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Proletaroide Lanzenträger

»Soloselbstständige« unter Corona: schnödes Ende einer Verklärung

  • Thomas Gesterkamp
  • Lesedauer: 6 Min.

Arbeitsminister Hubertus Heil ist stolz auf die Verlängerung der staatlichen Unterstützung beim Kurzarbeitergeld. Auch 2021 werden die Löhne abhängig Beschäftigter aufgestockt und Sozialbeiträge übernommen. Weniger großzügig zeigt sich Kollege Peter Altmaier (CDU) im Wirtschaftsministerium: Die immerhin rund 2,3 Millionen Soloselbstständigen, die oft im Kulturbereich arbeiten, waren in der Pandemie bisher das Stiefkind staatlicher Fürsorge - und ob sich das im neuerlichen Lockdown wirklich ändert, steht in den Sternen.

Bisher zumindest ist die Bilanz verheerend. Zwar bewilligten Bund und Länder zu Krisenbeginn »Corona-Soforthilfen« für Kleinstunternehmungen. Doch bedingungslos war diese Hilfe nicht. Ausschließlich »Betriebskosten«, die in Minibüros kaum ins Gewicht fallen, konnten bei gravierenden Umsatzeinbußen geltend gemacht werden. Nur wenige Länder, etwa Nordrhein-Westfalen oder Berlin, zahlten zudem einen »Unternehmerlohn«. Und als abschreckendes Signal stand stets die Androhung einer späteren Überprüfung der Bedürftigkeit im Raum - bis hin zum strafrechtlichen Vorwurf des Subventionsbetrugs.

Mittlerweile wurde die Soforthilfe durch eine »Überbrückungshilfe« abgelöst, verbunden mit höheren bürokratischen Auflagen: komplizierte Formulare, Beantragung nur durch einen - gebührenpflichtigen - Steuerberater, genaue Prüfung der monatlichen Einkünfte im Vergleich zum Vorjahr durch diesen, geringere Förderbeträge.

Kein Wunder, dass durch die neu eingebauten Hürden die Zahl der Anträge rapide gesunken ist: Gingen die Interessenten bei der Soforthilfe noch in die Millionen, machen sich seither nur noch ein paar Zehntausend die Mühe. Einzige Alternative ist Hartz IV, doch den entwürdigenden Gang zum Amt scheuen viele Soloselbstständige. Nicht nur weil das ihrem professionellen Selbstverständnis widerspricht, sondern auch, weil dort verlangt wird, dass sie zunächst ihr Gespartes aufbrauchen. Auf dieses finanzielle Polster aber sind sie dringend angewiesen, weil es ihre meist niedrigen oder gar nicht vorhandenen Rentenzahlungen kompensiert.

Gut abgesicherten Ministern wie Heil oder Altmaier sind solche Überlegungen völlig fremd. Doch auch die Gewerkschaften haben Selbstständige kaum auf dem Schirm. Es gibt keine starke Lobby, die klare Forderungen aufstellt. Wo bleibt der laute Protest der Gewerkschaft Verdi gegen schikanöse Kontrollen? Warum organisiert sie für ihre Mitglieder keine Sammelklage gegen die (rechtlich durchaus umstrittene) Pflicht zur Rückzahlung der Soforthilfe? Warum berichten Gewerkschaftsblätter so selten über den wirtschaftlichen Überlebenskampf von freiberuflichen Messebauern, Musikern oder Veranstalterinnen?

Die Antwort auf solche Fragen ist simpel: Die Arbeitnehmerorganisationen betrachten sich, wie der Name schon sagt, als Anwältinnen der Festangestellten. Kleinselbstständige gehören nach dieser Denkweise eigentlich zum Unternehmerlager. Zwar hat etwa die Verdi-Bundesverwaltung schon vor Jahren ein kleines Referat speziell für Selbstständige eingerichtet, weil die Gewerkschaft auch freie Künste und Medienberufe organisiert. Doch der interne Einfluss dieser engagierten Abteilung ist so begrenzt wie ihre öffentliche Wirksamkeit.

Schonungslos macht die Coronakrise deutlich, wie wichtig die soziale Absicherung von Erwerbsarbeit ist. Sie legt auch die Illusionen offen, die sich viele Soloselbstständige über Jahre gemacht haben. Begonnen hat diese Ideologieproduktion in der Ära der Agenda 2010. Der »Existenzgründungszuschuss«, der die Erwerbslosigkeit reduzieren sollte, löste eine Welle neuer Ein-Personen-Firmen aus. Bereits damals warnten nicht wenige, dass viele dieser Miniunternehmen schnell scheitern oder auf Tagelöhnerniveau stagnieren würden.

Der Einzelne als Aktionär seiner selbst: Der unsinnige Begriff »Ich-AG«, bald sehr verdient zum Unwort des Jahres gekürt, traf damals offenbar einen Nerv. In einer Zeit, in der die Arbeitsmarktpolitik ihr Ziel der »Vollbeschäftigung« weit verfehlte, staatliche Versorgungssysteme abgebaut wurden und die gesellschaftliche Stimmung von Ratlosigkeit geprägt war, schien das Wirtschaften auf eigene Faust die rettende Lösung - zumal es in bestimmten Milieus als »cooler« Lebensstil präsentiert wurde.

