Potsdamer Konferenz ohne Siegermächte

Briten und Amerikaner ignorieren Neuauflage der Tagung von 1945, russischer Diplomat sendet Grüße

Als am Sonnabend im Internet die Liveübertragung der neuen Potsdamer Konferenz startet, hat die Tagung noch nicht begonnen. Zufällig steht der Bundestagsabgeordnete Alexander Neu (Linke) im Bild und bemerkt offensichtlich nicht, dass er jetzt schon zu sehen und zu hören ist. Neu unterhält sich mit jemandem über die Erklärung seiner Parteivorsitzenden Katja Kipping, nicht erneut für das Amt zu kandidieren. »Selbstbeweihräucherung, realitätsfern«, kommentiert er kurz und knapp. Die dreiseitige Erklärung Kippings enthält eine Bilanz, in der es heißt, die Linke habe sich zu einer modernen sozialistischen Partei mit inhaltlichem Führungsanspruch entwickelt, die aus der politischen Landschaft nicht mehr wegzudenken sei.

Doch bei der neuen Potsdamer Konferenz geht es nicht um die Streitereien in der Linkspartei, sondern 75 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus und nach dem historischen Treffen der »Großen Drei« der Antihitlerkoalition in Potsdam um viel Größeres und Wichtigeres - den wieder bedrohten Weltfrieden.

Allerdings sind die Nachfolger von Winston Churchill (später Clement Attlee), Harry S. Truman und Josef Stalin ferngeblieben. Die britische Botschaft habe freundlich abgesagt, die US-Botschaft auf eine Einladung nicht reagiert, bedauert Jens-Uwe Schmollack. Er und andere aus der Potsdamer Ortsgruppe der Sammlungsbewegung »Aufstehen« haben die Konferenz organisiert. Der russische Botschafter Sergej Netschajew schickte wenigstens ein Grußwort, das verlesen wird. Die in Potsdam 1945 vereinbarte Friedenslösung habe sich als »weitsichtig« erwiesen, meint Netschajew. Jeder »gezielten Geschichtsfälschung«, die die Rolle des sowjetischen Volkes bei der Befreiung vom Faschismus verschleiert, müsse entschieden entgegengetreten werden.

Die deutschen Befürworter einer Verständigung mit Russland bleiben unter sich. Mit einer Ausnahme. Der polnische Historiker Zbigniew Wiktor reiste an und erzählt in nur einem Satz ein eindrückliches Beispiel der offiziellen Propaganda in seiner Heimat. Es passt zur Warnung von Botschafter Netschajew. Als Beginn des Zweiten Weltkriegs gelte in Polen heute nicht mehr der 1. September 1939, der Tag des deutschen Überfalls, sondern der 17. September, der Tag, an dem die Rote Armee gemäß dem Hitler-Stalin-Pakt in Ostpolen einrückte. Zbigniew Wiktor ist wie seine Zuhörer ein Linker. Die versammelten Deutschen redet er als »Genossen« an.

Immerhin beteiligen sich Ost- und West- deutsche an der Konferenz. Nach historischem Vorbild etwas untereinander aushandeln können sie allerdings nicht. Denn sie sind sich bereits weitgehend einig, dass die Entspannungspolitik leider vorbei sei und vieles erneut so sei wie im Kalten Krieg.

In einer Zeit, »in der die Gräben wieder tiefer werden«, sei es wichtig, sich zu erinnern, formuliert Matthias Platzeck, der Vorsitzende des Deutsch-Russischen Forums, der andere Termine hatte und ein Grußwort übermittelte. Der ehemalige Ministerpräsident Brandenburgs erklärt, die deutsche Frage sei 1945 offen gelassen und erst 1990 gelöst worden. Bis heute ungelöst sei dagegen die europäische Frage, es fehle eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur.

Erschienen ist Peter Brandt, Geschichtsprofessor und Sohn des einstigen Bundeskanzlers Willy Brandt (SPD). Peter Brandt ordnet die Potsdamer Konferenz zur Einführung historisch ein. Einleitend bemerkt er, dies hier sei ja keine Fachtagung für Historiker. Es gehe den Teilnehmern um ein politisches Signal der Verständigung. »Dieses Anliegen teile ich voll und ganz.«

