Fünf Brüder aus Westpreußen

Im Kino: »Söhne« von Volker Koepp

Volker Koepp, der schon oft anhand menschlicher Schicksale über die Zeitläufte des 20. Jahrhunderts reflektierte, hat für seinen neuen Dokumentarfilm »Söhne« wiederum eine erregende Familiengeschichte gefunden. Diesmal führt sie ins Mündungsgebiet der Weichsel, zwischen das frühere Hinterpommern und Ostpreußen. Hier kamen, von 1938 bis 1944, die Kinder der Familie Paetzold zur Welt, vier Söhne eines deutschen Gutsbesitzers. Als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, flüchtete die Mutter mit ihren ältesten Jungs Klaus und Wolf in Richtung Westen; die beiden kleineren, Friedrich und Rainer, sollten vorerst bei den Großeltern in Westpreußen bleiben. Doch nach Kriegsschluss griffen die nunmehr zuständigen polnischen Behörden ein, steckten sie in ein Waisenhaus. Als die Mutter im Sommer 1945 illegal in die alte Heimat kam, um nach ihnen zu suchen, begann für sie ein fast zweijähriger Leidensweg. Sie fand Friedrich - und verlor ihn erneut. Von der Miliz wegen Spionageverdachts verhaftet, musste sie für acht Monate ins Gefängnis. Nach der Entlassung bekam sie von den Gerichten einen Jungen zugesprochen, den sie für Rainer, ihren Jüngsten, hielt und mit nach Deutschland nahm. Erst über zehn Jahre später stellte sich heraus, dass Rainer gar nicht ihr Sohn war; sein wirklicher Name und seine wahre Familie sind bis heute unbekannt. Währenddessen wuchs der »richtige« Rainer als Jerzy bei einer polnischen Pflegemutter auf. Und Friedrich als Stanislaw bei einer Familie, die ihre Tochter im Warschauer Aufstand verloren hatte ... Wie bringt man diese wahnwitzigen Irrwege auf den filmischen Punkt? Da sich die Brüder längst gefunden haben, ließ Volker Koepp sie selbst erzählen und fügte die einzelnen, durchaus unterschiedlichen Reminiszenzen zu einem Mosaik der Erinnerungen und Gefühle. Zunächst begleiteten er und sein Kameramann Thomas Plenert die fünf Männer auf das alte Gut Heinrichshof, wo alles begann, ließen sie einander an den Händen fassen und den Stamm einer riesigen alten Esskastanie umringen. Nur gemeinsam schafften sie die Umarmung dieses Naturdenkmals von zwölf Metern Umfang: ein metaphorisches Motiv, das weit über die Familiengeschichte hinaus als Sinnbild taugt. Später folgt Koepp den Brüdern in ihre heutigen Lebensumfelder, nach Stuttgart, Heidelberg und Warschau, befragt auch ihre Frauen und die Kinder, erkundigt sich nach dem Bewusstsein für Geschichte, schlägt die Brücke vom Vergangenen ins Zukünftige. Viele dieser Reflexionen führen direkt ins Universum der langjährigen Koeppschen Grundthemen: Was bedeutet Heimat, was Entwurzelung? Wie tief und existentiell griffen die Einschnitte des 20. Jahrhunderts in die Biografien der Individuen ein? Welche intimen Interferenzen gibt es im deutsch-polnischen Verhältnis? Ist das Verhaftetsein des Einzelnen an nationalen Stereotypen und staatlichen Mechanismen wie etwa den Einbürgerungsprozeduren wirklich von Bedeutung? Wie gleich und wie verschieden sind die Menschen über Ländergrenzen hinweg? Der Film kann und soll auch als Absage an jene Ideologien und deren Vertreter gesehen werden, die mit nicht nachlassender Dummheit nationalistische Ressentiments kultivieren, statt das Gemeinsame zu betonen und zu fördern. Einmal erkundigt sich Koepp bei Rainer, welcher Nationalität er sich eigentlich zugehörig fühle. »Ich stelle mir die Frage gar nicht«, lautet dann die Antwort. »Ist nicht wichtig, ich bin beides. Ich fühle mich, als ob ich zweimal gelebt hätte, das polnische Leben und das deutsche Leben. Und keines war falsch.« »Söhne«, der im April mit dem Großen Preis des Dokumentarfilmfestivals in Nyon ausgezeichnet wurde, ist ein sehenswerter, guter Film. Und doch kommt er nicht ganz an die stärksten des Regisseurs, an »Kalte Heimat« (1995), »Wittstock, Wittstock« (1997) oder »Herr Zwilling und Frau Zuckermann« (1999) heran. Was ihm, im Gegensatz zu diesen anderen Filmen, fehlt, ist ein emotionales Zentrum. Vermutlich wäre es die Mutter gewesen, Elisabeth Paetzold, die aber 1998 starb und nur noch mit einem Foto und durch Zitate aus einem Erlebnisbericht von 1947 präsent sein kann. Die Söhne selbst wirken, trotz aller Dramatik ihrer Biografien, meist abgeklärt: sachliche, kluge Männer, die ihre Seelenregungen kaum zur öffentlichen Einsicht freigeben. Umso kostbarer sind jene Momente, in denen das geschieht: So wenn sich Klaus an die Fremdheit erinnert, mit der er der Mutter nach ihrer Rückkehr aus Polen 1947 wieder traf: eine Fremdheit, die sich nie mehr verlor und ihn emotional verändert habe. Und wenn Friedrich an die erste Begegnung mit der Mutter lange nach dem Krieg zurückdenkt, vermag er den Satz »Es hat mich ins Herz getroffen« vor der Kamera nur polnisch auszusprechen. Die deuts...

Wenn Sie ein Abo haben, loggen Sie sich ein:

Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.

Bitte aktivieren Sie Cookies, um sich einloggen zu können.

- Anzeige -
- Anzeige -