Die Verklärung des Solounternehmertums hat Tradition. Mit blumigen Floskeln wie »Selbst GmbH« trommeln Wirtschaftsberater seit Langem dafür, dass an die Stelle des »unbeweglichen« Arbeitnehmers der »flexible Auftragnehmer« zu treten habe. Neoliberale Thinktanks monierten um die Jahrtausendwende eine in Deutschland angeblich fehlende »Kultur der Selbstständigkeit«. Im internationalen Maßstab gab und gibt es für solche Klagen wenig Anlass. Der Anteil der Selbstständigen an allen Erwerbstätigen beträgt hierzulande rund zehn Prozent. Verglichen mit anderen nord- und mitteleuropäischen Staaten und auch den USA ist das völlig unauffällig, nur im stärker von Landwirtschaft und Tourismus geprägten Südeuropa liegt sie deutlich höher.

Die Zunahme der »freien Mitarbeit« im Spannungsbogen von Selbsthilfe und Selbstbestimmung ist ein Indiz für grundlegende Veränderungen der Arbeitswelt. Die meisten der in diese Form der Beschäftigung Ausgewichenen wollen keine Firma an die Börse bringen, sondern den eigenen Lebensunterhalt. Sie pflegen ein ständig wechselndes »Netz von Geschäftsbeziehungen«, das der US-Soziologe Richard Sennett am Beispiel eines Hightech-Beraters einmal so charakterisiert hat: »Jeder Anruf musste beantwortet, noch die flüchtigste Bekanntschaft ausgebaut werden. Um Aufträge zu bekommen, ist er von der Tagesordnung von Personen abhängig geworden, die in keiner Weise gezwungen sind, auf ihn einzugehen.«

Aus dem Angestellten wird der Freelancer, ein »freier Lanzenträger«: So hießen im Mittelalter jene Ritter, die ihre kriegerischen Dienste diversen adeligen Herren und Höfen anboten. Wie diese Söldner wandern auch die modernen Einzelkämpfer von Aufgabe zu Aufgabe, schlagen mal hier, mal dort ihre Zelte auf. Sie engagieren sich stets nur befristet, bis ein »Projekt« zu Ende ist. Für die Pflege ihrer Rüstung, um im Bild des Ritters zu bleiben, haben die freien Lanzenträger natürlich selbst zu sorgen.

Im England des 14. Jahrhunderts verstand man unter »Job« einen Klumpen oder eine Ladung, die man herumschieben konnte. Diese ursprüngliche Bedeutung des Wortes haben Menschen ohne Ausbildung schon immer erfahren. Handwerker wanderten einst durch die Lande, verdingten sich immer wieder neu und für kurze Zeit. Auch die angelernten Arbeitskräfte in der Großindustrie mussten sich verkaufen, ohne auf verbindliche Sicherheit hoffen zu können. Heute werden auch Menschen, die anspruchsvolle Aufgaben lösen und eine hohe Qualifikation vorweisen können, in ein fragwürdiges Mikrounternehmertum abgedrängt. Auftragsarbeit beschränkt sich im akademischen Bereich nicht mehr auf Berufe mit langer freiberuflicher Tradition. Ärzte, Anwälte oder Steuerberater arbeiten seit Generationen als Selbstständige. Dank ständischer Gebührenordnungen beruht ihre Geschäftsgrundlage indes auf der gezielten Vermeidung von Wettbewerb. Andere Einzelselbstständige hingegen konkurrieren in einem weitgehend ungesicherten Raum gegeneinander, oft herrscht die Anarchie des Basars: Die Entlohnung ist nicht festgelegt, ihre Höhe muss individuell und je nach Marktlage vereinbart werden. Und manchmal, wie aktuell in der Coronakrise, sinkt die Nachfrage eben gegen Null. Ist nichts zu tun, gibt es kein Geld.

Wie könnte ein besserer Schutz aussehen für »proletaroide« Selbstständige, wie sie Theodor Geiger in seiner klassischen Studie zur »sozialen Schichtung des deutschen Volkes« schon 1931 nannte? Derzeit bieten weder Gewerkschaften noch Parteien Lösungsvorschläge. Eher melden sich Miniverbände zu Wort wie der Verein Freelens, eine Freienvertretung in der Fotobranche. Wegen der Fixierung der politischen Akteure auf die angestellte Arbeit fehlt eine öffentliche Diskussion über die Stützung von Kleinstunternehmen in der Pandemie.

Schon lange überfällig ist etwa, das Modell der Künstlersozialkasse auf andere Berufsfelder auszudehnen. Die KSK ermöglicht Freiberuflichen in Kunst und Medien seit 1983 den Zugang zum gesetzlichen Versicherungssystem bei günstigen Tarifen. Profitieren würden von einer Ausweitung etwa Lehrkräfte, denen die Existenzgrundlage wegbricht, weil derzeit die meisten Kurse in der Weiterbildung ausfallen. Ähnlich prekär ist die Lage vieler Lehrbeauftragter an Hochschulen, die ihre (ohnehin schlecht bezahlten) Werkverträge verloren haben. Eine andere Idee: Der Staat könnte befristet die Sozialbeiträge in Not geratener Freiberuflicher übernehmen. Denn bei der Unterstützung der festangestellten Kurzarbeiter ist das selbstverständlich.

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