Frau, behindert - und ganz stark

Feministinnen setzen sich europaweit gegen die doppelte Diskriminierung zur Wehr

  • Jutta Blume
  • Lesedauer: 6 Min.
Sie sind mit zahlreichen Barrieren konfrontiert und häufig von Armut betroffen. Dennoch treten behinderte Frauen in ganz Europa immer selbstbewusster für sich und ihre Rechte ein.
»In der Ukraine ist alles total unzugänglich«, sagt Olena Schingarjowa, Vizepräsidentin der Behindertenorganisation Creavita. Doch die 34-jährige Anwältin und Psychologin ist zuversichtlich, dass sich die Situation behinderter Menschen in der Ukraine im Zuge einer engeren Bindung an die EU verbessern wird. Das Land sei auf die Einhaltung europäischer Standards bedacht, da es einen EU-Beitritt anstrebt. »Es ist eine Frage der Zeit und des Geldes«, so Schingarjowa . Sie selbst hatte das Glück, von ihrer Familie und von Freunden unterstützt zu werden, nachdem sie nach einem Zugunfall in ihrem 14. Lebensjahr auf den Rollstuhl angewiesen war. Das größte Problem während ihres Studiums waren architektonische Barrieren. Von Kommilitonen und Lehrkräften diskriminiert fühlte sie sich nie. Olena Schingarjowa führt heute ein aktives Leben, sie fährt Auto, sie ist berufstätig und treibt Sport.

Behinderte weltweit oft Gewalt ausgesetzt
Doch manch andere Frau ist aufgrund der Barrieren nach wie vor ans Zuhause gebunden. »Es gibt keine zugänglichen Transportmittel und keine persönliche Assistenz. Daher ist es für behinderte Frauen schwierig, zur Schule zu gehen oder eine Ausbildung zu bekommen.« Wenn die Ukraine sich nun um Verbesserungen für behinderte Menschen bemüht, dann spielen die Belange behinderter Frauen dabei kaum eine besondere Rolle. Durch die Abhängigkeit von ihren Familien und Verwandten sind Frauen häufig psychischer und körperlicher Gewalt ausgesetzt, ein Problem, das behinderte Frauen weltweit betrifft, aber durch Isolation und wenig Möglichkeiten eines selbstbestimmten Lebens noch verstärkt wird. Laut Erzsébet Szöllösi vom Nationalen Verband der Behindertenorganisationen in Ungarn ist die spezifische Situation behinderter Frauen in osteuropäischen Ländern bislang kaum beachtet worden. Die Gesellschaft nahm zwar die Verpflichtung an, für Menschen mit Beeinträchtigungen zu sorgen, wenn auch auf einem recht niedrigen Standard, sie wurden aber nicht als produktive Mitglieder in das öffentliche Leben einbezogen. Nichtbehinderte Frauen waren auch in osteuropäischen Ländern zumeist gleichzeitig berufstätig und Mütter. »Behinderte Frauen konnten beide Erwartungen nicht erfüllen. Sowohl Berufstätigkeit wie auch Kinderbetreuung überstieg wegen mangelnder Barrierefreiheit und sozialer Dienste ihre Fähigkeiten«, so Szöllösi.
Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert. In Ungarn sind nur 9,5 Prozent der behinderten Menschen berufstätig, gesonderte Zahlen für Frauen gibt es nicht. In der EU sind 36 Prozent der Männer und 25 Prozent der Frauen mit Behinderung erwerbstätig.
Wie Olena Schingarjowa ist auch die Niederländerin Lydia la Rivière-Zijdel erst im Lauf ihres Lebens behindert geworden. Schon seit den 70er Jahren war sie politisch in der feministischen Bewegung aktiv. »Ich hatte 1982 einen Autounfall und seitdem bin ich auch wirklich in der Frauenbehindertenbewegung beschäftigt.« Das hat nichts daran geändert, dass la Rivière-Zijdel eine streitbare Feministin ist. Sie war jahrzehntelang in der internationalen Politik tätig, unter anderem bei der Europäischen Frauenlobby und im Frauenkomitee des EU-Behindertenforums. Heute arbeitet sie als internationale Beraterin für Gender, Diversity und Sport.
Nach der aktuellen Lage behinderter Frauen in den Niederlanden befragt, lacht die 55-Jährige und sagt, sie kenne sich mit ihrem eigenen Land eigentlich nicht so gut aus. Grundsätzlich kritisiert sie die niederländische Gesellschaft als patriarchal. »Toleranz in unserem Land ist, dass die Mehrheit - weiße Männer - über die Minderheit entscheiden.« Zwar gebe es ein Gleichstellungsgesetz in Bezug auf Religion, die Gleichstellung von Frauen oder Behinderten sei aber nicht rechtlich verankert.
La Rivière-Zijdel ist es wichtig, dass jede Frau für sich selbst spricht. Und dass es starke Vorbilder gibt. »Ich war von 2002 bis 2005 Präsidentin der Europäischen Frauenlobby, einer allgemeinen Frauenlobby. Ich brauchte nicht so viel für behinderte Frauen zu sprechen, allein der Punkt, dass ich da war, hat schon etwas verändert.« Frauen, die etwas erreicht haben, sollten daher andere Frauen und Mädchen mit Behinderung stärken. La Rivière-Zijdel plädiert aber nicht nur für ein selbstbewusstes Auftreten, sie stellt auch Forderungen an die Politik.

