Eine tolle Truppe

Das Harzer Bergtheater kämpft um sein Publikum - mit Selbstausbeutung

  • Christina Matte
  • Lesedauer: ca. 9.5 Min.
Im Harzer Bergtheater Thale gibt es keine Kantine. Jedes renommierte Theater besitzt eine Kantine und ist stolz auf sie: Dort baumelt die Seele des Ensembles, schwadroniert seine Zunge, ächzt seine Leber, dort wird Familie zelebriert. Doch Bergtheater-Intendant Mario Jantosch ist nichts mehr zuwider als »Kantinengeschwätz«: »In der Kantine ist jeder Schauspieler der Größte. So was brauchen wir hier nicht.« In Thale, wir werden es sehen, pflegt Not als Tugend aufzutreten. Man darf so etwas Kampfgeist nennen.
Statt einer Kantine findet sich in Thale eine winzige Küche, in der sich die Schauspieler ihre Mahlzeiten bereiten. Nachmittags meist Fertiggerichte aus der Assiette - tiefgefrorene Schnitzel oder Gemüse. Der Küche vorgelagert liegt ein angebauter Speise- und Gemeinschaftsraum von bestenfalls drei mal sechs Metern Größe. Der bietet Platz für zwei längere Tische, umstellt von blauen Plastiksesseln. Einen der Tische schmückt am Tag unseres Besuchs eine Kunststoffschüssel mit Obst. Jeder kann sich aus ihr bedienen, jeder hat dazu beigesteuert. Gemeinschaft: Davon ist viel die Rede.
Klar, wenn ein Ensemble nur aus dreizehn Mimen besteht, die auch noch auf engstem Raum zusammenleben, setzt das voraus, dass sie sich verstehen. Schauspieler und Techniker wohnen den ganzen Sommer über auf dem »Berg«. Der »Berg« steht salopp für Hexentanzplatz, auf dem vor etwa hundert Jahren das Naturtheater erbaut wurde. Und damit sie spätabends nach der Vorstellung nicht noch den Berg hinunter in die Stadt fahren müssen, wo eine Bleibe sie teuer käme, haben sie gleich neben der Freilichtbühne in einer Baracke Quartier bezogen, die sie natürlich »Bungalow« nennen. Ein jeder bewohnt hier ein Zimmer, das etwa fünf Quadratmeter misst. Duschraum und Toiletten über den Hof - Ansprüche darf man hier nicht stellen, zumindest keine materiellen.
»Wer sich nicht einordnen kann oder schon nach einer Woche den Bergkoller kriegt, der passt nicht zu uns, der muss wieder gehen«, sagt Jantosch. Das klingt hart und will nicht zu den weichen Gesichtszügen des Intendanten passen, dem vorzeiten ein ungarischer Vorfahre warme braune Augen vererbte. Und doch ist genau dies Gesetz. Allerdings komme es selten vor, dass jemand das Ensemble vorzeitig verlässt oder verlassen muss - Jantosch stellt seine Truppe nämlich auch nach Teamtauglichkeit zusammen. Er irrt sich selten, denn die meisten kennt er aus früheren Jahren, da er mit ihnen an anderen Theatern zusammengearbeitet hat. Bevor Jantosch 1995 nach Thale kam, war er Musikdramaturg am Theater Nordhausen. Er grinst: »Schindhelm ging damals von dort über Gera nach Basel, ich nach Thale.«
Nein, nicht einer aus Jantoschs Truppe wäre heute gern in Basel. Auch nicht in Berlin. Wo sie doch in Thale spielen können! Matthias Mitteldorf zum Beispiel. Er erhielt seine Ausbildung an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«. Nach elf Jahren in Nordhausen arbeitslos geworden, ist er seither freischaffend. Seit dreizehn Jahren schließt das Bergtheater mit ihm Stückverträge ab. Mitteldorf findet, dass er Glück hat: »Ich muss nichts machen, was mich ankotzt.« Er war es, der bei mir anrief und fragte, ob ich nicht »ein bisschen Werbung für unser Theater« machen könnte. »Naja«, wehrte ich vorsichtig ab, »ich bin nicht die Werbeabteilung.« Aber Mitteldorf beharrte, das Ensemble sei etwas Besonderes, ich solle mich davon überzeugen.
Nun, am Tisch im Gemeinschaftsraum, versuchen auch die anderen, mich davon zu überzeugen. Werner Schwarz, am Düsseldorfer Robert-Schumann-Konservatorium zum Sänger für Oper und Operette ausgebildet, zugleich Schauspieler und Tänzer, schwärmt davon, »wie wir hier zusammenarbeiten, was auf die Beine stellen mit wenigen Mitteln«. Er spricht von »purem Theater, fernab von Tarifverträgen, nicht verwöhnt mit wahnsinnig viel Technik«. Seine Familie wartet im Teutoburger Wald auf ihn, aber dass seine Kinder noch Papa zu ihm sagen, das kriege er hin.
Der 36-jährige Klaus Heydenbluth glaubt, in Thale biete sich ihm »eine Chance«. Er fing in Nordhausen als Bühnentechniker an. Seine Stationen: Kinder- und Jugendtheater Leipzig, privater Schauspielunterricht, Festanstellung im Schauspielhaus Erfurt, »das zwei Jahre später geschlossen wurde, zugunsten einer Oper«. Am Harzer Bergtheater stieg Heydenbluth 1998 mit kleineren Rollen ein. »Aber in den letzten Jahren«, sagt er breit lachend, »spiele ich die ganzen großen Rollen«. Zum Beispiel? Den Don Juan. So sieht er aus. »Aber er hat auch Dracula gespielt, so sieht er auch aus«, frotzelt Schwarz. Alle krümmen sich vor Lachen.
Nur Tobias Sorge nicht, er hat Hexenschuss. Hexenschuss auf dem Hexentanzplatz, wenn das kein Kalauer ist. Sorge, der sein Kreuz mit einer Moorkompresse zu überrumpeln versucht, wird heute Abend trotzdem spielen. Er sei belastbar, erklärt er, keine Diva. Der 37-Jährige, der unter Heinz Klevenow zwei Jahre am Senftenberger Theater verpflichtet war, danach »freischaffend«, ist erst seit zwei Jahren »auf dem Berg«. Hier müsse man »bestimmte Dinge hinnehmen mit dem Wissen, dass es nicht anders geht.« So probe man, auch wenn es regnet, »andere würden nach Hause gehen«. Wie die meisten seiner Kollegen sucht er sich im Winter andere Engagements, um wenigstens etwas zu verdienen. Jantosch, der während des Gesprächs immer in der Tür steht, blickt gen Himmel und befiehlt: »Du da oben bist still!« In der Ferne grollt Donner.
Auch Christiane Wascher-Jan- tosch, die Ehefrau des Intendanten, möchte über Gemeinschaft reden. Frau Wascher-Jantosch hat Musik studiert und ist eigentlich Opernsängerin. Zwanzig Jahre hat sie in Nordhausen Operette gesungen. Jetzt ist sie fünfzig und Mutter von vier Kindern, aber immer noch schlank und schön. Gelegentlich gibt sie im Bergtheater gemeinsam mit dem Philharmonischen Orchester Wernigerode Musikabende, außerdem ist sie als Schauspielerin besetzt. Fast deklamiert sie: »Ich liebe diese Bühne. Es ist eine Herausforderung, mit der Natur zu spielen, mit den Elementen zu kämpfen.« Um siebzehn Uhr bezieht sich der Himmel.

