- Kultur
- Literatur
Ein erstaunliches Projekt
Günter Hartung: fünf Bände, über zweitausend Seiten
Wissenschaft aus der DDR ist heute selten wohlgelitten. Nicht zuletzt die Literaturwissenschaft wird weitgehend ignoriert oder abgewertet. Umso mehr lässt vorliegendes Projekt erstaunen: fünf Bände, über 2000 Seiten, mit ausgewählten Arbeiten aus jener Zeit und solchen neueren Datums, Literaturgeschichte, Interpretationen, Autorenschicksale. Verfasst von Günter Hartung, Professor aus Halle, der dort bis bald nach der Wende einen Lehrstuhl für neuere und neueste deutsche Literatur innehatte, als Hochschullehrer und Diskutant auch im Ausland gefragt war. Das Unternehmen ist die Leistung eines kleinen Verlages, der dafür alle Achtung verdient. Zumal sich Satzspiegel und Druck, auch der wissenschaftliche Apparat, in einer Qualität darbieten, wie sie rar geworden ist, und die Bände zwischen 2001 und 2007 in zuverlässiger Folge erschienen. Nachträge sind angekündigt. In den beiden Bänden mit Werkanalysen und Vorträgen bekommt der Leser anhand von Beispielen einen guten Einblick in die deutsche Literatur seit der Aufklärung. Lessing erweist sich als einer der Hausgötter des Autors, aber auch Goethe und die Romantiker sind gut vertreten, im 20. Jahrhundert die Gebrüder Mann und der Essayist und Theoretiker Walter Benjamin, auch DDR-Literatur. Es sind gründliche Untersuchungen, vorwiegend fachwissenschaftlich orientiert, teils aber auch dem »Dichtung liebenden Leser« zugewandt. Bemerkenswert wie verständnisvoll das Verhältnis von Text und Musik bei Telemann, J. F. Reichardt, Schuhmann und anderen behandelt wird. 50-jährige Beschäftigung mit Brecht dokumentiert Band 3. Im Mittelpunkt die Lehrstücke, durch die Hartung wesentlich den künstlerischen Avantgardismus des Dichters bestimmt sieht. Leider bleiben manche der großen Stücke außen vor. Kritisch geht er mit anderen Brecht-Forschern um. Arbeiten von Schumacher, Mittenzwei, Kaufmann müssen Federn lassen. Der theoretische Antipode des Dramatikers, Georg Lukacs, wird geradezu abserviert. Da sieht man, dass die DDR-Literaturwissenschaft alles andere als monolith gewesen ist. Fast ein Einzelgänger in der DDR war Hartung mit Forschungen zur deutschfaschistischen Literatur und Ästhetik und zum Judentum in der deutschen Literatur. Die Klammer zwischen beidem ist die Herausbildung des entschieden rassistischen Antisemitismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dessen philosophische und literarische Quellen als folgenschweres Element der faschistischen Ideologie analysiert werden. Die inhaltlichen Absurditäten wie die formalen Schwächen der Naziliteratur und ihrer Vorläufer sind differenziert, aber in all ihrer Gefährlichkeit erfasst. Als Gegengewicht dazu die Untersuchungen zur Rolle des Jüdischen und der Juden in der deutschen Literatur. Historisch präzise wird das Thema seit Goethe und Heine verfolgt, bis hin zu einer aufschlussreichen Arbeit über Kafka, die dessen Verhältnis zu West- und Ostjudentum sowie zum Zionismus und zum Sozialismus darlegt. Hierher gehören unbedingt auch zwei Texte zu Walter Benjamin und eine glänzende Interpretation von »Nathan der Weise« im Folgeband. Ebenfalls dokumentiert ist eine Debatte, die sich 1981 an einer Rezension Hartungs zu Knoblochs Buch über Moses Mendelssohn entzündete. Mehrere Leser hatten ihm mangelndes Verständnis für diese politisch-aufklärerische Publikation angelastet. Doch konnte er zu Recht auf seinen wissenschaftlichen Einsatz gerade für jüdische Autoren verweisen. Nicht gleichermaßen zu entkräften war der Vorwurf einer gewissen Pedanterie. Sie ist bei Hartung die andere Seite einer enormen Belesenheit, des Insistierens auf sorgfältig recherchierte Fakten. Versteht er sich doch in erster Linie als Philologe und misst der Vor- und Folgegeschichte von Werken, der exakten Textanalyse und der Beschreibung literarischer Techniken größte Bedeutung zu. Seinen Schlussfolgerungen und Wertungen kommt die Gründlichkeit zugute, wenngleich selbst der Fachleser manchmal sehr auf die Folter gespannt wird, bis eine Analyse auf den Punkt gebracht ist. An Selbstbewusstsein übrigens mangelt es Günter Hartung nicht, Maßstab ist ihm am ehesten Walter Benjamin, gelegentlich beruft er sich auch auf Brecht oder Karl Kraus. Unverkennbar die historisch-materialistische Grundorientierung. Letzteres gilt für die älteren aber auch für die Arbeiten aus jüngster Zeit. Zwar sind sie darauf gerichtet, »die ideologischen Verkrustungen« in Ost und West zu überwinden und dem »vulgärmarxistischen Systemzwang« zu entgehen, doch bleibt die Abgrenzung gegen »geistesgeschichtliche Literaturwissenschaft« und die Orientierung an historischen und politischen Positionen, wie sie bei Brecht und Benjamin vorgegeben sind. Inhaltlich und methodisch ist also durchaus an Aspekte der DDR-Literaturwissenschaft angeknüpft. So sind die Texte auch ...
Zum Weiterlesen gibt es folgende Möglichkeiten:
Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.