Was ist Leben?

Vor 75 Jahren hielt der Physik-Nobelpreisträger Erwin Schrödinger drei bahnbrechende Vorlesungen über die Grundlagen der Biologie.

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 8 Min.

Bekannt wurde der österreichische Physiker Erwin Schrödinger (1887-1961) vor allem dadurch, dass er Mitte der 1920er Jahre die sogenannte Wellenmechanik begründet hatte - eine Form der Quantenmechanik, die eine mathematisch exakte Beschreibung atomarer Prozesse erlaubt. Die grundlegende Gleichung, die er dabei aufstellte und die seither seinen Namen trägt, gilt heute als die meistbenutzte in der Physik. Bereits von ihrem Schöpfer wurde die Schrödinger-Gleichung erfolgreich zur Berechnung der Energiestufen des Wasserstoffatoms angewandt. Aber auch die chemische Bindung, der radioaktive Zerfall und andere Eigenschaften der Materie lassen sich damit mathematisch elegant erfassen.

Nachdem Schrödinger fünf Jahre an der Universität Zürich gelehrt hatte, wurde er 1927 als Nachfolger von Max Planck an die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität berufen. 1933 erhielt er für seine Arbeiten zur Atomtheorie den Physiknobelpreis. Nach der Machtübernahme der Nazis fühlte sich Schrödinger zunehmend unwohl in Deutschland und wanderte freiwillig nach England aus. Drei Jahre später kehrte er zurück in seine Heimat und übernahm einen Lehrstuhl an der Universität Graz. Nach dem »Anschluss« Österreichs wurde er wegen »politischer Unzuverlässigkeit« aus dem Universitätsdienst entlassen und ging - diesmal unfreiwillig - an das Institute for Advanced Studies in Dublin.

Hier begann Schrödingers zweite Karriere, in der er sich ausgehend von der Physik mit unbeantworteten Fragen der Biologie beschäftigte. 1943 hielt er dazu vor rund 400 Zuhörern im Trinity College drei öffentliche Vorlesungen zum Thema »Was ist Leben?«, die ein Jahr später auch als Buch veröffentlicht wurden. Dieses trägt den Untertitel »Die lebende Zelle mit den Augen eines Physikers betrachtet«.

Im Vorwort entschuldigt sich Schrödinger für seinen Ausflug ins fachfremde Gebiet der Biologie. Schließlich erwarte man von einem Wissenschaftler, »dass er von einem Thema, das er nicht beherrscht, die Finger lässt«. Doch im »Streben nach einem ganzheitlichen, alles umfassenden Wissen« sei es mitunter unverzichtbar, so der Nobelpreisträger weiter, dass »einige von uns sich an die Zusammenschau von Tatsachen und Theorien wagen, auch wenn ihr Wissen teilweise aus zweiter Hand stammt und unvollständig ist - und sie Gefahr laufen, sich lächerlich zu machen«.

Lächerlich gemacht hat Schrödinger sich nicht. Im Gegenteil. Sein kleines Buch trug wesentlich dazu bei, dass sich das biologische Denken neuen Schwerpunkten zuwandte, insbesondere den Mechanismen der Vererbung sowie der Frage: Was ist ein Gen und woraus besteht es? Der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer vertritt die Auffassung, dass Schrödingers Buch »am Anfang einer Entwicklung stand, die 1953 zur Entdeckung der Doppelhelix-Struktur der DNA durch James Watson und Francis Crick führte«. Letztere erklärten gelegentlich, dass die Lektüre von Schrödingers Buch ihr Denken maßgeblich beeinflusst habe.

Zumindest erwähnt werden soll, dass andere Naturforscher, so die Chemie-Nobelpreisträger Linus Pauling und Max Perutz, Schrödingers Beitrag zur Biologie im Nachhinein kritischer betrachteten und dessen Originalität infrage stellten. Manche sahen auch die Gefahr, dass man bei einer vorrangig physikalischen Betrachtung biologischer Probleme leicht in ein reduktionistisches Fahrwasser geraten und das Entscheidende in der Biologie, nämlich die Evolution, aus den Augen verlieren könnte.

