Die biologische Auflösung

Was sich die Gegner der Sozialisten 1990 erträumten, scheint doch noch wahr zu werden

Als der 71-jährige Gregor Gysi am 26. August im Landtagswahlkampf in Königs Wusterhausen spricht, lauschen ihm überwiegend ältere Semester.
Als der 71-jährige Gregor Gysi am 26. August im Landtagswahlkampf in Königs Wusterhausen spricht, lauschen ihm überwiegend ältere Semester.

Im Brandenburger Landtagswahlkampf hatte die Abgeordnete Andrea Johlige (LINKE) nur zwei Dutzend Helfer in ihrem Wahlkreis. In einigen Orten gab es keinen Genossen mehr, der Plakate aufhängen oder Zettel verteilen konnte. Das musste von außen erledigt werden.

Im ausgedehnten Wahlkreis der 30-jährigen Kandidatin Claudia Sprengel im Landkreis Potsdam-Mittelmark dasselbe Problem. In den Ortschaften zwischen Bad Belzig nahe der Grenze zu Sachsen-Anhalt und Michendorf vor den Toren Berlins wohnen oft nur noch sehr alte und im schlimmsten Fall gar keine Genossen mehr. Wer soll dort Straßenwahlkampf machen oder auch nur die Nachbarn überzeugen? Das Problem besteht inzwischen fast flächendeckend. Es gibt nur ein paar Inseln mit einer nennenswerten Zahl junger Genossen: Potsdam, Cottbus, Neuruppin und Bernau beispielsweise.

Schatzmeister Ronny Kretschmer teilt auf Anfrage mit, dass die brandenburgische LINKE mit Stand vom 31. Dezember vergangenen Jahres 5802 Mitglieder zählte. Nur zehn Prozent dieser Mitglieder waren 35 Jahre und jünger, aber 48 Prozent schon älter als 70 Jahre. 14 Prozent aller Genossen sind 81 bis 85 Jahre alt und 17 Prozent noch älter.

2017, als der Landesverband zu Beginn des Jahres 6212 Mitglieder zählte und am Ende 6061 Mitglieder, sind 235 Genossen eingetreten, 177 ausgetreten und 226 gestorben. Bereits vor der Bundestagswahl 2013 war absehbar, wohin die brandenburgische LINKE driftet. Seinerzeit waren immerhin noch rund 7500 Brandenburger in der Partei organisiert. Doch der damalige Landeswahlkampfchef Matthias Loehr konnte nur mit 1200 Aktiven planen. Das Alter forderte seinen Tribut.

»Wie nicht anders zu erwarten, geht der Anteil der aktiven Parteimitglieder überall zurück«, konstatierte die LINKE bereits im August 2012. In Vorbereitung auf die damals kommende Bundestagswahl hatte Wahlkampfchef Loehr alle zehn märkischen Bundestagswahlkreise aufgesucht und dort mit Kreisvorsitzenden, Kreisgeschäftsführern und anderen Verantwortlichen gesprochen. Insgesamt etwa 90 Genossen nahmen an den Treffen teil. Die ernüchternden Ergebnisse fasste Loehr in einem Kurzprotokoll zusammen. »Der Altersdurchschnitt ist unverändert hoch«, hieß es in dem internen Papier, das für den Landesvorstand gedacht war. »Der Anteil der hochbetagten Mitglieder, die mitunter in Pflegeheimen wohnen, steigt kontinuierlich.« Eine flächendeckende Plakatierung »aus eigener Kraft« werde im Bundestagswahlkampf 2013 in Brandenburg nicht mehr möglich sein. Auch das Verteilen einer Wahlzeitung könne durch die Partei nicht überall gesichert werden.

So meldete das Kurzprotokoll aus dem Wahlkreis 57, zu dem die Uckermark und ein Teil des Barnim gehören, dass auf bloß 150 Aktive zurückgegriffen werden könne. »Um die geringer werdenden Kräfte sinnvoll einzusetzen, gibt es den Wunsch, die Plakate professionell anbringen zu lassen.« Eine flächendeckende Plakatierung sei nicht mehr möglich. Heute wäre die LINKE froh, wenn sie so »wenige« Aktive hätte, denn inzwischen sind es viel weniger.

Doch ohne die vielen Rentner wäre die LINKE auch noch finanziell aufgeschmissen. Denn sie zahlen einen großen Batzen Mitgliedsbeitrag und Spenden, während von den unter 30-Jährigen fast nichts kommt. Auch die jüngeren Senioren können bei der finanziellen Opferbereitschaft der Hochbetagten nicht mithalten. Viele von ihnen erlebten nach der Wende Jahre der Arbeitslosigkeit und des Schuftens zu Niedriglöhnen. Ihre Renten fallen entsprechend schmal aus. Da bleibt zum Spenden wenig bis nichts übrig. Die Rüstigen unter den Rentner leisten auch wichtige Arbeit in der Kommunalpolitik und bei Wahlkämpfen. Die Jüngeren, die berufstätig sind, haben dazu gar nicht die Zeit. Ein Beispiel: Elke Bär, eine der Kandidatinnen der Linkspartei für die Landtagswahl, ist Sportlehrerin und nutzte am Donnerstag vor dem Wahlsonntag eine große Pause, um im Sportdress auf dem Markt von Zehdenick schnell am Infostand von Gesundheitsstaatssekretär Andreas Büttner (LINKE) vorbeizuschauen, der ebenfalls bei der Landtagswahl antrat. Die Sommerferien waren vorüber, Elke Bär musste unterrichten. Sie hätte für den Wahlkampf zwar einen Sonderurlaub beantragen können, meinte aber, angesichts des Lehrermangels die Schüler im Stich zu lassen, käme bei den Eltern nicht gut an und könnte Stimmen kosten. Die Überlegung ist nachvollziehbar.

