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It’s a Man’s Man’s Man’s World

Das Maß ist der Mann: Ein neues Buch weist nach, wie Frauen strukturell benachteiligt und unsichtbar gemacht werden

  • Mira Landwehr
  • Lesedauer: 3 Min.

Ich bin die Abweichung. Wäre ich im achten Monat schwanger, passte der Sicherheitsgurt im Auto nicht richtig um den Babybauch. Erlitte ich einen Herzinfarkt, hätte ich mit einiger Wahrscheinlichkeit atypische Symptome und würde im schlimmsten Fall ohne Behandlung nach Hause geschickt. Medikamente, die überwiegend oder ausschließlich an männlichen Mäusen und jungen, gesunden männlichen Vertretern der Spezies Homo sapiens getestet werden, wirken bei mir möglicherweise anders oder gar nicht. Während Pandemien sterben mehr Frauen als Männer, und mehr Frauen sind einem erhöhten Risiko ausgesetzt zu erkranken, da sie den Großteil der Care-Arbeit leisten.

Die britische Feministin Caroline Criado-Perez liefert mit ihrem Buch »Unsichtbare Frauen« handfeste und teils erschütternde datenbasierte Belege für die strukturelle Benachteiligung und Unsichtbarmachung von Frauen. Denn das Maß ist der Mann mit seinem männlichen Körper und seiner männlichen Lebenswelt - im Autobau, im öffentlichen Verkehr und in der Infrastruktur, in der Medizin, in der Architektur, in der Frage, ob Menstruation Luxus sei und die entsprechenden Hygieneprodukte den höheren Mehrwertsteuersatz verdienen (in Deutschland bis Januar 2020: ja), und praktisch überall sonst.

Der Mann als Norm und Repräsentant des Menschen an sich ist so tief verinnerlicht, dass selbst gut gemeinte Projekte scheitern, weil zum Beispiel keiner der üblicherweise männlichen Stadtplaner auf die Idee kommt, die betroffenen Frauen nach ihren Wünschen und Bedürfnissen zu befragen. So hat etwa Inés Sanchez de Madariaga, Professorin für Stadtplanung an der Technischen Universität Madrid, herausgefunden, dass unbezahlte Care-Arbeit der Hauptgrund für die Fortbewegung von Frauen ist, während Männer sich hauptsächlich bewegen, um zu ihrer bezahlten Arbeit zu kommen (und wieder zurück). Dabei unterschieden die Fortbewegungsmittel sich deutlich: Frauen sind überwiegend zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs und nehmen den öffentlichen Personennahverkehr in Anspruch, Männer hingegen nutzen vergleichsweise häufiger das Auto.

Frauen erledigen global betrachtet dreimal so viel unbezahlte Care-Arbeit wie Männer, genauer: doppelt so viel unbezahlte Kinderbetreuung und viermal so viel unbezahlte Hausarbeit. Die öffentliche Infrastruktur und die Art, Wohnungen und Häuser zu konzipieren, erschweren diese gesellschaftsrelevante Arbeit zusätzlich. Den zahlreichen Negativbeispielen, die Criado-Perez hierfür aufzählt - bis hin zu Wohnungen ohne Küchen -, stehen wenige erfolgreiche Pilotprojekte gegenüber, die beweisen, dass frauengerechtes Bauen ein Mehrwert für die Gesellschaft ist. In Wien entstand Mitte der 90er Jahre unter Leitung der Stadtbaudirektorin Eva Kail die Wohnanlage Frauen-Werk-Stadt I (ihr folgten II und III), deren Planer*innen die Bedürfnisse von Frauen berücksichtigten. Criado-Perez schwärmt davon als »ein(em) Mischviertel wie aus dem Bilderbuch«.

Die Autorin betont, dass die gendergerechte Stadtplanung im Ergebnis mehr Frauen den Zugang zu Lohnarbeit eröffnet. Das ist eine zweischneidige Angelegenheit, denn das Arbeitsethos »40-Stunden-Woche für alle« sorgt eben nicht zwangsläufig für mehr Gerechtigkeit, sondern für mehr Burn-out, mehr Produkte, die konsumiert werden müssen, mehr Umweltverschmutzung. Dieses Arbeitsethos zieht sich durchs ganze Buch und wird an keiner Stelle problematisiert. Lobend streicht die Autorin die Kinderbetreuung beim US-amerikanischen Unternehmen Campbell Soup Company heraus und die Tatsache, dass Sony seinen Mitarbeiterinnen einen Putzdienst für zu Hause bezahlt. Zudem wirkt in der deutschen Übersetzung des Buches die kaum gebrochene Verwendung des generischen Maskulinums grotesk, insbesondere bei einem feministischen Thema und zumal die Autorin die Unsichtbarmachung von Frauen durch Sprache selbst ausführlich thematisiert.

»Unsichtbare Frauen« beweist, dass Frauen keine fehlerhaften Männer sind, und seziert akribisch den Mann als Norm. Das neoliberale Produktivitätsmantra nervt allerdings enorm. Schließlich sollte Muße und nicht Arbeit das Ziel des Menschen sein, wie bereits Oscar Wilde wusste.

Caroline Criado-Perez: Unsichtbare Frauen. Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert. btb, 496 S., br., 15 €.

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