Veranlasst zu seiner intensiven Beschäftigung mit dem Problem des Lebens wurde Schrödinger durch einen anderen Physiker, den in Deutschland geborenen Max Delbrück, der ab 1937 am California Institute for Technology (Caltech) in Pasadena arbeitete. Von ihm stammt der Satz: »Die Biologie ist für die Biologen viel zu schwer.« Also müssten Physiker ihnen hilfreich unter die Arme greifen. Delbrücks Arroganz war nicht ganz unbegründet. Denn bereits 1935 war er mit zwei Kollegen zu der Erkenntnis gelangt, dass das Gen, welches man bis dahin wie eine abstrakte Einheit behandelt hatte, von materieller Beschaffenheit ist und sich als eigenständiger Atomverband im Innern der Zelle befindet.

Zum Leidwesen Delbrücks blieb dieses Modell zunächst unbeachtet. Er selbst sprach von einem »Begräbnis erster Klasse« seiner Idee. Auf Umwegen gelangte Delbrücks Arbeit zu Beginn der 40er Jahre in die Hände Schrödingers, der sofort davon angetan war und der physikalischen Betrachtungsweise einen weiteren Gesichtspunkt hinzufügte: die Thermodynamik. Denn damals glaubten viele (und manche tun es heute noch), dass namentlich der zweite Hauptsatz der Thermodynamik die Entstehung von Leben grundsätzlich verbiete. Nach diesem Satz hat die Natur das Bestreben, vorhandene Strukturen in sich selbst überlassenen Systemen spontan wieder zu zerstören. Aus Ordnung wird Unordnung. Zur Beschreibung dieses Prozesses verwenden Physiker eine etwas mysteriös anmutende Zustandsgröße namens Entropie, die vereinfacht gesagt ein Maß der Unordnung darstellt und daher in abgeschlossenen Systemen mit der Zeit anwächst.

Für lebende Organismen scheint der zweite Hauptsatz der Thermodynamik indes nicht zu gelten. In ihnen laufen Prozesse ab, die mit einer Verringerung der Entropie einhergehen. So gesehen wären alle Lebewesen Inseln der Ordnung in einem Meer von Unordnung. Denn sie besitzen die einzigartige Fähigkeit, sich selbst zu strukturieren und die dabei erzeugte innere Ordnung an die nächste Generation weiterzugeben. Stellt man sich gar auf den Standpunkt der biologischen Evolution, dann entsteht aus vorhandener Ordnung neue Ordnung, entwickeln sich aus weniger komplexen immer komplexere Organismen. Für Schrödinger lag die entscheidende Frage mithin auf der Hand: Wie ist all das physikalisch zu erklären? Wie schafft es das Leben, die Thermodynamik gleichsam zu überlisten?

Eine Antwort darauf gab er in seinen Vorlesungen, in denen er zunächst darauf verwies, dass jeder lebende Organismus ununterbrochen seine Entropie vermehrt. »Man könnte auch sagen, er produziert positive Entropie - und strebt damit auf den gefährlichen Zustand maximaler Entropie zu, die den Tod bedeutet. Er kann sich ihm nur fernhalten, d.h. leben, indem er seiner Umwelt fortwährend negative Entropie entzieht.« Lebewesen sind nach Schrödinger offene Systeme, die sich von negativer Entropie bzw. Ordnung ernähren, um dem thermodynamischen Verfall entgegenzuwirken. Konkret heißt das: Ein Organismus, der täglich Nahrung zu sich nimmt, nutzt die darin gespeicherte hochwertige Energie, um seine Ordnung zu erhalten und neue Ordnung aufzubauen, und scheidet minderwertige Abfallstoffe wieder aus. Auf diese Weise verringert er seine eigene Entropie, erhöht aber zusätzlich die Entropie der Umgebung - ganz im Einklang mit dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik.

