125 Zimmer zu wenig

Kriseneinrichtungen in Brandenburg müssen mehr Frauen abweisen als sie aufnehmen können

  • Lola Zeller
  • Lesedauer: 4 Min.

Fast ein Viertel mehr Fälle häuslicher Gewalt meldete die brandenburgische Polizeistatistik für die Zeit zwischen April und Juli dieses Jahres. 1840 Anzeigen registrierte die Behörde. »Das ist schon eine signifikante Zahl«, sagt Claudia Sprengel, Sprecherin des Frauenpolitischen Rats Brandenburg und Kreisvorsitzende der Linkspartei in Brandenburg an der Havel am Mittwoch.

»Häusliche Gewalt und Gewalt gegen Frauen ist ein Problem, gegen das Sie alle etwas tun können.« Damit wendet sich Sprengel an die Mitglieder des Sozial- und Gesundheitsausschusses des brandenburgischen Landtags. Das zentrale Thema der Sitzung ist die Finanzierung von Frauenhäusern. Diese seien wichtiger Bestandteil des Schutzes gewaltbetroffener Frauen. Vor allem aber seien sie außerordentlich schlecht finanziell ausgestattet, »Flickenteppich« nennt Sprengel die unterschiedlichen Finanzierungsformen.

Catrin Seeger, Vorstandsfrau beim Verein Netzwerk brandenburgischer Frauenhäuser und Leiterin des Beratungs- und Krisenzentrums für Frauen in Rathenow, erklärt diesen Flickenteppich: »Das Land weist den Landkreisen und kreisfreien Städten einen Festbetrag zu mit der Maßgabe, ein entsprechendes Hilfsangebot vorzuhalten«, sagt sie. Der Landkreis wiederum müsse sich dann um eine mindestens 40-prozentige Kofinanzierung bemühen, der Rest liege bei den Trägern. »Das alles im Rahmen einer freiwilligen Finanzierung«, sagt die Vorstandsfrau. So gebe es keinerlei Planungssicherheit.

Das aber laufe konträr zur 2018 in Kraft getretenen Istanbul-Konvention des Europarates zur »Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt«. Diese sehe mehr Zimmer in Frauenhäusern und mehr Frauenberatungsstellen vor, als Brandenburg sie derzeit habe.

»Wir haben 286 Plätze in 127 Zimmern«, sagt Seeger. »Je eine betroffene Frau mit ihren Kindern bewohnt ein Zimmer.« Das seien 125 Zimmer zu wenig - die Istanbul-Konvention sieht ein Familienzimmer auf 100 000 Einwohner*innen vor.

Seeger berichtet von der Situation im eigenen Haus in Rathenow. Dort stünden 15 Plätze in fünf Zimmern zur Verfügung. Das Frauenhaus sei also bei fünf Frauen voll, auch wenn diese vielleicht nur jeweils ein oder zwei Kinder mit brächten. »Wir sind eine Kriseneinrichtung. Wir dürfen eigentlich gar nicht voll sein«, so die Leiterin. Laut Zufluchtsstatistik habe man über 2019 verteilt in den Brandenburger Frauenhäusern 511 Frauen und 648 Kinder aufnehmen können, 519 Frauen habe man abweisen müssen. »Entweder wir vermitteln sie in ein anderes Frauenhaus, oder sie gehen in eine ungesicherte Zukunft in irgendein Familiensystem, wo wir nicht wissen, inwieweit sie dort Unterstützung bekommen und was aus ihrer Gewaltsituation wird«, so Seeger. »Das ist für uns eine unerträgliche Situation.«

Der Mangel an räumlichen Kapazitäten sei aber nur ein Teil des Problems. Dramatisch sei die Situation vor allem in Bezug auf Personal und Entlohnung. »Wir haben auch den Beratungsbereich für Frauen, die nicht in ein Frauenhaus wollen, können oder müssen«, so die Sprecherin für das Frauenhausnetzwerk. »Die brauchen nicht unbedingt einen Frauenhausplatz, die brauchen in erster Linie einen guten Anwalt.« Dieser Beratungsbereich sei um einiges gewachsen. Seeger selbst berät dreimal in der Woche betroffene Frauen, nicht nur in Rathenow, sondern auch in Falkensee. Das passiere alles zusätzlich zur Arbeit im Frauenhaus selbst. Durch die kostenlos und ehrenamtlich durchgeführten Beratungen ließen sich keine Einnahmen generieren, um den erhöhten Arbeitsaufwand auszugleichen.

»Unter diesen Arbeitsbedingungen finden wir kein Personal«, beklagt die Familientherapeutin. Im eigenen Haus habe man über ein Jahr nach einer neuen Mitarbeiterin zur Kinderbetreuung gesucht, die Stelle konnte erst kürzlich besetzt werden. Ein weiteres Problem sei, dass zusätzlich zu den Arbeitsstunden im Haus auch ein Bereitschaftsdienst für Notfallberatung von den Mitarbeiterinnen übernommen werden müsse. »Für das magere Gehalt machen das die Leute nicht, schon gar nicht ausgebildete Sozialarbeiterinnen, die wir eigentlich brauchen.«

Besonders dringend würden solche mit Spezialisierung auf Migrationssozialarbeit gebraucht, denn selbstverständlich würden auch Geflüchtete oder andere Frauen mit Migrationsgeschichte in den Häusern aufgenommen, sagt Seeger. Bedarfsgerechte Betreuung, vor allem in Hinblick auf von Gewalt- und Fluchterfahrungen traumatisierte Frauen, könne man kaum leisten. Die dünne Infrastruktur im ländlichen Raum mache es unmöglich, Frauen an Psycholog*innen oder Psychiater*innen zu vermitteln, so Seeger. »Wir sind mit allem alleingelassen.«

Seeger fordert ein »Frauenhausfinanzierungsgesetz, dass all diese Bedarfe abdeckt und Planungssicherheit schafft«. Es müsse ein schneller, unbürokratischer und sicherer Zugang zu den Frauenhäusern und Beratungen für alle Betroffenen gewährleistet werden. »Für eine Stabilisierung unseres Hilfesystems brauchen wir eine Finanzierung, die pauschal, verlässlich und bedarfsgerecht ist«, sagt die Sozialarbeiterin.

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