Perfekte Geschichte

Netzwoche: Lehren aus dem Fall Relotius

  • Alina Leimbach
  • Lesedauer: 3 Min.

»Jimmy ist acht Jahre alt und ein Heroinabhängiger der dritten Generation, ein frühreifer kleiner Junge mit rotblondem Haar, samtig braunen Augen und Nadeleinstichen, die wie Sommersprossen die babyzarte Haut seiner dünnen braunen Arme überziehen.«

So begann einer der frühen Fakes im Journalismus. Geschrieben von der »Washington Post«-Autorin Janet Cooke 1980. Die Geschichte über den achtjährigen Heroinabhängigen, der dennoch regelmäßig die Schule besucht - sie ist wie die Geschichten des Ex-»Spiegel«-Autors Claas Relotius ein bisschen zu perfekt, als dass sie wahr sein könnte. Relotius hat wohl nach derzeitigem Kenntnisstand gleich eine ganze Reihe von Geschichten erfunden, Personen erdacht, Details erdichtet.

Die Causa Relotius ist bei Weitem kein Einzelfall. Ausgerechnet der »Spiegel« selbst war es, der auf seinem Onlineportal vor einem Jahr einen Text über Cookes Fälschung veröffentlichte. Ebenfalls dort erschien eine Strecke der eindrucksvollsten Fake News der letzten Jahre. Schon 1911, liest man dort, versuchte Arthur Schütz mit haarsträubenden und erfundenen Geschichten über technische Innovationen die mangelnde Faktenprüfung des Journalismus zu entlarven. Ohne dass es jedoch über lange Zeit aufflog. Der Undercoverreporter Günter Wallraff erzeugte einen großen Aufschrei, als er in den 70ern über die »großzügige Wahrheitsauslegung« der »Bild«-Zeitung berichtete.

Also nichts Neues? Ja und nein. Der Journalismus ist ein eitles Geschäft. Er ist stets auf der Suche nach dem nächsten Coup. Und dennoch: In den letzten Jahren hat sich das Problem noch zugespitzt. Auf Journalistenpreisverleihungen geht es meist weniger um die Inhalte der Texte, die ausgezeichnet werden. An den Stehtischen hört man dagegen eine Vielzahl Gespräche über fantastische Einstiege, die Dichte der Erzählung, Längen im Mittelteil. Und immer ist von »starken Protagonisten« die Rede. So verschwinden in den Geschichten Menschen; sie werden stattdessen nach ihrem Wert für die »Story« gewichtet. An den Journalistenschulen wird mehr über die gute Schreibe als über Inhalte oder Faktenprüfung gesprochen.

Die Edelfedern können aus allem »Gold« machen. Sie werden von Castrop-Rauxel bis an die mexikanische Grenze geschickt - egal, um welches Thema es geht. Für die gute Geschichte wird die Story gerne hier und dort zugespitzt, die Menschen und Sachverhalte überhöht, bis sie makellose »Helden«, »Opfer«, »Orte des Grauens« sind. Die Leser merken - und noch mehr die Lokalreporter -, dass die Zwischentöne dabei bisweilen abhandenkommen.

Ganz zu recht bemerkt deswegen etwa der »FAZ«-Redakteur Reinhard Bingener auf Twitter: »Der Fall Relotius sagt auch etwas über einen Journalismus aus, in dem sogenannte Geschichten als Leitwährung gelten. Die Wirklichkeit liebt es nicht, sich als ›Geschichte‹ zu präsentieren, dafür ist sie nämlich meist viel zu banal. Ist aber offenbar schwer zu akzeptieren.«

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