Der TV-Film »Verrat« - Anmerkungen zum Fall Arnold Schölzel
Gunnar Decker
Lesedauer: 5 Min.
Der derzeitige Chefredakteur der »jungen Welt« war ein Stasi-Spitzel. Erst als Philosophiestudent an der Humboldt-Universität, dann als Philosophie-Lehrender an demselben Institut bis 1989. So weit, so schlecht. Bekannt ist das seit Schölzels Enttarnung 1991, warum also nun die plötzliche Aufregung? Wegen eines Films - »Verrat« (der spät abends lief, ND-Kritik vom 12. Juli) - über einen Kreis von Philosophiestudenten der Humboldt-Universität in den 70er Jahren. Inga Wolfram hat den Film gemacht, sie gehörte mit ihrem Mann Klaus Wolfram, dem heutigen Verleger des BasisDruck-Verlages, zu diesem Kreis, in dem man nach Biermanns Ausbürgerung über alternativen Sozialismus diskutierte, eine andere DDR wollte. Sebastian Kleinschmidt war dabei, heute Chefredakteur von »Sinn und Form« - und auch Arnold Schölzel, aber der als IM André Holzer. Fast täglich schrieb er Berichte über das, was er in der Gruppe hörte. Am Ende wurden alle, auch Schölzel, verhaftet - bis auf Jan Lauterbach, auf den der Verdacht gelenkt werden sollte. Um den Informanten zu decken. Es funktionierte: Bis 1991 galt Lauterbach den anderen als der Spitzel. Wer ist Arnold Schölzel? Nach dem Abitur in Bremen zur Bundeswehr eingezogen, desertierte er und flüchtete in die DDR. Die schien nicht davon begeistert, von der Weltrevolution träumende West-Revoluzzer ins Land zu bekommen. Man machte es ihm nicht leicht. Schölzel wurde Hilfsarbeiter und wiederholte auf der Abendschule sein Abitur, weil man in der DDR sein West-Abitur nicht anerkannte. Dann wurde er eifriger Philosophiestudent und noch eifrigerer Zuträger der Staatssicherheit. Letzeres wusste ich nicht, als ich in den 80er Jahren auch bei Schölzel an der Humboldt-Universität Philosophie studierte. Er kannte sich bestens aus mit »spätbürgerlicher Philosophie« von Spencer über Comte bis zu Nietzsche. Aber dennoch, in seiner Gegenwart verflog aller Leichtsinn, passten wir unwillkürlich auf, was wir sagten. Das taten wir zu dieser Zeit sonst nicht mehr. Aber Schölzel war ein Sonderfall. Er hatte den gefährlichen Eifer eines Konvertiten, der unbedingt glauben will. Ein verhinderter Goßinquisitor. Der Einzelne schien für ihn gar nicht zu existieren. Er war zwar belesen, aber nicht originell. Als Denker eben darum kein bisschen bedeutend, weil er nie »Ich« sagte, nie Neues wagte, sondern bei allem über die herrschenden Prinzipien wachte. Das zu schreiben macht überhaupt keinen Spaß. Man kommt sich plötzlich selber wie ein Denunziant vor, der fremde Lebensspuren danach absucht, ob hier ein zu meldendes Vergehen vorliegen könnte. Nein, es geht weder um Stasi-Hysterien noch um Moralisieren oder um peinliche Entschuldigungsrituale. Es geht darum, in welchem Verhältnis Mensch und Politik stehen. Die Eingangsfrage des Films stellt Inga Wolfram: »Warum hast du uns verraten?« - Schölzels Entgegnung: »Weil Ihr 17 Millionen verraten habt.