»Die Weber« brachten Kaisers Logen-Kündigung

Ein Wegweiser durch die junge Hauptstadt zwischen 1871 und 1918

  • Andreas Heinz
  • Lesedauer: 3 Min.
»Überall ist Kaiserzeit«, formulieren die Journalisten Michael Bienert und Elke Linda Buchholz provozierend in ihrem gerade erschienenen »Wegweiser durch Berlin«. Auf 280 Seiten setzen sich die profunden Kenner der Stadtgeschichte sachlich und gleichzeitig unterhaltsam mit der Zeit zwischen 1871 und 1918 auseinander. Die Zeit also, als Berlin nach dem deutsch-französischen Krieg Hauptstadt des neu gegründeten Kaiserreichs wird. Rund 820 000 Menschen leben 1871 an der Spree. Schon 1912 werden zwei Millionen Einwohner registriert, zwei Jahre später sind es gar 3,6 Millionen - so viel wie bislang nie mehr. Bienert und Buchholz beschreiben den rasanten Aufschwung der jungen Hauptstadt, ohne jedoch die Kaiserzeit zu glorifizieren. Auch die Widerstände der Bürger gegen die Allmacht des Monarchen werden aufgezeigt. Da schildern die Autoren zum Beispiel das Vorgehen einer eigens vom Kaiser geschaffenen Theaterpolizei, die streng über Zucht und Sitte auf den Bühnen wachte. »Sämtliche Stücke mussten vor der öffentlichen Aufführung die Zensur passieren«, schreibt das Journalisten-Duo. »Daher war es lange Jahre unmöglich, Werke moderner Dramatiker wie Ibsen oder Strindberg aufzuführen.« Um diesem Zustand abzuhelfen, gründeten junge Autoren und Theaterleute im Frühjahr 1889 den Verein »Freie Bühne«. Als nichtöffentliche Veranstaltungen entzogen sie sich so der Kontrolle durch die Theaterpolizei. Die Premiere von Ibsens »Gespenster« 1889 im später zerbombten Lessingtheater in Mitte löste einen Skandal aus. Bei der Uraufführung »Vor Sonnenaufgang« von Gerhart Hauptmann kam es zu Tumulten. Und nach Hauptmanns »Weber« hatte der Kaiser die Nase voll. Aus Protest kündigte Wilhelm II. seine Hofloge. »Handel und Wandel« ist ein anderes Kapitel überschrieben. Von der Gewerbeausstellung 1896 im Treptower Park ist hier die Rede, vom »Strom für die Welt« der 1996 aufgelösten Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft, kurz AEG. 1883 hatte Firmengründer Emil Rathenau die Patente Edisons für die Herstellung von Glühlampen in Deutschland erworben. Aus der im selben Jahr gegründeten »Deutschen Edison-Gesellschaft für angewandte Elektricität« wurde 1887 die AEG. 1912 schlossen die AEG und die Stadt Berlin einen Vertrag über den Bau einer U-Bahn vom Firmengelände an der Brunnenstraße nach Neukölln. Wegen des ersten Weltkrieges fuhren die Züge erst ab 1927 auf der Strecke der heutigen U 8. Mit einer Geschichte über »Liebknechts Sockel« endet das Buch: Am 1. Mai 1916 trat Karl Liebknecht als Redner auf einer Antikriegsdemonstration am Potsdamer Platz auf, wurde verhaftet und wegen Hochverrats angeklagt. Das Urteil: Vier Jahre und einen Monat Zuchthaus. 1951 enthüllte Friedrich Ebert junior, der Sohn des ersten Reichstagspräsidenten und damalige Berliner Oberbürgermeister, den Grundstein für ein Liebknecht-Denkmal am Potsdamer Platz. Doch das Denkmal wurde nicht fertig. Seit dem Mauerbau stand allein der Sockel da. 1995 verschwand er und kehrte 2003 aus dem Lapidarium zurück. Michael Bienert und Elke Linda Buchholz »Kaiserzeit und Moderne«, Berlin Story Buchhandlung und Verlag, 280 S., 250 Abb., 19.80 Euro

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