Als die Welt durchsichtig wurde

Die eher zufällige Entdeckung der Röntgenstrahlung durch Wilhelm Röntgen hat schnell die Medizin und die Physik revolutioniert. Von Dirk Eidemüller

  • Dirk Eidemüller
  • Lesedauer: 6 Min.

Ausgerechnet von ihm hatte man keinen spektakulären Durchbruch erwartet. Der Würzburger Physikprofessor Wilhelm Conrad Röntgen war im Jahr 1895 schon 50 Jahre alt. Zwar war er unter seinen deutschen Kollegen als sehr begabter und gewissenhafter Experimentator anerkannt, international zu dieser Zeit aber noch ein eher unbeschriebenes Blatt. Und die revolutionären Entdeckungen werden eher von jüngeren Forschern gemacht.

Am 8. November 1895 werkelte er wieder einmal alleine in seinem Labor herum. Seine Aufmerksamkeit galt einer merkwürdigen neuen Erfindung: einer Kathodenstrahlröhre, die ein eigentümliches Leuchten von sich gab. Solche Vakuumröhren gab es erst einige Jahre. Was darin genau vorging, war allerdings unklar, denn Elektronen, die darin von hoher elektrischer Spannung beschleunigt werden, kannte man noch nicht. Sie wurden erst zwei Jahre später entdeckt. Forscher wie Röntgen versuchten deshalb, der Ursache für dieses Leuchten auf die Schliche zu kommen.

W. C. Röntgen

Wilhelm Conrad Röntgen wurde am 27. März 1845 in Lennep (heute ein Stadtbezirk von Remscheid) im Bergischen Land geboren. Nach dem Besuch einer Technischen Schule im niederländischen Utrecht studierte er von 1865 bis 1868 in Zürich, wo er 1869 mit einer Arbeit über die Physik von Gasen zum Dr. phil. promoviert wurde. Als Assistent des Experimentalphysikers August Kundt wechselte Röntgen 1870 an die Universität Würzburg und 1872 an die Universität Straßburg. 1888 kehrte er als Professor nach Würzburg zurück, wo ihm 1895 seine größte Entdeckung gelang. 1900 wechselte Röntgen an die Uni München, ein Jahr später wurde er mit dem Nobelpreis geehrt. 1920 emeritiert, verstarb Wilhelm Conrad Röntgen am 10. Februar 1923 im Alter von 77 Jahren an Darmkrebs in München. StS

Foto: dpa

An diesem Tag bemerkte Röntgen im abgedunkelten Zimmer etwas Ungewöhnliches: Wenn die Vakuumröhre angeschaltet war, fing ein mit Phosphor beschichtetes Papier in der Nähe ebenfalls zu leuchten an. Nun umschloss er die Röhre mit schwarzer Pappe, aber das Leuchten blieb. Irgendeine unsichtbare Strahlung musste also von der Röhre ausgehen! Fasziniert von diesem Ergebnis experimentierte er über Wochen ausgiebig mit diesen Strahlen. Metallstücke schienen sie zu blockieren, leichte Materialien wie Holz aber durchzulassen. Glas ließ die Strahlen je nach Bleigehalt besser oder schlechter passieren. Dabei waren seine Experimente so umfangreich und präzise, dass danach über Jahre nichts wesentlich Neues über Röntgenstrahlen herausgefunden wurde.

Wie er bald feststellte, reagierten auch gewöhnliche Fotoplatten auf die geheimnisvollen X-Strahlen, wie er sie nannte. Er konnte damit also Bilder anfertigen. Und gleich das erste wurde zu einer ikonischen Darstellung in der Wissenschafts- und Medizingeschichte: Er durchleuchtete die Hand seiner Frau Bertha. Für diese erste medizinische Röntgenaufnahme überhaupt musste sie eine Viertelstunde lang ihre Hand still halten. Auf der Aufnahme ist das Gewebe nur schemenhaft zu erkennen. Die Handknochen hingegen sind klar zu sehen, und vor allem der Ehering sticht klar hervor, weil Metall Röntgenstrahlung sehr viel stärker absorbiert als Haut.

