Sehnsucht nach Wittenberge

Im Inforadio sprechen eine Weggezogene, ein Dagebliebener und zwei Zugezogene über Brandenburg

Judith Enders ist in Wittenberge in der Prignitz aufgewachsen. Heute lebt sie in Berlin, denkt aber seit Jahren immer wieder nach, in die alte Heimat zurückzukehren. Sie hat »Sehnsucht« nach Wald und Wasser und nach der Stille. Außerdem plagt sie das schlechte Gewissen, Wittenberge im Stich zu lassen. Sie ist kein Einzelfall. Von ihren einstigen Klassenkameraden wohnen nur noch drei in der Stadt.

Das Schicksal von Enders ist typisch für Brandenburg. Von den heute 30- bis 45-Jährigen gingen viele weg, »aus Neugier vielleicht«, auch gezwungenermaßen, wie Enders am Sonntag im RBB-Inforadio sagt. Die Eltern dieser Generation suchten »neue Herausforderungen«, würde man heute formulieren. Doch sie waren arbeitslos und versuchten deshalb ihr Glück im Westen, erzählt Enders. Wegen der Corona-Pandemie wurde die knapp zweistündige Radiosendung nicht vor Publikum aufgezeichnet, wie es ursprünglich geplant war. Es dreht sich in dem Radiogespräch um Menschen, die aus Brandenburg weggingen, dablieben oder zuzogen. Oliver Windeck steht für die Dagebliebenen. Er übernahm von seinem Vater die Windeck Metallbau GmbH in Rietz bei Brandenburg/Havel. Diese 1895 gegründete Schlosserei befand sich immer in privater Hand - auch in der DDR. 1990 hatte sie zehn Beschäftigte, die in Westberlin sicher eine besser bezahlte Arbeit hätten finden können, wie Oliver Windeck sagt. Doch alle seien damals geblieben. 130 Kollegen zählt die GmbH mittlerweile, es gibt auch Väter und Söhne in der Firma. Der Umgang miteinander ist familiär. »Die Frau deines Mitarbeiters könnte die Lehrerin deiner Kinder sein«, erklärt Windeck die Situation auf dem Lande.

Aber ist es nicht dasselbe, vom Lande in die Stadt zu ziehen, egal ob in Ost oder West? Nein, ist es nicht, denkt Judith Enders. Denn im Osten sei es seinerzeit die nackte Existenzangst gewesen, die Menschen zum Weggehen bewegte. Das sei eine ganz andere Erfahrung als die der westdeutschen »Generation Golf«, die in ständigem Wohlstand aufgewachsen sei. Doch Enders kann den traumatischen Erfahrungen auch etwas Positives abgewinnen. Die Ostdeutschen, die das durchmachen mussten, seien so besser in der Lage, neuerliche Krisen zu meistern. Oliver Windeck fügt hinzu, die Arbeitslosigkeit habe die Menschen »hart gemacht«.

Härter und gefährlicher sei das Leben jedoch in den USA, wo es beispielsweise keine gesetzliche Krankenversicherung gebe, meint die Schriftstellerin Nell Zink, die in Kalifornien zur Welt kam und seit 2013 im beschaulichen Bad Belzig lebt. Ihr Familienname wird englisch »Sink« ausgesprochen, aber hier in Deutschland sagt die US-Amerikanerin schon selbst Zink. Sie liest ostdeutsche Literatur, worauf sie ohne den Umzug nach Bad Belzig nicht gekommen wäre, aber ihr Freundeskreis in der Stadt besteht aus »lauter Wessis«, die auch nur zugezogen sind, wie Zink sagt. Ihre Romane spielen nach wie vor hauptsächlich in Großstädten in den USA.

Zugezogen ist auch Luckenwaldes Bürgermeisterin Elisabeth Herzog-von der Heide (SPD). Sie ließ sich gleich »mit Haut und Haaren« auf Luckenwalde ein, pendelte nicht erst noch und bezog niemals die berüchtigte »Buschzulage«, den finanziellen Bonus für Westdeutsche, die ab 1990 in Ostdeutschland das Kommando übernahmen, um hier die Reste der DDR zu zerschlagen und an ihrer Stelle im Hau-Ruck-Verfahren bundesrepublikanische Strukturen aufzubauen. Schon nach kurzer Zeit nervte es Herzog-von der Heide, von ihrer Familie im Westen gesagt zu bekommen, »wie ich mich im Osten zu fühlen habe«. 58 Jahre ist sie jetzt alt und sagt: »Ich fühle mich wohl.« Ob die Einwohner Luckenwaldes nun dageblieben, zurückgekehrt oder neu zugezogen sind, spielt für die Bürgermeisterin keine Rolle. Alle werden gleich behandelt, versichert sie. Die Bürgermeisterin weiß, was die Zugezogenen denken, denn die Neubürger werden ein Jahr nach ihrer Ankunft befragt. Ihnen gefällt demnach, das Wohnen in Luckenwalde noch bezahlbar ist. Ihnen fehlt jedoch eine Diskothek für die Jugendlichen.

Was in der Radiosendung nicht zur Sprache kommt: Rund 527 000 Brandenburger gingen in den Jahren 1992 bis 2015 in den Westen. Zunächst hatten sie angesichts der Massenarbeitslosigkeit oft keine andere Wahl. Dann wendete sich das Blatt. Weil wegen des Geburtenknicks nach der Wende die Zahl der Jugendlichen sank und mehr Menschen in Rente gingen als Schulabgänger nachrückten, waren wieder leichter Lehrstellen und Jobs in Brandenburg zu finden. Schon Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD), der bis 2013 im Amt war, appellierte an die Jugend, nicht mehr wegzugehen. Es gebe für sie wieder eine Perspektive in der Heimat. Doch das musste sich erst herumsprechen. Weiter zog es die Jugend in den Westen, nicht zuletzt wegen der höheren Löhne. Im laufenden Jahr unterstützt das Land Brandenburg Rückkehrer-Initiativen mit bis zu 230 000 Euro. Die Initiativen helfen bei der Suche nach Arbeit, Wohnung und Kitaplätzen. Eine Befragung von Rückkehrern nach Wittstock, Guben und Finsterwalde ergab, dass 90 Prozent von ihnen mit ihrer Entscheidung rundum zufrieden sind.

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