Drahtesel für alle Pariser

Die rot-grüne Stadtregierung an der Seine will den Verkehr umkrempeln

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: ca. 3.0 Min.

Am Sonntagmittag ist in Paris ein System städtischer Leihfahrräder in Betrieb genommen worden, das künftig den öffentlichen Nahverkehr ergänzen wird. Damit kommt die rot-grüne Stadtregierung ein Stück ihrem Ziel näher, Autos schrittweise zu verdrängen und so zur Verbesserung der Luft- und Lebensqualität beizutragen.

An 750 automatisierten Ausleihstationen im ganzen Stadtgebiet von Paris stehen seit gestern 10 648 mausgraue, etwas massiv wirkende Fahrräder. Ausleihen kann man sie mit einer Magnetkarte an Säulen, an denen die Räder dann auch wieder »anzudocken« sind. Das Jahresabo kostet 29 Euro, man kann aber auch für fünf Euro ein Wochen- oder für einen Euro ein Tagesabo abschließen. Damit ist die erste halbe Stunde Fahrradfahrt kostenlos. Die nächste halbe Stunde kostet einen Euro, die folgende zwei Euro und jede weitere vier Euro. Bezahlt wird per Abbuchung von der Kreditkarte. Durch die Staffelung des Tarifs sollen die Benutzer veranlasst werden, das Rad nur für direkte Fahrten zu benutzen. So will man eine möglichst hohe Rotation der vorhandenen Fahrräder erreichen. Bis Ende des Jahres sollen mehr als 20 000 Fahrräder an über 1400 Leihstationen bereitstehen. Dann findet man mindestens alle 300 Meter eine Station. Betrieben wird das »Vélib«-System von dem Werbeunternehmen JC Decaux, das seit 1976 mit der Stadt Paris Verträge über die Aufstellung und Unterhaltung von »Stadtmobiliar« wie Haltestellenhäuschen, Bänken, Wegweisern und Informationstafeln hat und im Gegenzug diese für Werbezwecke nutzen kann. »Vélib« - der Name setzt sich aus »vélo« (Fahrrad) und »libre service« (freie Dienstleistung) zusammen - stützt sich auf Erfahrungen, die das Unternehmen in den vergangenen zwei Jahren in Lyon gesammelt hat. So sind die Fahrräder in Paris mit 22 Kilogramm ziemlich schwer, dafür aber entsprechend solide, so dass hoffentlich weniger Reparaturen anfallen als in Lyon. Hatte man dort pro Rad und Tag mit fünf bis sechs Benutzungen gerechnet, waren es in Wirklichkeit acht bis zehn, was den Aufwand und die Kosten für Unterhaltung und Reparaturen erhöhte. Entsprechend wurde auch das Abonnement in Paris gleich deutlich höher angesetzt als in Lyon, wo man anfangs nur fünf Euro pro Jahr verlangt hatte. In Paris geht man davon aus, dass jedes Leihfahrrad pro Jahr 10 000 Kilometer zurücklegen wird; ein privates bringt es im Schnitt auf nur 250 Kilometer. Perfektioniert wurde auch die Befestigung der Räder an den Säulen der Ausleihstationen. So will man Diebstählen vorbeugen. In Lyon verschwinden pro Jahr 400 Velos spurlos. Die Stadt liegt zudem in einem Talkessel, so dass die Räder oft nur zur Fahrt ins Zentrum benutzt wurden und dort stehen bleiben. Nachts bringen Decaux-Angestellte sie mit Lieferwagen wieder in die höher gelegenen Viertel. In Paris, das fast überall relativ flach ist, hat man auf dem Montmartre-Hügel erst gar keine Ausleihstation vorgesehen. Engpässe dürfte es dagegen an den Bahnhöfen geben. Dort kann man gar nicht so viele Leihfahrräder stationieren, wie sich die Berufspendler aus den Vorstädten wünschen würden. Mittlerweile haben bereits 10 000 Radfreunde ein Abonnement für »Vélib« abgeschlossen. Langfristig rechnet man mit 350 000 bis 500 000. Ein Teil der auf jährlich bis zu 60 Millionen Euro geschätzten Einnahmen, die sich Decaux und die Stadt teilen, soll in den Bau von Radwegen investiert werden. Davon gibt es bisher erst 150 Kilometer in Paris. Der zuständige stellvertretende Bürgermeister Denis Baupin von den Grünen rechnet damit, dass die vielen tausend neuen Radfahrer zur Beruhigung des Straßenverkehrs beitragen werden. Wegen der relativ geringen Geschwindigkeiten gibt es keine Pflicht zum Tragen eines Helms. Kinder unter 14 Jahren dürfen die Vélib-Räder nicht benutzen und Jugendliche bis 18 nur mit schriftlicher Erlaubnis der Eltern. Kindersitze gibt es nicht, dagegen einen Korb vor dem Lenkrad für Einkäufe. Baupin ist überzeugt, dass die Pariser schnell und massiv von den Leihfahrrädern Gebrauch machen werden. Wie bereits die Ende 2006 wiedereingeführte Straßenbahn werde »Vélib« unter Beweis stellen, »dass Ökologie keine Strafe ist, sondern im Gegenteil das Nützliche mit dem Angenehmen verbindet«. Das Projekt soll bald auch Marseille und Aix-en-Provence erobern. Ausschreibungen sind in Mulhouse, Besan...

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