Über einen seiner Vertrauten, den Wiener Physik-Ordinarius Franz Exner, drang bald schon die Kunde von den geheimnisvollen Strahlen an die Presse. Im Januar 1896 verbreitete sich dann die Nachricht wie ein Lauffeuer: Ein Professor namens Wilhelm Röntgen aus der beschaulichen Universitätsstadt Würzburg habe Strahlen entdeckt, mit denen man durch den menschlichen Körper und andere Objekte hindurchsehen könne. Zeitungen brachten die Meldung auf ihrer Titelseite, anfangs noch ohne Bilder, dafür teils mit skeptischem Unterton. »Die Presse« aus Wien etwa meldete am 5. Januar 1896 auf der Titelseite: »Eine sensationelle Entdeckung«. Zugegebenermaßen klinge die Nachricht von Strahlen, die alles durchdringen, nach einer visionären Geschichte im Stile von Jules Verne. Im Rückblick erstaunt aber doch, wie nahe die frühen Spekulationen über den medizinischen Nutzen an der Realität lagen. Die Analyse von Knochenbrüchen oder das Lokalisieren von Fremdkörpern im Körper sind noch heute eine Domäne von Röntgenuntersuchungen.

Während die Nachricht von den neuen Strahlen um die Welt ging, mehrte sich Röntgens Ruhm. Gerade einmal acht Tage nach der Veröffentlichung erhielt er eine Einladung von Kaiser Wilhelm II, ihm eine persönliche Präsentation der neuen Technik zu geben. Vermutlich hatte es kein anderer Wissenschaftler je geschafft, so schnell die Zirkel der Macht zu erreichen. Röntgen erhielt für seine Entdeckung nicht nur den ersten vergebenen Nobelpreis für Physik im Jahr 1901. Die Durchleuchtung mit Röntgenstrahlen war auch ein Aufbruch in bislang unsichtbare Welten.

Atemberaubend schnell war der Siegeszug der neuen Technologie. Nach nicht einmal einem Jahr gehörten Röntgenuntersuchungen weltweit zum Repertoire der Medizin. Die ersten Bewegtbilder im Röntgenlicht entstanden. Mit allem Möglichen versuchten findige Geschäftsleute Geld zu machen.

Während der öffentlichkeitsscheue Röntgen sich wegen des Rummels zurückgezogen und anderen Themen zugewendet hatte, war der Rest der Welt geradezu verrückt nach den neuen Strahlen. Der neuseeländische Experimentalphysiker Ernest Rutherford, der einige Jahre später ebenfalls einen Nobelpreis gewann, schilderte seine Erinnerungen an diese Zeit: »Jedes Labor auf der Welt holte damals seine alten Vakuumröhren hervor, um Röntgenstrahlen zu produzieren.« In kurzer Zeit gelangen weitere wissenschaftliche Durchbrüche, einer davon die Entdeckung des Elektrons durch Joseph Thompson.

Röntgen beobachtete diese Entwicklungen aus der Distanz. Er lehnte es auch ab, Patente auf seine Entdeckung anzumelden. Eine so wichtige Sache solle dem Wohl der ganzen Menschheit dienen und nicht den Reichtum eines Einzelnen mehren. Selbst das Preisgeld, das ihm der Nobelpreis eingebracht hatte, spendete er seiner Universität. Nun konnte Röntgen sich diesen Großmut leisten, weil er in sehr begüterte Verhältnisse hineingeboren war. Sein Vater war Tuchfabrikant. Als Röntgen im Jahr 1923 starb, war er dennoch praktisch pleite. Die Hyperinflation nach dem Ersten Weltkrieg hatte auch den weltberühmten Wissenschaftler ruiniert. Wenigstens bewahrte ihn sein Gehalt als staatlicher Angestellter vor Armut.

