Geisteswissenschaften zum Anfassen

In Berlin lernen Schüler das »Deutsche Wörterbuch« der Gebrüder Grimm kennen

  • Markus Drescher
  • Lesedauer: ca. 3.0 Min.

Für die Naturwissenschaften wurden nach den verheerenden Ergebnissen der PISA-Studie zahlreiche Schülerlabors eingerichtet, um Jugendliche frühzeitig mit Thematik und Disziplinen vertraut zu machen. Für die Geisteswissenschaften fehlte ein solches Angebot lange Zeit. Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaft hat mit ihrem »Schülerlabor Geisteswissenschaften« diese Lücke im Bildungsangebot in Berlin geschlossen.

»Rapunzel, Rapunzel, lass Dein Haar herunter.« Diesen Satz kennt jedes Kind. »Dummbärtig, adj. und adv. ein dummbärtiger mensch.« Diesen Satz kennen wohl nur sehr wenige Menschen. Und auch das Werk, in dem er steht, ist heute kaum noch bekannt. Dabei stammen beide Sätze aus der Feder der Gebrüder Grimm. Der bekannte aus ihrer weltberühmten Sammlung der »Kinder- und Hausmärchen«. Der unbekannte aus dem »Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm«. Für Marcel Reich-Ranicki ist es »der interessanteste Roman und das allerwichtigste Buch in deutscher Sprache« - benutzt wird es heute aber höchstens noch von Germanisten. Unbekanntheit ist ein Schicksal, das die Berufsbilder von Geisteswissenschaftlern mit dem Deutschen Wörterbuch teilen. Um dies zu ändern, hat die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften das »Schülerlabor Geisteswissenschaften« ins Leben gerufen. »Die Idee ist, Schülern die Praxis eines modernen Geisteswissenschaftlers näher zu bringen und sie dabei nicht nur zu belehren, sondern auch in die Praxis einzuführen«, sagt Yvonne Pauly, die Leiterin des Schülerlabors. Das Deutsche Wörterbuch wird an der Akademie neu bearbeitet. Deshalb befasst sich das Schülerlabor in diesem Jahr unter dem Titel »Die Wörter« mit der lexikografischen Arbeit und bietet Schülern einen Einblick in Geschichte, Entstehung und Neubearbeitung eines Nachschlagewerks. Bevor es losgeht mit Theorie und praktischer Arbeit im Workshop sollen die Schüler des Leistungskurses Deutsch der Charlottenburger Schiller-Oberschule ihre Lieblingswörter nennen und erklären, warum sie sich dafür entschieden haben. Keine leichte Aufgabe, denn die wenigsten haben sich jemals diese Frage gestellt. Die Ergebnisse sind nach ein wenig Nachdenken dann auch ganz unterschiedlich: »Zack« wegen des Klangs, »Sonne«, weil es schöne Erinnerungen und Gefühle weckt, eine ganze Reihe wohlklingender Fremdwörter und manches mehr fällt den 17 Schülern ein. Nach dieser kleinen Übung zur Einstimmung steigen Yvonne Pauly und Marco Scheider, wissenschaftliche Mitarbeiter der Akademie, in die eigentliche Materie ein - das Deutsche Wörterbuch. 1838 begannen Wilhelm und Jacob Grimm mit der Arbeit und veranschlagten einen Zeitraum von etwa zehn Jahren bis zur Fertigstellung. Als Jacob Grimm 1863, vier Jahre nach seinem Bruder, starb, hatten die beiden gerade einmal die Buchstaben A bis E und F bis zum Artikel »Frucht« fertig gestellt. Generationen von Geisteswissenschaftlern arbeiteten weiter an dem monumentalen Werk. Aber erst 1961 konnte der letzte Band des Wörterbuchs erscheinen. Damit historischer Überblick und Theorie nicht zu trocken werden, können sich die Schüler etwas im Wörterbuch umsehen und erneut ein Lieblingswort aussuchen. »Ich bin positiv überrascht und finde die Mischung aus Theorie und eigenem Engagement gut«, beurteilt die Schülerin Kira Hahn das Konzept des Schülerlabors. »Man merkt außerdem, dass viel Arbeit hinter einem Wörterbuch steckt.« Wie viel Arbeit tatsächlich in die Neubearbeitung des Nachschlagewerks investiert wird, weiß Marco Scheider, der an dem Projekt mitarbeitet. Er kann den Schülern aus erster Hand von den Aufgaben eines Lexikografen und den Arbeitsschritten erzählen, die notwendig sind, bis ein Artikel des Wörterbuchs überarbeitet ist. »Die Zeit, die man für einen Artikel braucht, ist ganz unterschiedlich. Das reicht von ein paar Stunden, wenn es nur wenige Belege für das Wort gibt, die man sichten und berücksichtigen muss. Es kann aber auch bis hin zu mehreren Monaten dauern, wenn etwa die Sammlung 10 000 Belege umfasst.« Allein für die Buchstaben A bis C gibt es drei Millionen solcher Belege. Am Ende des Workshops dürfen die Schüler einen eigenen Wörterbuch-Artikel verfassen und ihr Wissen in die Praxis umsetzen. Für Marianne Linke, die Leiterin des Deutsch-Leistungskurses, ist das Schülerlabor eine interessante und willkommene Abwechslung zum Lehrplanalltag. »Als wir das auf den ersten Blick außergewöhnliche und exotische Angebot von der Akademie bekamen, haben wir schnell zugegriffen. Das Schülerlabor bietet eine gute Abwechslung für die Schüler und eine praktische Beschäftigung mit der deutschen Sprache.« Nicht nur bei der Klasse der Schiller-Oberschule kommt das Angebot der Akademie sehr gut an. »Die Rückmeldungen der Schulen zeigen, dass großes Interesse besteht. Wir haben dreimal so viel Anmeldungen ...

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