibt, wie das zu verstehen ist: »Denken wir nur an die vielen Signale, die sich durch eine Stadt ziehen: Telefonkabel, Glasfaser, Abwasserkanäle, jedes Händeschütteln zwischen den Menschen, jede Ampel und so weiter. Das Ausmaß an Interaktionen in einer Stadt ist durchaus mit dem des menschlichen Gehirns vergleichbar.«
Solche Analogien, die mitunter ernsthaft erörtert werden, überzeugen Bunge und Mahner nicht: »Denken und Bewusstsein sind Sequenzen von Zustandsänderungen bestimmter neuronaler Systeme und nur gleichartige Systeme können Zustandsänderungen des gleichen Typs durchmachen.« Vorstellbar wäre zum Beispiel, dass es in den Weiten des Universums außerirdische Lebewesen gibt, die unter evolutionären Bedingungen ein Nervensystem entwickelt haben, das Bewusstsein zulässt. Bei einigen Tieren scheint die Komplexität des Gehirns ebenfalls auszureichen, um bewusste Prozesse zu generieren. Ob Bewusstsein hingegen auch in Systemen entstehen kann, die nicht biotischer Natur sind und keine evolutionäre Geschichte durchlaufen haben, darf bis zum Beweis des Gegenteils bezweifelt werden.
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