In seinen Vorlesungen entwickelte Schrödinger auch das Konzept des genetischen Codes, das ihm dazu diente, die Stabilität der Übertragung der Erbinformation zu beschreiben. Und das zu einer Zeit, als noch niemand etwas von der Doppelhelix-Struktur der DNA wusste. In den Chromosomen, so betonte er, sei »in einer Art Code das vollständige Muster der zukünftigen Entwicklung eines Individuums und seines Funktionierens im Reifezustand enthalten«. Es sind folglich die in der Generationenfolge übertragenen Gene, die die Ordnung des Lebens und dessen Fortbestand in der Zeit garantieren.

Doch so viele anregende Ideen Schrödinger auch lieferte, um dem Problem der Vererbung beizukommen, auf die von ihm selbst gestellte Frage, was Leben ist, blieb er eine Antwort schuldig. Rückblickend verwundert das nicht. Denn eine eindeutige, allgemein akzeptierte Definition des Lebens fehlt bis heute. Was Wissenschaftler häufig nur angeben, sind Funktionen, die ein System erfüllen muss, um als lebend eingestuft zu werden. Die drei wichtigsten seien hier genannt. Erstens: Das System muss ständig im Energie- und Stoffaustausch mit seiner Umwelt stehen, so dass es wachsen und sich entwickeln kann (Metabolismus). Zweitens: Es muss die Fähigkeit zur Fortpflanzung besitzen und in der Lage sein, seine genetische Information an die nächste Generation zu vererben (Selbstreproduktion). Drittens müssen im Zuge dieser Vererbung »Fehler« auftreten, verursacht etwa durch zufällige Veränderungen der genetischen Information (Mutabilität).

Die meisten Lebewesen auf der Erde - von einfachen Bakterien bis hin zum Menschen - erfüllen diese Kriterien. Schwierig wird die Sache bei den Viren: Zählen auch sie zu den Lebewesen? Die Auffassungen darüber sind unter Wissenschaftlern geteilt. Geht man von den oben erwähnten Funktionen aus, sind Viren keine lebenden Organismen. Denn sie haben keinen eigenen Stoffwechsel. Und zur Reproduktion sind sie auf die genetische Maschinerie einer Wirtszelle angewiesen. Das heißt, ohne Wirt würden sie aussterben. Ausgehend hiervon beschloss das »International Committee on Taxonomy of Viruses« im Jahr 2000, Viren die Bezeichnung Lebewesen abzusprechen.

Einige Jahre später wurden jedoch Riesenviren entdeckt, die so groß sind wie Bakterien und solchen auch in anderen Eigenschaften ähneln. Manche Biologen vermuten daher, dass Viren reduzierte Nachfahren von zellulären Vorläufern sind, die erst dann, als sie zu einer Art Parasiten wurden, lebenswichtige Funktionen wie die Reproduktion an ihren Wirt delegierten. Folglich sollten neben den Bakterien auch die Viren dem Stammbaum des Lebens zugeordnet werden. Eine dritte Gruppe von Forschern ist der Meinung, dass Viren eine Grenzform des Lebens darstellen. Immerhin finden sich Spuren von viralem Erbgut auch in der DNA höherer Organismen. Als tote Objekte hätten Viren zudem keine so große Rolle in der Evolution spielen können, in der die Übergänge zwischen Nichtleben und Leben anfänglich fließend waren.

Wer heute den Begriff Leben zu definieren versucht, muss neben wissenschaftlichen auch ethische Fragen berücksichtigen. Die vielleicht wichtigste lautet: Repräsentiert ein Embryo, sprich eine einzelne befruchtete menschliche Eizelle bereits menschliches Leben? In Deutschland wird dies vom Gesetzgeber bejaht. Nach wie vor umstritten ist in der Ethikdebatte, ob beziehungsweise ab wann einem Embryo der Status einer Person zuerkannt werden kann.

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