Als Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt hat Albrecht Müller die Entspannungspolitik von Willy Brandt mit betrieben. Er erinnert sich bei der Tagung in Potsdam, wie es ihm und seinen Kollegen einstmals ausdrücklich untersagt gewesen ist, irgendetwas zu unternehmen, was das langsam im Osten aufgebaute Vertrauen hätte zerstören können. Das habe sogar 1968 gegolten, als Müller noch Redenschreiber von Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) gewesen ist. Damals kam die Nachricht von der Zerschlagung des Prager Frühlings durch sowjetische Panzer, und Müller erhielt die Anweisung, die Entspannungspolitik unbeirrt fortzusetzen. Dagegen heute: Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) verwende wieder das Vokabular des Kalten Kriegs, kritisiert Müller. »Sie spricht wieder von Abschreckung, sie spricht wieder von Politik der Stärke.« Und in den Medien werde täglich Stimmung gemacht gegen Russland und dessen Präsidenten Wladimir Putin. Die Nachdenkseiten, deren Herausgeber Albrecht Müller ist, schwimmen gegen diesen Strom. Die Bundesrepublik sei ein »Wurmfortsatz der USA«, schimpft er. Bei der jetzigen Linie der Politik sei »der nächste Krieg unvermeidlich«, befürchtet er. »Ich wüsste nicht, auf welche Partei im Bundestag wir friedliebenden Menschen uns heute stützen sollten.« Der Linksfraktion gesteht er zu, dass es bei ihr noch nicht entschieden sei, wie sie über die Nato denkt.

Ein vernichtendes Urteil über die deutsche Außenpolitik nach 1990 spricht der Bundestagsabgeordnete Neu. »Man hatte bei den deutschen Eliten wieder Blut geleckt, Verantwortung zu übernehmen, was ein verhüllender Begriff für Machtpolitik ist.« Der erste Supergau sei die Anerkennung jugoslawischer Teilrepubliken als unabhängige Staaten gewesen. In den 90er Jahren sei Russland labil, China noch nicht stark gewesen. Seit zehn Jahren sei es aus mit der unipolaren Welt. Angesichts neuer Kraftfelder wie China könnten neue Abrüstungsabkommen geschlossen werden. Leider sei das Gegenteil der Fall - Abkommen würden nicht verlängert sondern sogar gekündigt. Der Abgeordnete kritisiert, dass Deutschland in den nächsten Jahren 137 Milliarden Euro in Rüstungsprojekte stecken wolle. Auf 130 Milliarden beliefen sich die Schulden sämtlicher Kommunen. Diese Schulden könnten abbezahlt werden, und es wären noch sieben Milliarden Euro für neue Schwimmbäder übrig. Das Vokabular der Menschenrechte werde immer bemüht, wenn sich der Westen einmischen wolle so wie aktuell in Belarussland, sagt Neu. Er fügt hinzu, dass er aber kein Verständnis für das Vorgehen des belarussischen Staatschefs Lukaschenko habe.

Im Publikum meldet sich Lutz Kleinwächter von der Zeitschrift »Welttrends« und widerspricht Müller und Neu in einigen Punkten. So glaubt Kleinwächter nicht, dass die unmittelbare Gefahr eines Weltkriegs besteht. Dass die gesamte deutsche Elite proamerikanisch eingestellt sei, kann er nicht erkennen. Wenn sich etwa Kanzlerin Angela Merkel (CDU) für den Weiterbau der Erdgasleitung Nordstream 2 ausspreche, so vertrete sie deutsche Interessen und keine amerikanischen. Und Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) sei schließlich ein Freund Putins.

Die Schriftstellerin Daniela Dahn verweist darauf, dass laut Umfragen 80 Prozent der Bundesbürger ein entspanntes Verhältnis zu Russland wünschen. »Es gibt einen klaren Regierungsauftrag von der Bevölkerung, aber es wird eine ganz andere Politik gemacht«, sagt sie. In Ostdeutschland sei die Sehnsucht nach Freundschaft noch ausgeprägter. Das habe mit den sowjetischen Antikriegsfilmen zu tun und mit persönlichen Begegnungen beim Bau der Erdöl- und der Erdgastrasse, der unter dem Stichwort »Druschba« (Freundschaft) erfolgte. Dahn spricht von der »Erfahrung mit diesen überaus herzlichen und gastfreundlichen Menschen«, die Ostdeutsche so freundlich aufgenommen haben, obwohl fast jede Familie im Zweiten Weltkrieg Angehörige verlor.

Auch der Journalist und Friedensaktivist Reiner Braun hält die Begegnung von Mensch zu Mensch für wichtig. »Zur ökonomischen Krise gehört immer die Konstruktion eines Feindbildes«, warnt er. Wer über die Besetzung der Krim durch Russland diskutiere, müsse zuerst überlegen: »Wer ist seit 1990 gen Russland marschiert?« Braun spielt damit an auf die Osterweiterung der Nato an. Die sei schon geplant gewesen, als die Tinte unter den Zwei-plus-Vier-Verträgen zur deutschen Einheit noch nicht trocken war. Die Russland-Sanktionen gehören abgeschafft, findet er. »Die treffen doch nicht die Oligarchen. Die fliegen weiter nach London und lassen es sich gut sein.« Es treffe die einfache Bevölkerung. Nur ein Gutes hätten die Handelsbeschränkungen, dass sich Russland wieder auf seine heimische Landwirtschaft besinne. »Die Zeiten, da der billigste deutsche Wein, den hier keiner saufen wollte, in den Supermarktregalen in Moskau stand, die sind glücklicherweise vorbei.«

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