Seitdem hat die Röntgentechnik weitere Erfolge gefeiert. In der Medizin wird Röntgenstrahlung neben der Durchleuchtung auch in der Strahlentherapie eingesetzt. Schon 1896, nur wenige Tage nachdem Röntgen seine Strahlen erstmals in der Öffentlichkeit demonstriert hatte, nutzte ein Arzt in Chicago Röntgenstrahlen, um den Brustkrebs einer Patientin zu behandeln. Dies zeigte einen gewissen Erfolg, so dass sich die Methode bis heute durchgesetzt und unzähligen Menschen das Leben gerettet oder ihnen zumindest wertvolle Lebensjahre geschenkt hat.

Ein besonderes Gebiet der Astrophysik ist heute die Röntgenastronomie. Spezielle Satellitenteleskope fangen Röntgenstrahlung von einer Vielzahl unterschiedlicher Objekte aus den Tiefen des Alls ein. Man benötigt Satelliten, weil die Erdatmosphäre Röntgenstrahlung absorbiert. Schon der Röntgensatellit ROSAT - bis heute der schwerste deutsche Satellit - konnte in den 1990er Jahren über 120 000 Röntgenobjekte am Himmel ausfindig machen: Schwarze Löcher, Neutronensterne, Supernova-Überreste, sehr junge Sterne, die Korona unserer Sonne.

Aber auch in der modernen Materialforschung und in der Grundlagenforschung ist die Röntgenstrahlung nicht mehr wegzudenken. Von besonderer Bedeutung für Werkstoffentwicklung sowie moderne Biologie, Pharmazie und Medizin ist laserartige Röntgenstrahlung, wie sie an einigen Großforschungsanlagen erzeugt wird. Deutschland betreibt gemeinsam mit internationalen Partnern in Hamburg den Röntgen-Freie-Elektronen-Laser XFEL (X-Ray Free-Electron Laser), bei dem zunächst Elektronen auf hohe Energien beschleunigt werden. In einem zweiten Schritt bringt man die Elektronen mithilfe starker Magnetfelder dazu, ihre hohe Energie als gebündelte Röntgenstrahlung auszusenden. Dies liefert extrem scharf fokussierte, hochenergetische und monochromatische Röntgenstrahlung, mit der sich unterschiedlichste Stoffe durchleuchten und auf extrem kurzen Zeitskalen vermessen lassen.

Damit können Wissenschaftler biologische und chemische Reaktionen »filmen« - also die zum Teil nicht einmal milliardstel Sekunden dauernden Prozesse von Atomen und Molekülen aufnehmen. Das ermöglicht ein grundlegendes Verständnis chemischer und zellulärer Prozesse, von dem frühere Forschergenerationen nur träumen konnten.

Ganz ähnlich, aber mit nicht so hohen Energien arbeiten sogenannte Synchrotrons. Das sind Speicherringe, in denen Elektronen mit beinahe Lichtgeschwindigkeit kreisen. Sie werden an einigen Stellen des Rings ebenfalls mit Hilfe starker Magnetfelder zur Aussendung von Röntgenstrahlung gebracht. Damit lassen sich archäologische Artefakte durchleuchten oder auch bei Bildern alter Meister nach Varianten unter dem sichtbaren Bild suchen.

Den wichtigsten Nutzen bringen aber auch diese Anlagen der Medizin: Mit solcher Röntgenstrahlung lassen sich die Strukturen von Proteinen aufklären - ein enorm wichtiger Zweig der heutigen Wirkstoffforschung. Einem Forschungsteam mit Beteiligung der Universität Lübeck ist es nun gelungen, die zentrale biochemisch aktive Stelle des neuen Coronavirus am Berliner Synchrotron BESSY II in ihrer dreidimensionalen Struktur aufzuschlüsseln. Das ist eine große Hilfe für den Kampf gegen dieses Virus und eine Anwendung von Röntgenstrahlung, die Röntgen selbst wohl zutiefst befürwortet hätte.

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