Auch andere Kandidaten wie Mirko Böhnisch, ein Schichtarbeiter im Walzwerk Eisenhüttenstadt, oder Isabelle Czok-Alm, Erzieherin in Bernau, konnten sich nicht wochenlang frei nehmen. So viele Berufspolitiker und Wahlkreismitarbeiter gibt es nicht mehr, nachdem die brandenburgische LINKE schon seit den Landtagswahlen 2014 und seit den Bundestagswahlen 2017 weniger Abgeordnete in den genannten Parlamenten sitzen hat. Das wird nicht besser. Denn mit dem Debakel am Sonntag sind es noch einmal sieben Landtagsabgeordnete weniger.

Was die Gegner der Partei bereits Anfang der 1990er Jahre und damals noch vergeblich hofften, scheint nun einzutreten. Wir erinnern uns: Nur 2,4 Prozent erhielt die PDS bei der Bundestagswahl 1990. Dass die SED-Nachfolgepartei - ohne diesen Beinahmen wurde sie nie erwähnt - überhaupt noch Stimmen erhielt, wurmte Männer wie Kanzler Helmut Kohl (CDU). Zu erklären versuchten sie das mit der alten SED-Nomenklatura. Das war ihre Wortwahl. Zynisch gaben sie sich der Hoffnung hin, das Problem PDS werde sich bald »biologisch« erledigen, indem die Mitglieder und Wähler der Sozialisten schlicht und einfach wegsterben. 1994 bekam die PDS 4,4 Prozent und gewann in Ostberlin Wahlkreise. Auch bei der Landtagswahl in Brandenburg verbesserte sich die Partei in jenem Jahr, und zwar von 13,4 auf 18,7 Prozent. 1999 waren es dann 23,3 Prozent und 2004 knapp 28 Prozent.

Das konnten nicht nur alte SED-Parteisekretäre sein. Die Schwierigkeiten in den Landschaften, die nicht wie von Kohl versprochen blühten, ließen sich nicht mehr übersehen. Es wurde zwar noch versucht, die dramatischen sozialen Probleme, allen voran die Massenarbeitslosigkeit, mit angeblichen Spätfolgen sozialistischer Planwirtschaft zu rechtfertigen. Diese Propaganda wirkte aber immer hilfloser. Es war auch ein gewichtiger Grund geworden, die PDS anzukreuzen, um am Wahlabend im Fernsehen zu sehen, wie Politiker anderer Parteien beleidigte Leberwurst spielten und sich über die ach so undankbaren Ostdeutschen beklagten.

Der Grund ist in Brandenburg weggefallen. Hier hat die LINKE seit zehn Jahren seriös mitregiert und hat sich damit einen guten Ruf erarbeitet, der ihr zum Nachteil ausschlägt. Wenn sogar der CDU-Landesvorsitzende Ingo Senftleben ernsthaft in Erwägung zog, eine Koalition mit der Linkspartei zu bilden, dann taugt die Partei nicht als Gespenst des Kommunismus, der in Brandenburg umgeht - nicht einmal, wenn LINKE-Spitzenkandidat Sebastian Walter öffentlich von der Überwindung des Kapitalismus spricht.

Neben dem demografischen Faktor gibt es natürlich noch eine ganze Reihe anderer Gründe für das schlechte Abschneiden der Linkspartei bei der Landtagswahl. Ganz gewiss nicht hilfreich waren die Streitereien auf Bundesebene, die zwar wenigstens einige Zeit unter der Decke gehalten wurden, aber sofort nach der Wahl wieder anfingen.

Dass es auch anders gehen kann, zeigte der Kreisverband Potsdam-Mittelmark. Hier dominieren Anhänger Sahra Wagenknechts und ihrer Sammlungsbewegung »Aufstehen«. Sie hatten dennoch Claudia Sprengel nominiert, obwohl sie Wahlkreismitarbeiterin der Bundestagsabgeordneten Anke Domscheit-Berg ist und zum anderen Flügel der Partei gezählt werden muss. Sprengel hatte sich aber mit dem Hinweis auf gemeinsame Ziele und Vorstellungen aller Genossen beworben und für diesen Aufruf zur Einigkeit großen Zuspruch erhalten. Die Kräfte sind zu gering, um sich noch aufzusplittern.

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