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In drei Stunden soll die Vorstellung beginnen. Auf dem Programm steht »Der Glöckner von Notre Dame«, eine Wiederaufnahme. Christiane Wascher-Jantosch wird die Esmeralda spielen, Werner Schwarz den Quasimodo, Klaus Heydenbluth den Dichter und Philosophen Pierre Gringoire, Tobias Sorge den Hauptmann der Stadtwache Phoebus de Chateaupers, in den Esmeralda sich verliebt und auf den der Erzdekan Notre Dames, der Esmeralda für sich begehrt, einen Mordanschlag verübt, für den Esmeralda schließlich hingerichtet werden soll. Es beginnt zu regnen. Jantosch winkt ab. Wenn es nur regnet und kein Unwetter niedergeht, dann spielen sie! Nicht nur deshalb, weil die Zuschauer im Falle, dass die Vorstellung ausfällt oder nach nur einer halben Stunde abgebrochen wird, ihr Geld zurückverlangen könnten. »Wenn es regnet, schafft das eine ganz besondere Bindung zwischen uns und unserem Publikum«, glaubt er. »Sie frieren, wir frieren auch, sie werden nass unter ihren Schirmen, wir ohne Schirme bis auf die Haut.«
Die Schauspieler bereiten sich vor. Aber zuerst bauen sie noch die Kulisse auf. »Hier müssen alle alles machen«, sagt Quasimodo alias Schwarz. Den Pfahl für den Pranger, an dem er nachher leiden soll, wuchtet er selbst auf die Bühne. Nach dem Aufbau begeben sich die Schauspieler in die Maske und in den Fundus, die sich unter der Bühne befinden. Hier werden sie geschminkt und kleiden sich an, schlüpfen mental in ihre Rollen. Heute liegt die visuelle Verwandlung in den Händen einer Maskenbildnerin vom Nordhäuser Theater, die schon in Rente ist, und in denen von Jantoschs Bruder. Der springt für den Maskenbildner vom Opernhaus Halle ein, wenn der im eigenen Haus eine Vorstellung hat.
Draußen kraust Jantosch die Stirn: Es regnet immer noch. Nach einem schnellen Guss sieht es nicht aus, eher nach beharrlichem Landregen. Als sich um neunzehn Uhr dreißig die Pforten des Theaters öffnen, werden dort Regencapes verkauft. Ein Junge, der zu einer Jugendgruppe gehört, tritt an die Brüstung des Theaters und ruft begeistert: »Geil!« Der weite Blick ins Tal. Das Theater ist ein Star!
Zwanzig Uhr: Der Regen lässt nicht nach. 1000 von 1300 Plätzen sind leer. Die wenigen Zuschauer haben sich in ihre Capes gezappelt und zusätzlich Schirme aufgespannt. Es kann losgehen.
Esmeralda: jugendzart, Quasimodo: wirklich gut, Sorge: etwas steif im Rücken. Alle spielen professionell. Als Esmeralda der Spanische Stiefel angelegt wird, bin ich nicht betroffen, sondern muss kichern. Ich sitze in der zehnten Reihe und kann ihr Gesicht nicht erkennen. »Auf die Entfernung«, kommentiert Jantosch zurecht, »müssen die Gesten eindeutig ausfallen.« Auf den nassen Felsen ist es rutschig, zum Glück passiert nichts. Es passiert auch sonst nicht viel. Zum Schluss stirbt Esmeralda. Zuvor muss sie ziemlich lange barfuß durch den Schlamm waten. Sie holt sich den Tod schon, bevor sie dahinsinkt: in eine Pfütze, mit ausgebreiteten Armen. Standing ovations gibt es nicht, aber dankbaren Applaus. Dann gehen die Zuschauer nach Haus.