« In dem Stile geht das weiter. Schölzel spricht davon, dass seine IM-Tätigkeit eine politische war, und zur Politik gehörten nun mal auch geheimdienstliche Mittel und Methoden. Da nimmt jemand ungefragte 17 Millionen in Geiselhaft für das, was er ganz allein zu verantworten hat. Das Hintergehen und verdeckte Ausliefern an die Staatsmacht von denen, die ihm vertrauten, bekommt bei Schölzel permanent eine höhere Weihe. Mancher findet nun solcherart Kaltschnäuzigkeit sogar mutig, bewundert sein offensives: Die Verräter wart doch ihr! Aber was ist damit gemeint? Die, die sich nicht bevormunden lassen, sondern selber denken wollten, die keinen Sozialismus als Diktatur, sondern als freie Assoziation wollten, waren das Verräter? Die Verräter wart doch ihr! - das, heute ausgesprochen, heißt, sich unter Sozialismus immer noch nichts anderes als ein großes Gefängnis vorstellen zu können, worin man sich dann selber (bestenfalls?, schlimmstenfalls?) zum Türschließer hochdient. Arnold Schölzel hält sich aber gar nicht für einen billigen Ideologen, sondern meint, einer höheren, der Masse verborgenen Wahrheit zu dienen. Dafür muss dann immer Hegel herhalten, der sich in seiner »Phänomenologie des Geistes« verächtlich über die »sinnliche Gewissheit« geäußert hatte. Wer unmittelbar »Ich« sagt und die Welt mit eigenen Augen ansehen will, ist auf dieser für Hegel niedersten Stufe der Erkenntnis nicht mehr als ein Tier, das nichts weiß von den Gesetzen der Welt. Zur Wahrheit gelangt man erst im Allgemeinen - unter Zurücklassung des alltagsbeladenen Ichs. Von hier aus führen zwei Wege. Der erste: Zurücknahme des eitlen Idealismus in Marxens antihegelscher Einsicht, dass die Freiheit des Einzelnen die Vorbedingung der Freiheit aller sei, der zweite ist der totalitäre Weg in die Allgemeinheit als Abstraktion, in die Herrschaft der Ideologie. Da erscheint es dann möglich, ja wünschenswert, dass man für die Menschheit im Ganzen einzelne Menschen verfolgt, einsperrt, sogar tötet. Die stalinistische Lesart Hegels - der Terror des Allgemeinen gegen die Einzelnen als Perpetuum mobile der Macht. In dem Film sitzen die philosophischen Debattierer von einst nun da ohne alle Aggression - wie Menschen, die spüren, wie verletzlich, schwach sie sind. Seit damals wissen wir, was Angst ist, sagen sie. Diese Angst hat sie aber auch auf zivile Weise stark gemacht. Schölzel dagegen panzert sich ab gegen jede menschliche Regung, macht sich klein hinterm Schild ideologischer Klassenkämpfer-Militanz. Wenn Dialektik dazu führt, dass die Opfer am Ende als eigentliche Täter dastehen, dann haben wir es mit bloßer Scholastik zu tun. In einem Beitrag zum 75. Geburtstag von Peter Hacks (2003) schreibt Schölzel in dem Text »Jetzt ist es Nacht. Anmerkungen zu Hacks und zu Hegel« zustimmend: »Hacks nennt auch Praktisches: Erwogen wird in einem "Jetztzeit"-Gedicht, diverse Leute in einem Dahmesee zu ertränken, in einem anderen (wird) zu Spenden für eine Guillotine auf dem Berliner Leninplatz aufgerufen, um von Krause und de Maizière über Böhme, Thierse, Schnur und Stolpe bis zu Schröder, Ull- und Eppelmann rascher Abschied nehmen zu können. Ein Vorschlag lautet, "die trüben Existenzen" vom Rhein und von der Isar aus Deutschland zu entlassen. Selbst die Jetztzeit kennt Alternativen, allerdings nur einzelne, keine allgemeinen.« Da wird es dann trotz - oder wegen - allen Auserwähltheitsdünkels so richtig dreckig und niedrig. So einen Sozialismus kann nicht wollen, wer Mensch bleiben will.
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