Es fehlt überall an Geld, um mobil zu sein
Behinderte Frauen bräuchten vor allem finanzielle Unterstützung - um mobil, berufstätig und Mutter sein zu können wie andere auch. Geld bräuchten sie, um sich zu treffen und politisch zu organisieren, wie Anfang Mai zur Gründung eines europäischen Netzwerks behinderter Frauen in Berlin. Die meisten von ihnen konnten nicht einfach in den Bus steigen und zum Treffen fahren.
Obwohl ihre Liste von Verbesserungsvorschlägen lang ist, verbreitet la Rivière-Zijdel ungebremsten Optimismus. »Das selbstbestimmte Leben ist erst seit den 80er Jahren möglich geworden. In 50 Jahren werden wir überhaupt nicht mehr wissen, dass es eine Zeit nicht möglich war.«
Auch die Hamburgerin Bärbel Mickler ist seit langen Jahren aktiv in der Interessenvertretung behinderter Frauen und Mädchen. Sie hat zwei Studiengänge, Sozialpädagogik und Supervision, absolviert und trainiert Selbstverteidigung. Um ihre Berufswünsche zu realisieren, musste die blinde Frau einige Hürden überwinden. »Als ich Sozialwesen studiert habe, gab es noch nicht die technischen Möglichkeiten, ich hatte meine ganze Literatur auf Kassette, was höchst mühsam war«, erzählt Mickler. Eine Stelle fürs Anerkennungsjahr bekamen Mitstudierende auch mit schlechteren Abschlussnoten weitaus schneller. Und der Supervisios-Studienplatz wurde ihr zunächst verweigert. »Es wurde gesagt, Sie tun sich keinen Gefallen damit, wenn Sie hier die Ausbildung machen. Die haben nicht gesagt, wir können das nicht, sondern: Das ist nichts für Sie.«
Bärbel Mickler hat gelernt, sich gegen die Bevormundung durch andere Menschen zu wehren und gibt ihre Stärke in Selbstbehauptungskursen für behinderte Frauen und Mädchen weiter. Aber sie berät auch diejenigen, die manchmal in die Rolle der Bevormundenden verfallen, die Assistentinnen und Assistenten behinderter Menschen.
Die Frauen mit Behinderung, die sich zur Netzwerkgründung in Berlin trafen, sind sich einig, dass mit der Ende 2006 verabschiedeten UN-Konvention für die Rechte behinderter Menschen ein wichtiger Schritt getan wurde. Darin werden behinderte Frauen und Mädchen erstmals als doppelt diskriminierte Personengruppe hervorgehoben. Die Vertragsstaaten verpflichten sich auch zu Fördermaßnahmen, um die Grundfreiheiten der Frauen zu gewährleisten. Der eigenständige Artikel war bis zum letzten Verhandlungstag umstritten.
Nicht alle Forderungen der Frauen wurden berücksichtigt, wie etwa die Festschreibung des Rechts auf reproduktive Selbstbestimmung. Noch immer sind Frauen und Mädchen, vor allem mit Lernbehinderung, von Zwangssterilisationen und fremdbestimmten Schwangerschaftsabbrüchen betroffen.

Sex von Behinderten - meist ein Tabu
Sexualität behinderter Menschen wird kaum thematisiert, spezielle Aufklärungsmaterialien gibt es noch lange nicht in allen Ländern. Insgesamt herrsche das Bild eines geschlechtsneutralen Wesens, so la Rivière-Zijdel. Sie plädiert dafür, behinderte Frauen in erster Linie als Frauen anzusehen. Auf Assistenz angewiesene Frauen hätten etwa das Recht, sich modisch anstatt praktisch zu kleiden und sich zu schminken. »Für behinderte Frauen ist es schwierig, attraktiv und charmant zu sein. Für eine Frau ist es aber wichtig, sich auch als Frau zu fühlen«, bekräftigt Olena Schingarjowa.
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