*
Der nächste Tag ist ein Samstag; drei Vorstellungen sind zu bewältigen. Der Himmel hat sich beruhigt, die Sonne scheint leider immer noch nicht. Um zehn Uhr, zum ersten Mal nach der Premiere, wird »Das Dschungelbuch II« aufgeführt. Die Hauptrolle spielt Jantoschs Sohn. Nicolas, ein hübscher Kerl, wird demnächst sein Abi machen: Er will Regie und Schauspiel studieren, und ja, über Hollywood lässt sich reden. Zur Premiere hatten sich 500 Zuschauer eingefunden, heute werden es hoffentlich mehr. »Premieren«, erklärt Vater Jantosch, »spielen hier nicht so die Rolle wie in einem Stadttheater«. Wieso eigentlich nicht?
Als die Vorstellung beginnt, haben genau 107 Gäste ihre Plätze eingenommen. Obwohl keine Träne in ihnen schwimmt, weinen Jantoschs braune Augen. Der Verlust ist nicht wettzumachen. Irgendetwas stimmt hier nicht. Zur Eröffnung der diesjährigen Störtebeker-Festspiele in Ralswiek strömten 8000 Menschen: 120 Darsteller wirkten mit, es gab Stunts, sinkende Koggen und ein Feuerwerk. Natürlich kann man das nicht vergleichen - der jährliche Störtebeker-Etat ist ungleich größer als der Thales. Und auf Rügen dürften sich zur Saison weitaus mehr Touristen als im Harz aufhalten. Doch auf Touristen setzt Jantosch vor allem. »Einheimische kommen in der Regel nur, wenn sie bekommen und dem eine Attraktion zeigen wollen.« Wieso eigentlich?
Richtig, ein Naturtheater muss sein Repertoire an der Natur ausrichten. »Glöckner« und »Dschungelbuch« passen da schon ganz gut. Auch Shakespeares »Romeo und Julia«, das Hubert Eckart zur Zeit mit Nicolas als Romeo inzeniert. Sechs bis sieben Inszenierungen jährlich bringt Jantosch mit seinem Ensemble auf die Bühne, weitere 13 Produktionen, u.a. in Kooperation mit dem Nordharzer-Städtebundtheater, kommen hier zur Aufführung. Außerdem spielt das Ensemble vom »Berg« auch in den Rübeländer Höhlen - »Faust I«, »Das kalte Herz« und »Nacht der Vampire«. Jantosch versucht ihn, den Spagat, sowohl die Touristen einzuladen, als auch die Einheimischen zu beglücken. Er gelingt nicht. Obwohl Jantosch und sein Ensemble ihren künstlerischen Anspruch nicht aufgeben. Vielleicht, auch das nicht anspruchslos, sollten sie sich zum großen Spektakel bekennen? Wie auch immer: Weder für große Kunst, noch für große Shows reichen die Mittel. Wieso eigentlich nicht?
Das Bergtheater, zu DDR-Zeiten vom Theater Quedlinburg bespielt, gehört heute zur Hexentanzplaz GmbH. Der Gesellschafter: die Stadt. Geschäftsführer sind der Direktor des sich ebenfalls auf dem Berg befindenden Tierparks. und Jantosch. Dem Nordharzer-Städtebundtheater beizutreten, schien ihm keine Alternative, »wir wären nicht mehr selbstständig«. Vor Gründung der GmbH schoss die Stadt eine halbe Million D-Mark zu, später minimierten sich die Beträge, und manches Jahr lief das Theater zuschussfrei. Heute gleicht die Stadt, wenn es nötig wird, noch gelegentlich Defizite aus. Ach, sie sollte an ihrem Theater verdienen! Das Theater sollte voll sein! Touristen und Einheimische sollten sagen: Wir müssen dort hin, das müssen wir sehen! Doch wo es an allen Ecken fehlt, können der motivierteste Intendant und das motivierteste Ensemble nichts richten. Das Land beteiligt sich nicht am Jahresetat. Jantosch hatte darum gebeten, das Kulturministerium abgelehnt. Wieso eigentlich?

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